Michael Hesemann, Historiker und Autor
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Hat Papst Pius XII. zum Holocaust geschwiegen?

Von Dr. h.c. Michael Hesemann
 
Als Pius XII. (1939-1958) am 9. Oktober 1958 in Castel Gandolfo verstarb, war sich die Welt einig: Von ihr war einer der ganz Großen des 20. Jahrhunderts gegangen, der Mann, der, wie es die israelische Außenministerin Golda Meir in ihrem Nachruf ausdrückte, „als unser Volk im Jahrzehnt des Naziterrors ein fürchterliches Martyrium erlitt … (seine Stimme erhob), um die Henker zu verurteilen und um Mitgefühl für die Opfer zum Ausdruck zu bringen.“ Zahlreiche andere Vertreter des Judentums pflichteten ihr bei. „Santo Subito“, forderten nicht wenige Katholiken. Doch es dauerte gerade einmal fünf Jahre, da wendete sich das Blatt. Der kommunistische Theatermacher Erwin Piscator war gerade mit Bergen von Geld aus Moskau nach Berlin zurückgekehrt, eröffnete die Freie Volksbühne und führte das von ihm gründlich überarbeitete Stück eines völlig unbekannten jungen Dramatikers und ehemaligen Lektors namens Rolf Hochhuth auf. „Der Stellvertreter“ unterstellte dem Papst moralisches Totalversagen. Er hätte zum Holocaust geschwiegen, weil die Juden ihn nicht interessierten und er auf Hitler als „Bollwerk gegen den Kommunismus“ setzte. Erst vor einigen Jahren enthüllte der damalige rumänische Geheimdienstchef General Mihau Pacepa, dass „Der Stellvertreter“ ein Propagandamanöver des KGB war, um den Antikommunismus der vorkonziliaren Kirche ein für alle Male zu diskreditieren.

Sofort reagierte der neue Papst Paul VI., der als Substitut einer der engsten Mitarbeiter Pius XII. in der Kriegszeit gewesen war. Er eröffnete nicht nur den Seligsprechungsprozess für sein großes Vorbild (der 2009 durch die Promulgation des „heroischen Tugendgrades“ durch Benedikt XVI. zum Abschluss kam), sondern wies auch vier Historiker der Jesuitenuniversität Gregoriana an, alle relevanten Dokumente aus den Vatikanarchiven in einer 11bändigen, fast 8000 Seiten starken wissenschaftlichen Edition zu veröffentlichen. Diese wurde leider von der wissenschaftlichen Welt fast gänzlich ignoriert.

Nachdem ich selbst seit 2008 im vatikanischen Geheimarchiv forschen konnte, Einblick in die Seligsprechungsdokumente nahm und mit dutzenden von Augenzeugen sprach, glaube ich, als einer von ganz wenigen Historikern ein ziemlich vollständiges Bild der Ereignisse von 1939 bis 1945 zu haben und die Frage nach dem „Schweigen des Papstes“ beantworten zu können.

Sicher ist: Papst Pius XII. hat zur Schoah nicht geschwiegen. Er hat sie in drei öffentlichen Ansprachen, nämlich am 1. August 1941, am 24.  Dezember 1942 und am 2. Juni 1943, angesprochen. In der ersten Ansprache, die der Vatikan-Archivar Dr. Johan Ickx erst in diesem Jahr veröffentlichte, nannte der Papst „die Behandlung, die die Juden erleiden“ einen „großen Skandal“, gegen den er ausdrücklich protestierte: „In Deutschland werden die Juden ermordet und auf brutale Weise misshandelt … Wie kann ein Christ solche Taten hinnehmen.“ In seiner zweiten Ansprache zu Weihnachten 1942 bestätigte er die Erklärung der Alliierten von der Vorwoche, dass „Hunderttausende, ohne eigene Schuld, manchmal nur wegen ihrer Volkszugehörigkeit und Rasse, dem Tod geweiht … sind.“ Das bestätigte er am 2. Juni 1943, als er von „denjenigen“ sprach, „die wegen ihrer Nationalität oder wegen ihrer Rasse von größerem Unheil und schwereren Schmerzen gequält und die manchmal sogar, ohne eigenes Verschulden, zur Ausrottung bestimmt sind.“ Mit diesen drei Erklärungen äußerte sich der Papst dreimal häufiger zur „Endlösung“, als die Alliierten es taten, die es bei ihrer Erklärung vom 17. Dezember 1942 beließen, auch nachdem ihre Flieger im Sommer 1944 sogar Luftaufnahmen der Todesfabrik Auschwitz samt rauchender Krematorien schossen und damit die Berichte von entflohenen KZ-Insassen bestätigt sahen.

