REZENSION
David I. Kertzer:
The Pope at War. The Secret History of Pius XII, Mussolini, and Hitler
New York (Random House) 2022
Das bemerkenswerteste an diesem Buch ist nicht sein Inhalt, sondern das, was es verschweigt. Denn Kertzers jüngste Abrechnung mit dem Vatikan ist alles andere als eine „geheime Geschichte“, also ein Blick hinter die Kulissen. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich saß in der ersten Märzwoche 2020 und bei anderen Gelegenheiten nur ein paar Tische entfernt von Kertzer in den Vatikanarchiven, um das neue Material zu Pius XII., das Papst Franziskus freigegeben hatte, zu sichten. Ich habe viele der Dokumente, die er ausschnittsweise zitiert, vollständig gelesen, aber auch jene, die zu ihrem Kontext gehören und die er verschweigt. Seit 2008 betreibe ich diese Archivforschung im Vatikan u.a. im Auftrag der amerikanisch-jüdischen Pave the Way Foundation und habe dabei Dutzende Dokumente entdeckt und in meinem Buch „Der Papst und der Holocaust“ publiziert, die eine ganz andere Sprache sprechen als Kertzers Buch. Erstaunlicherweise enthält es, zwei Jahre nach der Öffnung der Vatikanarchive zum Pontifikat Pius XII., erschreckend wenig Neues. Im Grunde genommen hätte Kertzer es auch in den 1980er Jahren schreiben können, als Owen Chadwicks Standardwerk „Britain and the Vatican during the Second World War“ (1988) erschien. Wobei, zugegeben, Kertzer der bessere Erzähler ist. Es fragt sich nur, weshalb er zwei Jahrzehnte Pius XII-Forschung systematisch ignoriert, wie schon der Blick in das Literaturverzeichnis verrät. Da gilt Susan Zuccottis „Under His Very Window“ (immerhin aus dem Jahr 2000) als der jüngste Stand der Forschung. Neue Werke, insbesondere jene, die ein sehr viel positiveres Bild des Weltkriegspapstes zeichnen, etwa die Bücher von Feldkamp, Rychlak, Doini, Tornielli, Napolitano, Krupp sowie - yours truly – Michael Hesemann (mein „Der Papst und der Holocaust“ erschien bereits 2018 auf Deutsch!) werden konsequent ignoriert. Sein einziger „Coup“, sein vermeintlicher Sensationsfund in den Vatikanarchiven, der Kertzer immerhin in den USA und Israel zu Schlagzeilen verhalf, ist dann auch wirklich keiner. Dass Prinz Philipp von Hessen, der mit der Tochter des italienischen Königs Viktor Emmanuel III. verheiratet war, nicht nur Hitlers Verbindungsmann zu Mussolini war, sondern auch mehrfach bei Papst Pius XII. vorstellig wurde, ist spätestens seit 2006 bekannt, als Jonathan Petropulos „Royals and the Reich“ erschien. Zuvor wurde es mehrfach in der vom Vatikan herausgegebenen Edition „Akten und Dokumente des Heiligen Stuhls zum Zweiten Weltkrieg“ erwähnt; also keineswegs, wie Kertzer behauptet, vertuscht und verschwiegen. Nur Kertzer wirft dem Papst ernsthaft vor, den „Nazi-Prinzen“ 1939 empfangen zu haben, als dieser jeden offiziellen und inoffiziellen diplomatischen Kanal nutzte, um den drohenden Ausbruch des Zweiten Weltkriegs noch in letzter Minute zu verhindern, aber auch nichts unversucht lassen wollte, um die katholische Kirche im Reich vor der Verfolgung durch das Regime zu bewahren. Immerhin bot der Prinz im Namen Hitlers eine Ausweitung des Konkordats auf die besetzten Gebiete (Österreich und Böhmen) an; ein Angebot, das Pius XII., ganz Diplomat, nicht demonstrativ ablehnte, sondern von fünf für die Nazis praktisch unerfüllbaren Bedingungen abhängig machte. Doch so gerne Kertzer auch moralisiert, es ist historisch höchst fragwürdig, Geschichte rückwirkend, also aus heutiger Perspektive, zu bewerten. Mit dem Wissen von 2022 oder auch von 1945 wäre es natürlich unmoralisch, mit der Regierung des Deutschen Reiches, den Mördern von sechs Millionen Juden, diplomatische Kontakte zu unterhalten. Doch 1939 ahnte noch niemand, dass Hitler den Holocaust plante. Diplomatie ist nun mal stets der oft verzweifelte Versuch, anstelle der Konfrontation den Dialog zu suchen und das kleinere Übel (hier: die Duldung eines antichristlichen Regimes) hinzunehmen, um das größere Übel (Krieg, Holocaust, offene Verfolgung der Kirche) zu verhindern. Wer, wenn nicht der Papst, der Stellvertreter dessen, der die Bergpredigt verkündet und die Feindesliebe gepredigt hat, ist geradezu verpflichtet, Gesprächsangebote von allen Seiten anzunehmen, um seine providentielle Rolle als Friedensstifter wahrzunehmen? Dabei folgte Pius XII. konsequent dem Vorbild seines Lehrers, Papst Benedikt XV., der schon im 1. Weltkrieg versuchte, durch strikte Neutralität den Vatikan als globale Friedensmacht zu etablieren.
