Michael Hesemann, Historiker und Autor
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1700 Jahre Toleranzedikt von Mailand

Vortrag am Europäischen Parlament (EP) in Brüssel, 25. Juni 2013


VORTRAG von Michael Hesemann auf der Konferenz
EDICT OF MILAN: CELEBRATING RELIGIOUS LIBERTY IN EUROPE AND ACROSS THE WORLD
unter Vorsitz von Hon. Dr. László Surjàn, Vizepräsident des Europäischen Parlamentes,
Brüssel, Europäisches Parlament, Sitzungssaal Loyola de Palacio
25. Juni 2013, 9.00 bis 12.30 Uhr

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Eure Seligkeit,
Eminenz, Exzellenz,
Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrter Herr Vizepräsident,
Sehr geehrte Abgeordnete, meine Damen und Herren,
 
am 27. Oktober 312 siegte Konstantin der Große in der Schlacht am Ponte Milvio über den Christenverfolger Maxentius, der von Rom aus herrschte. Damit endete zumindest im Westen die Ära der Christenverfolgungen. Mit dem sogenannten Toleranzedikt von Mailand vom 13. Juni 313 wurde das Christentum offiziell im Osten wie im Westen des Reiches zur „religio licita“, zu einer legalen, vom Staat geschützten Religion: die „Mailänder Vereinbarung“ – wie man sie heute unter Historikern nennt - garantierte jedem römischen Bürger die freie Wahl seines Glaubens und seiner Religionsausübung. Alle in den Zeiten der Verfolgung beschlagnahmten Güter wurden den Christen nun zurückerstattet. Zwölf Jahre später, er hatte mittlerweile auch den Osten des Reiches unter seine Herrschaft gebracht, versammelte Konstantin der Große die christlichen Bischöfe zum Konzil von Nicäa, um das Bekenntnis dieses christlichen Glaubens verbindlich zu definieren.

Damit endete für die Kirche die Zeit der Verfolgung, die gerade unter Konstantins Vorgänger Diokletian mit zehntausenden von Märtyrern ihren blutigen Höhepunkt erreicht hatte, die Zeit im Untergrund, für die die Katakomben zumindest eine Metapher sind. Natürlich wissen wir heute längst, dass die Katakomben keineswegs Versteck und Zufluchtstätte der frühen Christen Roms waren, sondern ihre unterirdischen Friedhöfe. Unter den Toten, die hier bestattet wurden, machten die Märtyrer nur einen sehr geringen Bestandteil aus. Nur ein einziges Mal, als der bankrotte Kaiser Valerian Befehl gab, die Kirche zu enteignen, versammelte Papst Sixtus II. (257-58) am 6. August 258 seine Herde in der Praetextatus-Katakombe an der Via Appia, als römische Soldaten in ihr unterirdisches Oratorium eindrangen. Er und seine Diakone wurden hingerichtet bis auf einen, Laurentius, den man so lange folterte, bis er versprach, die Schätze der Kirche zu holen. Er versammelte die Armen Roms und präsentierte sie dem Stadtpräfekten: Das sind die Schätze der Kirche! Dieses Wort, das genauso gut von Papst Franziskus stammen könnte, zeigt deutlich, was die frühe Kirche schon in Zeiten der Unterdrückung von den heidnischen Kulten Roms unterschied, nämlich ihr starkes soziales Engagement! Die Lehre von der Gleichheit und Gottebenbildlichkeit aller Menschen, die jede Trennung zwischen Freien und Sklaven, Juden und Griechen, aufhob, diese Vision von sozialer Gerechtigkeit, war von Anfang an Teil des Evangeliums, der Frohbotschaft von der Erlösung. Wir finden sie schon in einem der frühesten Dokumente der Kirche, dem Galaterbrief des Völkerapostels Paulus (3,26-29). In der römischen Gesellschaft gab es dagegen unüberbrückbare soziale Schranken zwischen Patriziern und Plebejern, honestiores und humiliores, römischen Bürgern und peregrini (den freien Bürgern fremder Staaten), liberti (Freigelassenen) und schließlich den Sklaven, die völlig rechtlos waren und juristisch als „Sache“ galten.  Nur in der frühen Kirche fielen alle diese Schranken,  aß der Sklave beim Agape, dem Liebesmahl, mit dem Senator und wurde respektiert, „denn ihr seid alle einer in Christus Jesus … Abrahams Nachkommen, Erben kraft der Verheißung“, wie Paulus lehrte.

