Michael Hesemann, Historiker und Autor
Offizielle Homepage



Das Badehaus von Nazareth


Nicht selten ist der Zufall der beste Freund des Archäologen. Elias Shama jedenfalls wollte nur seinen Souvenirladen gleich neben den Marienbrunnen von Nazareth renovieren, als er auf eine archäologische Sensation stieß. Dabei kannte er die Gegend ziemlich gut. Er war in der Heimatstadt Jesu aufgewachsen, er hatte als Kind auf dem Platz vor dem Brunnen gespielt, sich an heißen Sommertagen mit seinem Wasser erfrischt. Dann ging er, wie viele christliche Palästinenser, nach Jerusalem, wanderte schließlich nach Belgien aus, wo er heiratete. Doch die Heimat ließ ihn nie wirklich los. Kaum hatte er genug Geld verdient, kehrte er mit seiner Frau Martina zunächst nach Jerusalem, dann nach Nazareth zurück. Von dem Ersparten wollte das junge Paar einen Souvenirladen eröffnen, in dem Martina, eine gelernte Schmuckdesignerin, ihre schönsten Stücke ausstellen konnte. Als sie erfuhren, dass einer der Läden direkt neben dem Marienbrunnen seit Jahren zum Verkauf stand, schlugen sie zu. Die Lage war ideal. Hier halten die Busse mit Hunderten von Pilgern aus Griechenland und Russland, denen der Marienbrunnen als der eigentliche Ort der Verkündigung gilt. Da die Erhebung, an deren Fuß seine Quelle entspring, auf Arabisch Kaktushügel heißt, hatten sie bald einen Namen für ihr Geschäft gefunden: Cactus-Gallery.

Doch der Laden war in einem katastrophalen Zustand, als die Shamas ihn 1993 übernahmen. Die Vorbesitzer hatten ihren Schutt einfach die Kellertreppe hinuntergeworfen, Elias hatte seine Mühe damit, den Müll wegzuräumen. Als er dabei auf ein offenbar uraltes Gewölbe stieß, kam ihm sofort die Idee, hier noch ein rustikales Café zu eröffnen. Das erforderte eine umfangreiche Renovierung, doch vor harter Arbeit scheute sich der kräftige Mann aus Nazareth nicht. Dann entdeckte er, dass das Ziegelsteingewölbe nur Teil einer großen, unterirdischen Anlage war, das sich als Hypokaustum, als Bodenheizung, erwies. Der Raum darüber muss ein Caldarium, die antike Version einer Sauna, gewesen sein. Elias stieß auf kostbare Marmorplatten und tönerne Röhren, deren Zusammenläufe mit Tonplatten bedeckt sind, die als Schmuck das Bild einer Palme tragen.



Erstaunt und irritiert informierte er die Israelische Altertümerverwaltung (Israel Antiquity Authority, kurz: IAA) über seinen Fund. Dort wimmelte man ihn ab. Man wisse von der Anlage, erklärte ihm ein Mitarbeiter. Es handle sich um ein türkisches Badehaus aus der Zeit um 1870, für das man sich freilich wenig interessiere. Er könne mit dem Gemäuer machen, was er wolle, es gegebenenfalls auch abreißen.

Aber damit gab sich Elias Shama nicht zufrieden. Er wusste genug von den Türken, um diese Erklärung nicht gelten zu lassen. Im 19. Jahrhundert war Palästina nur eine entlegene Provinz des Osmanischen Reiches, Nazareth nicht viel mehr als ein staubiges Nest, seine Einwohner meist arabische Christen, griechische Mönche und Franziskaner aus Italien. Für wen also sollten die Türken einen so luxuriösen Hamam, mit weißem Marmor ausgestattet, gebaut haben?

Mehr und mehr wuchs in ihm das Gefühl, etwas Wichtigem auf der Spur zu sein. Und so verbrachte er die nächsten zwei Jahre damit, die angeblich so „unbedeutenden“ Ruinen systematisch freizulegen. Die Ergebnisse seiner Arbeit gaben im Recht. Als die Stadtverwaltung von Nazareth in Vorbereitung auf das Heilige Jahr 2000 den Platz vor dem Marienbrunnen umgestalten und dabei von Experten der Israelischen Altertümerverwaltung archäologisch untersuchen ließ, stießen die Ausgräber auf Überreste einer antiken Wasserleitung, die das Badehaus aus der Marienquelle speiste. Zudem konnte der Eingang freigelegt werden, durch den die Arbeiter oder Sklaven die Therme betraten. Auch Reste einer römischen Straße, ein korinthisches Kapitell – offenbar Teil einer Säulenhalle – und Tonscherben, die bis in die hellenistische Periode zurückreichten, wurden entdeckt. Ermutigt durch die Funde machte Elias Shama die Ruinen „seines“ Badehaus pünktlich zum Jubeljahr der Öffentlichkeit zugänglich. Erst der Ausbruch der Zweiten Intifada im September 2000 setzte dem erhofften Besucherstrom ein jähes Ende.