Das aber war keine „geheime Geschichte“, wie Kertzer behauptet, sondern, im Gegenteil (auch wenn die Gespräche mit dem Prinzen streng vertraulich waren), vatikanische Politik. Die geheime Geschichte, die Kertzer wissentlich verschweigt, ist eine andere. Denn als der Krieg dann doch ausbrach und unendliches Leid über die polnische Nation und die jüdische Minderheit brachte, fanden ganz andere, sehr viel geheimere Gespräche im Vatikan statt. Seit Oktober 1939 kollaborierte Pius XII. schließlich mit der deutschen Militär-Operation, jenen Offizieren der Wehrmacht also, die Hitler stürzen und notfalls sogar ermorden wollten und den Papst baten, im Fall eines Gelingens einen Waffenstillstand mit den Alliierten auszuhandeln. Dass Pius XII. im Winter 1939/40 die Engländer darüber unterrichtete, dass er England, Frankreich und die Benelux-Staaten im Voraus über Hitlers Einmarschpläne informierte (aber auf Skepsis stieß, weil Hitler gleich mehrfach die Invasion verschob), dass er bis zum 10. Juli 1944 regelmäßig über die Attentatspläne auf den „Führer“ informiert wurde, darüber schweigt Kertzer unverständlicher Weise. Denn diese Tatsache allein würde das von ihm gezeichnete Bild von Pius XII., wenn auch nicht als „Hitlers Papst“, so doch als williger Unterstützer Mussolinis und des italienischen Faschismus, komplett infrage stellen.
Dieses Verschweigen sämtlicher negativer Äußerungen Eugenio Pacellis/Pius XII. über Adolf Hitler – angefangen 1923, als er seinen ersten Bericht über „den antikatholischen Charakter des Nazi-Aufstandes“ nach Rom schickte oder 1925, als er den Nationalsozialismus als „die wohl gefährlichste Irrlehre unserer Zeit bezeichnete -, aber auch aller seiner Aktivitäten zugunsten verfolgter Juden – angefangen 1917, als seine diplomatische Initiative die jüdischen Siedler im Heiligen Land vor der Deportation und Ermordung durch die protofaschistischen Jungtürken verhinderte - ist der eigentliche „rote Faden“ von Kertzers Buch. Statt interne Dokumente und Einschätzungen zu zitieren, die übrigens seit Jahrzehnten bekannt und publiziert sind, zitiert er fast ausschließlich die Protokolle externer, diplomatischer Kommunikationen, bevorzugt mit Mussolinis italienischen Faschisten, so als ob Diplomatie je eine ehrliche Quelle gewesen wäre, als bestünde die Kunst der Diplomatie in schonungsloser Offenheit statt in vorsichtiger Annäherung, in der Hoffnung, im Gespräch zu bleiben.