Diese Vision der Gerechtigkeit und Hoffnung auf Erlösung war so stark, dass selbst die blutigsten Verfolgungen den Siegeszug des Christentums nicht aufhalten konnten. Man schätzt, dass etwa 10-15 % - im Westen weniger, im Osten mehr – der Bevölkerung des Römischen Reiches bereits Christen waren, als Konstantin der Große die Verfolgung beendete. So wurde die Kirche und damit ihre Vision auch nach außen hin Teil der Gesellschaft. Schon vorher hatte sie ihre Anhänger aus allen Schichten der römischen Bevölkerung gewonnen, jetzt aber konnten Christen offen auftreten, ohne dass sie das Martyrium erwartete, konnten die Gesellschaft prägen und sie verändern. Mit Erfolg: Noch bevor das 4. Jahrhundert zuende ging, war das Christentum Staatsreligion im römischen Reich, war die Kirche stark genug, den Kaiser zu maßregeln – wie es Bischof Ambrosius von Mailand mit Kaiser Theodosius tat –, war das christliche Abendland geschaffen. Doch mir müssen auch deutlich unterscheiden: Das Edikt von Mailand war ein Akt der Toleranz, er garantierte den Christen Religionsfreiheit. Das Edikt des Theodosius 67 Jahre später (380), das das Christentum zur Staatsreligion machte, beinhaltete ein Moment der Intoleranz und führte zur Verfolgung von religiösen Minderheiten. Mailand ist ein Modell für Europa – das Edikt des Theodosius dagegen war die Geburtsstunde des Cäsaropapismus.

Nun kann man Konstantin, dem ersten christlichen Kaiser, der sich erst auf dem Sterbebett taufen ließ, gerne menschlich vorwerfen, was man will, und er war gewiss auch ein Machtmensch und kein lupenreiner Heiliger, auch wenn die Ostkirchen ihn als einen solchen, ja als „apostelgleich“ verehren. Doch sein Verdienst ist unbestreitbar: er hat im Zeichen des Kreuzes Europa verändert, ja ein neues Europa geschaffen, das jetzt nicht mehr nur auf den Standbeinen der griechischen Philosophie und des römischen Rechts stand, sondern noch einem dritten: dem christlichen Menschenbild.

Wir können nur spekulieren, was ihn dazu veranlasst hat. Vielleicht war es wirklich, wie seine Biografen behaupten, eine Vision des Kreuzes, die er irgendwann vor der Schlacht an der Milvischen Brücke hatte,  gefolgt von einem Traum, der ihn enthüllte, dass er in diesem Zeichen siegen würde.  Wir können auch darüber streiten, ob er damals wirklich das Kreuz oder eher das Christusmonogramm Chi-Rho auf die Schilde seiner Soldaten malen ließ. Spätestens seit seine Mutter Helena nach Jerusalem aufbrach und bei den Bauarbeiten zur Grabeskirche der Legende nach das „Wahre Kreuz“ Christi entdeckte, war das Kreuz, für uns Christen das Symbol unserer Erlösung, das Wappenzeichen des christlichen Europas, blühte über anderthalb Jahrtausende lang Europa unter dem Kreuz.

Damit begann im Herbst 312 eine historisch einmalige Erfolgsgeschichte, die, bei allen Höhen und Tiefen, bei allem, was sich unsere Vorfahren leider auch im Namen der Kirche und des Christentums zuschulden kommen ließen, in der Grundtendenz eine segensreiche war. Denn anstelle der Sklaverei trat eine Gesellschaft der Freien, anstelle heidnischer Lebensverachtung die christliche Achtung vor dem menschlichen Leben, anstelle barbarischer Hinrichtungen, die dem Volksvergnügen dienten, trat eine menschlichere Justiz, anstelle heidnischer Menschen- und Tieropfer die Feier der Eucharistie, anstelle eines stoischen Fatalismus eine Religion der Hoffnung. Und wenn wir heute, 1700 Jahre später, auf die Errungenschaften dieses Kontinentes und seiner Zivilisation zurückblicken, dann müssen wir zugeben, dass sie eben nicht nur auf den Nährboden der griechisch-römischen Welt zurückgehen, sondern eben gerade auf seine „Bewässerung“ mit dem Wasser der Taufe, auf seine Befruchtung durch das Christentum: Universitäten und Krankenhäuser, Sozialfürsorge und Entwicklungshilfe, Bildungssysteme und Menschenrechte wären ohne die Botschaft des Evangeliums nie denkbar gewesen. Um es ganz drastisch zu formulieren: Dass heute keine Menschen mehr als Eigentum eines anderen gelten, das man nach Belieben ausbeuten und Quälen konnte, deren Leben so wenig Wert hatte, dass man sie zur sadistischen Unterhaltung an Tiere verfüttern konnte, ja dass es überhaupt keine Gruppe von „Rechtlosen“ mehr gibt, dass stattdessen eine Kultur der Gleichwertigkeit aller Menschen entstand, der Fürsorge und der Solidarität: das verdanken wir einzig und allein dem Christentum!
In seinem bahnbrechenden Werk „Wie das Christentum die Welt veränderte“ stellt der amerikanische Soziologieprofessor Alvin J. Schmidt in 15 Kapiteln, auf 494 Seiten, den Einfluss des Evangeliums auf Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur der letzten 1700 Jahre dar: Von der Heiligung des menschlichen Lebens bis zu Krankenhäusern und Gesundheitsfürsorge, von der Rolle der Frau, die endlich Würde und Freiheit erlangte, bis zum allgemeinen Bildungswesen und der Wissenschaft, von der Heiligung der Arbeit bis zur Freiheit und Gerechtigkeit für alle. Sogar die Trennung von Staat und Kirche, so weist der Soziologe (anhand der Schriftworte in Mt 22,21 und Röm 13,1) nach, ist ein urchristliches Konzept. Dabei vergaß Schmidt nicht, dass diese Religion, wie keine andere, die Menschen immer wieder zu Höchstleistungen inspirierte: Auf den Gebieten von Kunst und Literatur ebenso wie im Bereich der Musik. Sie brachte einen Raphael und einen Michelangelo, einen Dante und einen Cervantes, einen Bach und einen Mozart, aber auch den Universalgelehrten Albertus Magnus, den Domherrn Nikolaus Kopernikus oder den Vater der Urknall-Theorie, den katholischen Priester und Wissenschaftler Abbé Georges Lemaître, hervor.