So bleibt lediglich die Frage, weshalb er nicht noch eindeutiger gesprochen hat. Die Gründe sind zweierlei.

Einerseits waren die Informationen aus den von den Deutschen besetzten Gebieten extrem vage – erst nach dem Krieg enthüllten die Nürnberger Prozesse das ganze Ausmaß der Nazi-Verbrechen. Bis dahin gab es jede Menge Gerüchte, aber keine handfesten Beweise, die eine Anklage absichern könnten. Zum zweiten stand der Papst seit 1939 in engstem Kontakt mit der deutschen Militäropposition, die bis Mai 1940 und dann wieder ab Januar 1943 und den ersten Niederlagen in el-Alamein und Stalingrad – mit päpstlichem Segen als „Tyrannenmord“ legitimiert – ein Attentat auf Hitler und einen Regierungsumsturz planten. In diesem Fall hätte der Papst für die Putschisten garantiert und einen Frieden mit den Westalliierten vermittelt. Bis dahin flehten die Verschwörer ihn an, Hitler nicht unnötig zu provozieren und auf keinen Fall parteiisch zu erscheinen, womit er sich als Friedensstifter zumindest bei der deutschen Bevölkerung disqualifiziert hätte. Vor allem aber hatte die Erfahrung gezeigt, dass die Nazis auf Protest aus dem Ausland nur mit einer Verschärfung der Maßnahmen reagierten. Das war nach der Enzyklika Pius XI. „Mit brennender Sorge“ der Fall, das galt als der Vatikan gegen die brutalen Übergriffe auf die polnische Zivilbevölkerung protestierte, das war der Fall, als die holländischen Bischöfe die Deportation der Juden anprangerten. Die Juden galten den Nazis als der „Erzfeind“, jede Unterstützung hätte ihnen als Vorwand zu Übergriffen auf die katholische Kirche gedient, die so dringend als „Widerstandsnest“ und Gestalter eines Nachkriegsdeutschlands gebraucht wurde. Zwischen September 1943 und Juni 1944 war Rom zudem von den Nazis besetzt, hatte Hitler Befehl erteilt, unverzüglich in den Vatikan einzumarschieren und den Papst zu deportieren oder zu erschießen, wenn er sich offen zugunsten der Juden äußere. Sein eigenes Leben war Pius XII. gleichgültig, aber er wollte sich nicht das Lob der Nachwelt mit dem Blut unschuldiger Katholiken und unzähliger weiterer Juden erkaufen, die Hitlers Vergeltungsaktionen zweifellos zum Opfer gefallen wäre.

So handelte der Papst lieber, statt laut aber nutzlos (und sogar kontraproduktiv) zu protestieren. Mit insgesamt 40 offiziellen diplomatischen Interventionen versuchte er, in Deutschland wie in Hitlers Vasallenstaaten, die Deportationen zu stoppen oder zumindest aufzuschieben, also Sand in das Räderwerk der Tötungsmaschinerie zu streuen. In einigen Fällen war er erfolgreich. Mussolinis Italien (bis Juli 1943), Bulgarien und Rumänien verzichteten ganz auf eine Auslieferung der Juden an die SS-Schergen, in Ungarn, Kroatien und der Slowakei wurden die Deportationen nach einer vatikanischen Demarche oft sogar monatelang ausgesetzt. Zugleich wurden zehntausende Juden mit falschen Ausweisen und Taufscheinen versorgt, in Klöstern versteckt oder aus dem Machtbereich der Deutschen geschmuggelt, um in Übersee und Palästina eine neue Heimat zu finden. Ganze 960.000 Juden, so weise ich in meinem Buch „Der Papst und der Holocaust“ nach, verdanken diese Strategie ihr Leben. Es war also ein „weises Schweigen“ nach dem Sommer 1943, als nach dem Sturz Mussolinis ein Damoklesschwert über dem Papsttum hing. Pius XII. glaubte, das Reden zwar Silber, Helfen aber Gold ist. Und dass die höchste Priorität sein musste, um jeden Preis Menschenleben zu retten.
 
Michael Hesemann: „Der Papst und der Holocaust“ (448 S., EUR 28,--) erschien im Verlag Langen-Müller.