Dabei sei keineswegs bestritten, dass es im Vatikan durchaus anfängliche Sympathien für Mussolini gab, die freilich schrittweise schwanden, je mehr sich der „Duce“ Adolf Hitler annäherte. Das ist keineswegs verwunderlich, schließlich war Mussolinis Regierung die Erste seit der Einnahme Roms 1871, die nicht dezidiert kirchenfeindlich war, sondern die Zusammenarbeit mit der Kirche suchte. Das italienische Konkordat, das zur Gründung des Vatikanstaates führte und aus dem „Gefangenen im Vatikan“ einen international operierenden Souverän machte, war nun mal ein Höhepunkt der Kirchengeschichte. Monarchie und Kirche waren zwei der drei Säulen, auf denen laut Selbstdefinition der faschistische Staat aufgebaut werden sollte. So war der frühe italienische Faschismus auch nicht antisemitisch; das wurde er erst nach Hitlers Besuch in Rom und dem dadurch besiegelten Schulterschluss des Duce mit dem Führer. Fortan benutzte der Vatikan seine guten Kontakte zu katholischen Faschisten wie dem Außenminister und Mussolini-Schwiegersohn Graf Ciano in der Hoffnung, mäßigend auf den Kirchenfeind Hitler einwirken zu können. Immerhin schaffte es der Vatikan auf diesem Weg, zu verhindern, dass Italiens Juden an Hitler ausgeliefert wurden, zumindest bis zum Sturz des Duce im Juli 1943. So wurde Italien und das von den Italienern besetzte Südfrankreich zum Zufluchtsort für Juden aus ganz Europa, die dem Holocaust entfliehen konnten. Ohne das gegenseitige Entgegenkommen, ohne den Dialog zwischen Kirche und italienischem Faschismus, wäre auch das nicht möglich gewesen. Genau das aber, diesen Hintergedanken der Kirche, ihr Bemühen, sich einer nicht veränderbaren Realität zu stellen und durch Dialog die Situation zu nutzen und das Schlimmste zu verhindern, verschweigt Kertzer. Bei ihm wird jede noch so abgegriffene diplomatische Höflichkeitsformel zum Indiz für eine geistige und weltanschauliche Nähe.
Dabei kommt auch Kertzer nicht drum herum, unbestreitbare historische Fakten beim Namen zu nennen. So etwa, wenn er in seinem Prolog unverblümt zugeben muss: „Pacelli himself had no love for Hitler or for the Nazis… Rather than alienate Mussolini by condemning his alliance with Hitler … it would be more effective to keep him happy and take advantage of his close bond with Hitler to convince the Führer to make peace with the Church.” (xxxvi) Im Klartext: Hitler führte offenen Krieg mit der Kirche und der Vatikan benutzte Mussolini, um ihn zur Mäßigung zu bewegen. Es ist einer der ehrlichsten Sätze des ganzen Buches. Wie schade, dass Kertzer ihn wohl geschrieben, aber nie verinnerlicht hat.
Die Liste der verschwiegenen Fakten und direkter Falschaussagen in Kertzers Buch ist so lang, dass wir uns auf fünf Beispiele konzentrieren müssen.
Gleich auf Seite 6 erwähnt Kertzer die Enzyklika „Mit brennender Sorge“, Pius XI. Verurteilung des Nationalsozialismus aus dem Jahre 1937. Sie war Pacellis Projekt: Er ließ zu diesem Zweck die drei radikalsten Hitler-Gegner unter den deutschen Bischöfen, Kardinal von Faulhaber, Bischof von Galen und Bischof Preysing, nach Rom kommen, wo Faulhaber schließlich den ersten Entwurf für die Enzyklika niederschrieb. Dieser wurde, wie die verschiedenen Versionen, die wir in den Vatikan-Archiven finden, zeigen, von Pacelli persönlich und handschriftlich an verschiedenen Stellen deutlich verschärft. Selbst der Titel, der in Faulhabers Version „Mit großer Sorge“ lautete, erschien Pacelli als zu harmlos; er setzte das aussagekräftigere „Mit brennender Sorge“ durch. Trotzdem behauptet Kertzer tatsächlich, so, als habe es die letzten 15 Jahre Archivforschung nicht gegeben: „Cardinal Pacelli, worried about antagonizing the Führer, advised against such a public protest…“ Das Gegenteil ist wahr. Aber zumindest verzichtet Kertzer auf eine Wiederholung der Verschwörungstheorie seines letzten Buches, „The Pope and Mussolini“, Pius XII. habe im Auftrag Mussolinis (!) die Entwürfe zu einer zweiten Enzyklika Pius XI. gegen den Rassismus verschwinden lassen; mittlerweile wissen wir aus den Akten eines ihrer Autoren (die meisten päpstlichen Enzykliken werden von den Päpsten in Auftrag gegeben, aber nicht selbst geschrieben), dass Pius XI. persönlich den ersten Entwurf zurück ins Mutterhaus des Jesuitenordens geschickt hat, weil er mit ihm unzufrieden war.