In seinem Buch „How the Catholic Church Built Western Civilization“ bestätigt sein Kollege, der US-Historiker Thomas E. Woods von der Harvard-Universität, diese Einschätzung. In seinem Vorwort widerspricht er deutlich dem gängigen Klischee, die Kirche sei ein Hort der Ignoranz, der Unterdrückung und der Stagnation. Er zitiert den Historiker Philip Jenkins mit den Worten: „Antikatholizismus ist der Antisemitismus der Popkultur“ – das einzig „politisch korrekte“ Vorurteil, das man sich noch leisten kann, seit der Antisemitismus – Gott sei Dank – aus der Mode geraten ist und Antiislamismus unter den Gutmenschen unserer Tage als obszön gilt. Dabei, so Woods, sei es eine Tatsache: „Die katholische Kirche hat die Zivilisation, in der wir leben und deren Kinder wir sind, geformt... sie war ihr Baumeister. Sie hat nicht nur die moralisch verkommenen Aspekte der antiken Welt – von der Kindstötung bis hin zu Gladiatorenspielen – überwunden, sondern hat nach Roms Untergang die Zivilisation erneuert und vorangetrieben. Ohne sie wären wir noch alle Barbaren.“

Auch in Europa macht sich diese Erkenntnis breit. Ich verweise etwa auf das Werk des Franzosen Sylvain Gouguenheim: „Aristoteles auf dem Mont Saint-Michel“, in dem dieser historisch solide nachweist, dass eben nicht – wie so gerne behauptet – der Islam die großen Denker der Antike durch das angeblich so dunkle Mittelalter hindurch rettete, sondern dass es die europäischen Klöster waren, in denen antikes Gedankengut und Schrifttum nicht nur überdauerte, sondern gepflegt und gelehrt wurde.
Gewiss: Die konstantinische Wende nahm gewissermaßen das Ende der Antike vorweg, mit ihr begann, und das ist keineswegs negativ gemeint, der Weg ins Mittelalter. Doch indem Konstantin Antike und Christentum versöhnte, rettete er gewissermaßen das geistige Gut Griechenlands und Roms über die Stürme der Völkerwanderung hinweg. Damit verhinderte er die Barbarisierung Europas, zu der es zweifellos gekommen wäre, hätte nicht die Kirche das Erbe der Antike gehütet und bewahrt und die Barbaren durch ein überzeugendes Modell zu einer Ethik erzogen, der sie sich zumindest dem Bekenntnis nach bald selber verpflichtet fühlten.

Dadurch, dass er sie in das Reich integrierte, machte Konstantin die Kirche zu einem Teil und schließlich zum Erben Roms. Ja, sie wurde auch mächtig, sie wurde sogar reich. Doch Macht und Reichtum, bei allen Versuchungen, die mit ihnen verbunden waren und denen nicht wenige Kirchenmänner zum Opfer fielen, garantierten auch ihr Überleben. So wurde die Kirche für anderthalb Jahrtausende zur primären Kraft, die Europa formte, es zum christlichen Abendland werden ließ – zu einer Kraft, die, bei aller Fehlerhaftigkeit und selbst im Angesicht der Verbrechen, die in ihrem Namen begangen wurden, die Welt zu einer Besseren werden ließ.

Europa täte gut daran, sich auf diese Kraftquelle auch im Dritten Jahrtausend zu besinnen, will es seine Identität bewahren und der Welt auch weiterhin Vorbild sein an Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und Rechtstaatlichkeit, deren Fundament nun mal der christliche Glaube ist. So möge diese Feierstunde dazu beitragen, dass Europa sich seiner Wurzeln und seiner Identität bewusst wird und sich stets an jenen Tag erinnert, an dem es groß wurde im Zeichen des Kreuzes.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


oben: Michael Hesemann, Seine Seligkeit Gregorios III. Laham, Melkitischer Patriarch von Antiochien
unten: Eröffnung der Sitzung durch EP-Vizepräsident Dr. Laszlo Surjan