Doch in den neun Monaten, in denen die Cactus-Gallery Treffpunkt für Gäste aus aller Welt war, knüpfte ihr stolzer Besitzer erste wichtige Kontakte und empfing wertvolle Hinweise, aus welcher Zeit sein Fund stammen könnte. So fielen einer Besucherin aus dem englischen Bath gleich die Parallelen zu den römischen Thermen in ihrer Heimatstadt auf. Ein anderer Besucher interessierte sich für die Tonröhren, die denen glichen, die in Pompeji und auf Zypern verwendet wurden. Auch das für römische Bäder typische Frigidarium, den Abkühlraum, sowie eine Praefurnia, die Heizkammer, konnten identifiziert werden. Es wurde Zeit, dass sich Experten der Anlage annahmen. Schließlich lud Elias Shama Archäologen ein, einen Blick auf die Ziegelgewölbe unter der Cactus-Gallery zu werfen.

Der erste, der dieser Einladung folgte, war Prof. Richard Freund, Leiter des Maurice Greenberg-Zentrums für Jüdische Studien an der Hartford-University in Connecticut. Der Amerikaner hatte in Fachkreisen Aufsehen erregt, als er am Toten Meer eine Höhle untersuchte, die während des jüdischen Aufstandes als Versteck für Bronzegerät aus dem Jerusalemer Tempel diente und in der man ein halbes Jahrhundert später Briefe des Rebellenführers Simon Bar Kochba versteckte. Zudem koordinierte er zusammen mit Rami Arav die amerikanisch-israelischen Ausgrabungen in Betsaida an der Nordküste des Sees Gennesaret, dem Geburtsort gleich mehrerer Apostel. Als Freund, selbst gläubiger Jude, die Cactus-Gallery verließ, war er überzeugt: „Wir haben es hier mit einem Badehaus aus der Zeit Jesu zu tun – und die Konsequenzen daraus für die Archäologie und unser Wissen über das Leben Jesu sind enorm.“

Andere Archäologen folgten – und kamen zu anderen Urteilen. Tzvi Shacham vom Museum für Altertümer in Tel Aviv etwa ist überzeugt, dass Shamas Badehaus erst in der Kreuzritterzeit errichtet wurde. Drei Holzkohlenfragmente, die man 2003 mithilfe der Radiokarbonmethode (C14) untersuchte, stammten aus dem 14. Jahrhundert.  Dass die Kreuzritter allenfalls bestehende Badehäuser benutzten, aber nicht ein einziges bauten, schien Shacham dabei vergessen zu haben.

Tatsächlich fand Freund sogar einen mittelalterlichen Pilgerbericht, der die Anlage erwähnt. Er stammt von Rabbi Moshe Bassola (1480-1560), einem hochgelehrten Juden aus Ancona in Italien, der noch im hohen Alter das Heilige Land besuchte. „Wir kamen von Kfar Kanna, erreichten am nächsten Tag Nazareth, wo der Jesus der Christen lebte“, schrieb er in seinem Reisebericht von 1542, „die Bewohner erzählten mir, dass es dort ein heißes Badehaus gab, wo die Mutter Jesu einzutauchen pflegte.“ Die Rede war also nicht von einer Mikwe, einem jüdischen Reinigungsbad, deren Wasser nie erhitzt wurde, sondern von einem Caldarium, wie es Elias Shama entdeckt hatte.

Allerdings steht der Bericht des reisenden Rabbis ziemlich alleine da. Nicht ein einziger der christlichen Pilger, die seit dem 4. Jahrhundert und bis in die Kreuzfahrerzeit Nazareth aufsuchten, erwähnt ein antikes Badehaus. Selbst wenn es zu diesem Zeitpunkt schon existiert hat, es war für sie offenbar ohne Bedeutung. Schließlich kann nahezu ausgeschlossen werden, dass Maria als fromme Jüdin eine Therme aufsuchte. Sie wird, wie viele ihrer eher konservativen Zeitgenossen, die griechisch-römische Badekultur für obszön gehalten haben. Selbst wenn Shamas Gewölbe aus dem 1. Jahrhundert stammen sollte, das „Bad Mariens“ oder die „Therme Christi“ war es ganz sicher nicht. Doch es blieb die Möglichkeit, dass es für römische Legionäre erbaut worden war.

Das aber würde bedeuten, dass alles, was wir bisher über Nazareth zu wissen glaubten, falsch ist. Das scheinbar entlegene Bergdorf war dann alles andere als eine ärmliche Hinterwäldlersiedlung in einer entlegenen Provinz am Rande des Imperiums, eine rückständige Idylle, fern von den Wirren ihrer Zeit. Mit einer Römertherme dieser Größe müsste es Sitz einer Garnison gewesen sein, eines Lagers vielleicht, dessen Überreste irgendwo unter der modernen Araberstadt noch ihrer Entdeckung harren. Das hieße, dass Jesus auf Tuchfühlung mit der Besatzungsmacht aufwuchs, eine Erfahrung, die sich zweifellos auch in seiner Lehre widergespiegelt haben muss.