Kertzer stellt es tatsächlich so dar, als sei die Wahl Eugenio Pacellis zum Papst von Nazis und Faschisten positiv aufgenommen worden. Das Gegenteil ist wahr. Schon im Vorfeld der Wahl wetterte die NS-Propagandapublikation „Wer macht die Politik im Vatikan?“, erschienen im Zentralverlag der NSDAP: „Pacelli ist schließlich verantwortlich für die schroffe Haltung des Vatikans gegen die Achse Rom-Berlin. Er hofft auf eine Rettung seines politischen Systems durch eine Anlehnung an die westlichen Demokratien“. Goebbels kommentierte die Wahl in seinem Tagebuch als „Ein politischer Papst und u.U. ein raffiniert und geschickt vorgehender Kampfpapst. Also aufpassen!“ Hitler wollte, so Goebbels, nach der Wahl Pacellis sogar das Konkordat mit dem Heiligen Stuhl aufkündigen: „Das wird bestimmt bei der ersten Kampfmaßnahme Pacellis der Fall sein.“ Die „Berliner Morgenpost“ kommentierte, die Wahl würde in Deutschland „nicht günstig aufgenommen, da er dem Nationalsozialismus stets feindlich gegenübergestanden hat.“ Auf der anderen Seite kommentierte die „Palestine Post“, das Organ der jüdischen Palästina-Siedler: „Die herzlichen Reaktionen auf die Wahl – insbesondere in Frankreich, England und Amerika – überraschen nicht, wenn wir uns an die wichtige Rolle erinnern, die Pacelli im jüngsten päpstlichen Widerstand gegen verderbliche Rassentheorien spielte.“ Von all dem ist bei Kertzer nichts zu lesen. Auch nicht, dass sich Pacelli seit der Pogromnacht im November 1938 bemühte, für 200.000 deutsche Juden Visa zu beschaffen, um ihnen die Ausreise in sichere Übersee-Staaten zu ermöglichen.
Ziemlich dreist behauptet Kertzer, Pius XII. habe seinen Wappenspruch „Opus Iustitiae Pax“ (Das Werk der Gerechtigkeit ist der Frieden) von Mussolini abgekupfert, der in seinen Reden „Frieden mit Gerechtigkeit“ gefordert habe (S. 147). Tatsächlich hatte Pacelli, der in seinem Familiennamen die Aufforderung, Friedenstifter zu sein, las, diesen Wappenspruch schon 1917 bei seiner Bischofsweihe gewählt, also acht Jahre vor Mussolinis Machtergreifung. Tatsächlich stammt der Spruch aus der lateinischen Übersetzung des Buches Jesaja (32,17). Es ist geradezu absurd, dadurch eine Nähe zu Mussolini oder zum Faschismus und seiner Ablehnung der Versailler Verträge abzuleiten.
Sträflich einseitig ist Kertzers Darstellung zum Thema Vatikan und Holocaust. Während er seitenlang lamentiert, dass der Vatikan nicht oder zu zögerlich auf die Nachrichten von der massenhaften Ermordung der Juden reagierte, während er wahrheitswidrig behauptet, der Papst habe sich überhaupt nur für konvertierte Juden, also sogenannte „katholische Nichtarier“, interessiert, sprechen die vatikanischen Dokumente eine ganz andere Sprache. Erst im Juni 2022 stellte das Historische Archiv der Zweiten Sektion des vatikanischen Staatssekretariats die Dokumente zu 2700 Hilfsgesuchen verfolgter Juden beim Heiligen Stuhl online, die eine Ahnung von dem unermüdlichen Bemühen Pius XII. vermitteln, Menschen in Not unabhängig von ihrer Religion zu helfen. In rund 25.000 Fällen hat der Heilige Stuhl Juden zur Flucht aus den von den Nazis besetzten Gebieten verholfen. Durch über 40 päpstliche Interventionen bei Hitlers Vasallenstaaten – Vichy-Frankreich, der Slowakei, Ungarn, Kroatien, Rumänien, Bulgarien – konnten hunderttausende Juden vor der Deportation in die Todeslager bewahrt werden. Doch von all diesen natürlich streng vertraulichen diplomatischen Bemühungen, von denen viele schon seit den 1980er Jahren durch die Publikation der „Akten und Dokumente des Heiligen Stuhls zum Zweiten Weltkrieg“ bekannt sind, liest man bei Kertzer – kein Wort! Und das ist nicht nur stark nachlässig, es ist perfide, weil es den falschen Eindruck vermittelt, das Schicksal der Juden im Holocaust sei Pius XII. gleichgültig gewesen. Das Gegenteil ist wahr! Doch gerade diese riskanten Rettungsversuche machten nach außen hin ein besonders vorsichtiges Agieren notwendig. Ein falsches Wort hätte eben nicht nur zur Zerschlagung der katholischen Kirche in Deutschland geführt, sondern, vor allem, jede Möglichkeit zunichte gemacht, Schadensminderung zu betreiben und zu retten, statt zu reden. Dass dabei immer zunächst für Konvertiten jüdischer Abstammung interveniert wurde, ist eher strategisch zu verstehen. Denn eine solche Intervention war zu rechtfertigen, sind doch Konvertiten vollwertige Katholiken und daher legitimer Teil der Herde des römischen Oberhirten. Hätte der Papst sich stattdessen gleich für die Glaubensjuden eingesetzt, hätte man ihm entgegenhalten können, dass diese ihn nichts angingen. Hitler hätte eine solche Intervention sogar propagandistisch ausschlachten können, als „Beweis“, dass der Vatikan ein Instrument des Judentums sei, das er zum Erzfeind Deutschlands erklärt hatte. Gab einer seiner Vasallen nach, was die Konvertiten betrifft, so war das ein erster Schritt für den Papst. Er konnte etwa, wie massenhaft in Italien und Rumänien geschehen, falsche Taufscheine ausgeben lassen, um Zehntausende vor der Deportation zu bewahren. Zudem ging es ihm um Menschenleben, gleich welcher Konfession oder Religion. Wenn es, wie etwa bei der Judenrazzia von Rom, möglich war, von 1259 Festgenommenen 252 wieder frei zu bekommen, weil sie Konvertiten waren oder christliche Ehepartner hatten, war es doch sinnvoller, die Chance auf deren Freilassung zu nutzen statt erfolglos darauf zu beharren, dass „alle oder keiner“ verschont bleiben. Dass gleichzeitig erreicht wurde, dass die „Judenrazzia“ vorzeitig abgebrochen wurde und es keine Wiederholung gab, verschweigt Kertzer natürlich.
Leider hat dieses bewusste Vertuschen und Verschweigen bei Kertzer Methode, wenn er über das Schicksal der Juden Roms berichtet. Von den Reaktionen Pius XII. auf die Judenrazzia am 16. Oktober 1943 erwähnt er nur die Vorladung des deutschen Vatikanbotschafters Ernst von Weizsäcker, dem Kardinalstaatssekretär Maglione einen päpstlichen Protest androhte. Dass Pius XII. einen zweiten Weg wählte, dass er sich über den deutschen Pater Pancratius Pfeiffer (den Kertzer völlig zu Unrecht als Nazi-Sympathisant diffamiert) und den österreichischen Bischof Alois Hudal den deutschen Militärkommandanten von Rom, General Stahel, kontaktierte und bewirkte, dass dieser bei Himmler die „Judenaktion“ stoppen ließ – davon liest man bei Kertzer kein Wort. Auch davon nicht, dass Stahel auf Bitten des Papstes 550 römische Ordenshäuser zu extraterritorialem Vatikan-Besitz erklärte und deutschen Soldaten das Betreten verbot, dass in eben diesen Klöstern etwa 4300 Juden die neun Monate der deutschen Besatzung überlebten. Wieder ignoriert er die Ergebnisse von 20 Jahren Pius-Forschung und hält die Darstellung der Ereignisse durch die amerikanischen Historikerin Susan Zuccotti aus dem Jahr 2000, also lange vor der Publikation so vieler relevanter Dokumente, veraltete Sekundärliteratur also, für die einzig relevante Quelle. Über 6000 der 8000 römischen Juden verdankten dem Papst ihr Überleben – aber das zählt für Kertzer nicht! Stattdessen macht er das vermeintliche Desinteresse Pius XII. an den Juden ausgerechnet daran fest, dass er „on the day the Jews were being forced onto the train in Rome“ den britischen Gesandten Osborne traf und die Judenrazzia angeblich mit keinem Wort erwähnte. Auch als er „the next day“ den amerikanischen Gesandten Tittmann empfing, sei ihm das Schicksal der Juden keiner Erwähnung wert gewesen. Doch hier zeigt Kertzer nur, dass er ein lausiger Historiker ist. Hätte er britische Archive konsultiert, wüsste er, dass Osborne am 31. Oktober seine Regierung über die Reaktion des Vatikans auf die Deportation informierte, wörtlich: „As soon as he heard of the arrests of Jews in Rome, Cardinal Secretary of State sent for the German Ambassador and formulated some protest”. Sein slowakischer Kollege Karol Sidor, der ebenfalls in diesen Tagen vom Papst empfangen wurde, ergänzte sogar: „Auf Anweisung des Heiligen Vaters wurden über hundert Juden … im Generalat der Jesuiten versteckt. Ähnlich wurden in jedem Kloster Juden mit ihren ganzen Familien versteckt.“ Nur bei Tittmann finden wir nichts dazu: er traf den Papst aber nicht, wie Kertzer behauptet, am 19. Oktober, sondern bereits am 14. Oktober um 11.00 Uhr morgens, also zwei Tage vor der Judenrazzia. Es dauerte allerdings bis zum 19. Oktober, dass er seine Regierung darüber informierte.
Kertzer ist nicht nur blind für alle Fakten, die sein Narrativ infrage stellen würden, er legt auch eine gehörige Naivität an den Tag, wenn er behauptet, ein offener päpstlicher Protest hätte „a large number of the men murdering the Jews“ von ihrem verbrecherischen Handeln abgehalten. Glaubt er wirklich, die Nazi-Zensur hätte zugelassen, dass eine Nachricht davon die Barracken der Wehrmacht oder SS erreicht? Ist ihm unbekannt, dass SS-Männer, die Karriere machen wollten, vorher aus ihrer Kirche austreten mussten? Und wer hätte denn wirklich auf den Papst gehört? Selbst in unserer Zeit, wo jede Papstrede live im Internet übertragen wird, kümmerte es nicht einmal katholische US-Soldaten, als Johannes Paul II. so leidenschaftlich gegen den Irak-Krieg protestierte. Im 1. Weltkrieg nannte Benedikt XV. den Völkermord an den Armeniern beim Namen, doch die Welt ignorierte seinen Appell - übrigens auch die katholischen deutschen Soldaten, die Seite an Seite mit den Türken kämpften und Zeugen der Massaker, Todesmärsche und Todeslager wurden. Ein offener Protest Pius XII. hätte nur dreierlei bewirkt: Er hätte den unbändigen Zorn Hitlers auf den Papst gelenkt und ihm fortan jede Möglichkeit genommen, klandestin weiterhin Juden zu retten. Er hätte den Diktator zu Schlägen gegen die katholische Kirche gereizt, jener Infrastruktur, durch die letzten Endes fast eine Million Juden vor dem Holocaust gerettet wurde. Und es hätte das Tempo des Mordens erhöht, weil Hitler sein teuflisches Ziel um jeden Preis erreichen wollte, umso fanatischer, je bedrängter er sich fühlte. Das wusste Pius XII., der ein guter Menschenkenner war. Er hoffte, vielleicht naiv, auf seine Verbündeten beim deutschen Widerstand, die Hitler stürzen wollten, aber auch auf einen schnellen Sieg der Alliierten. Bis dahin war Schadensminderung sein Ziel – retten und helfen, wo immer es geht! Ob Handeln wertvoller ist als Reden, mag dahingestellt sein. Angesichts der Brutalität der NS-Diktatur, über die sich Pius XII. keine Illusionen machte, hatte er keine andere Wahl. Man sollte fragen, warum es die Alliierten, die ganz andere Möglichkeiten hatten als der von Nazis und Faschisten „belagerte“ Vatikan, nicht anders gehandhabt haben. Auch ihnen lagen seit 1942 Beweise für die Mordtaten der Nazis vor. Es gab nur eine einzige öffentliche Erklärung dazu, eine Woche vor der Weihnachtsansprache des Papstes, der sie in dieser bestätigte. Ganz offensichtlich hatten die Alliierten ähnliche Bedenken wie der Papst. Der aber wollte sich das Lob der Nachwelt nicht mit dem Blut der Unschuldigen erkaufen, die einer Vergeltungsaktion Hitlers nach einem öffentlichen Protest zum Opfer gefallen wären. Es ist leicht, wie Kertzer es tut, darüber zu moralisieren und Bestseller zu schreiben. Doch wer hätte einen „mutigen Schritt“ riskiert, wenn dieser unzählige Menschenleben kosten könnte?