Doch noch war das letzte Wort über das Badehaus unter der Cactus-Gallery nicht gesprochen. Um Klarheit über die Ausmaße der Anlage zu gewinnen, führte ein ganzes Team amerikanischer Wissenschaftler auf Anregung Freunds im Winter 2004/5 Untersuchungen mit dem hochauflösenden Bodenradar (GPR) durch. Dabei werden Störungen in den oberen Schichten des Erdbodens – etwa Gebäudereste -  durch Reflexion elektromagnetischer Strahlung gemessen. Das Ergebnis verdichtete das Rätsel: „Die Reflexionen, die unter dem jetzigen Boden des Cactus-Hauses gemessen wurden, könnten darauf hindeuten, dass das obere Badehaus auf den Überresten eines früheren Badehauses errichtet wurde, das noch enger auf das Wassersystem ausgerichtet war, das im benachbarten Marienbrunnen geortet und ausgegraben wurde.“

Wann aber wurden das erste und das zweite Badehaus errichtet? In der Archäologie gibt es drei Methoden, das Alter eines Fundes zu bestimmen. Die erste, nämlich durch die Erdschicht und eventuelle Keramik oder gar Münzen, die in ihr stecken, entfiel in diesem Fall; auf dem Badehaus stand ein modernes Wohnhaus und Elias Shama versicherte mir, bei seiner Freilegung weder auf Münzen noch auf Scherben gestoßen zu sein. Die zweite suchte nach organischem Material, das mit Hilfe der Radiocarbonmethode datiert werden könnte. Mit ihrer Hilfe war, wie gesagt, festgestellt worden, dass das Badehaus im 14. Jahrhundert bereits existiert haben muss. Über den Zeitpunkt seiner Erbauung besagte auch dies relativ wenig. Mir war jedoch aufgefallen, dass als Baumaterial nicht, wie in Nazareth zur Zeit Jesu üblich, unbearbeitete Natursteine verwendet wurden, sondern Ziegel. Auch die Wasserleitungen bestanden, wie in der Antike üblich, aus gebranntem Ton. Keramik aber lässt sich datieren durch ein drittes Verfahren, die sogenannte Thermoluminiszenzmethode (kurz: TL-Datierung).

1952 von Daniel, Boyd und Saunders theoretisch entwickelt, demonstrierten Wissenschaftler der Universität Bern schon 1957/58 die praktische Anwendung dieses Verfahrens bei der Datierung archäologischer Funde. Es basiert auf dem Prinzip, dass Festkörper beim Erhitzen vorher im Kristallgitter gespeicherte Energie in Form von Licht abgeben. Wird Keramik, die Feldspat und Quartz enthält, gebrannt, wird sie dabei quasi energetisch entladen. Erst in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten lädt sie sich wieder kontinuierlich mit Strahlung auf. Bei der TL-Datierung wird die Probe erneut erhitzt. Ihrem Alter entspricht die Menge an Energie, die sie dabei abstrahlt und die präzise gemessen werden kann. Das freilich ist ein derart komplizierter Prozess, dass ihn weltweit nur wenige Experten an spezialisierten Labors durchführen können. Eines der weltweit renommiertesten Institute, die sich auf die TL-Datierung spezialisiert haben, befindet sich in Deutschland. Das Curt-Engelhorn-Zentrum für Archäometrie mit Sitz in Mannheim steht unter Leitung von Prof. Dr. Ernst Pernicka und ist der Universität Tübingen angeschlossen. Für seine hervorragende Leistung wurde Prof. Pernicka 2013 mit dem „Advanced Grant“ des Europäischen Forschungsrates, der höchst dotierten Forschungsförderung der Europäischen Union, ausgezeichnet.




Schnell stimmte Elias Shama meinem Plan zu, Proben von den Ziegeln und Rohren des Badehauses unter dokumentierten Begleitumständen zu sichern und in Mannheim datieren zu lassen. So reiste ich im Dezember 2010 erneut nach Nazareth, um mich am 8. Dezember mit ihm und seiner Frau Martina in der Cactus-Gallery zu treffen. Einen Ziegel brachen wir aus einer der Stützmauern des Hypocaust, ein handgroßes Fragment aus einer auf heutigem Bodenniveau verlaufenden Wasserleitung heraus. Nachdem wir sie fotografiert und mit unseren Unterschriften beglaubigt hatten, flog ich, die Fragmente im Gepäck, nach Deutschland zurück. Für den 7. Februar 2011 arrangierte ich einen Termin mit Prof. Pernicka, an dem auch Martina Shama teilnahm; sie war eigens zu diesem Zweck angereist. Mit der Labornummer MA-111839 (Tonrohr) und MA-111840 (Ziegel) versehen, wurden Proben aus beiden Teilen zunächst einer Neutronenaktivierungsanalyse unterzogen, um dann mittels thermisch stimulierter Luminiszent datiert zu werden. Das Ergebnis, wie es mir Prof. Pernicka am 28. April 2011 mitteilte, war nicht uninteressant:
 
   MA-11839   Tonrohr   1650 +/- 740 Jahre (mittleres Entstehungsdatum: ca. 360 n.Chr.)
   MA-11840   Ziegel       1330 +/- 680 Jahre (mittleres Entstehungsdatum: ca. 680 n.Chr.)
 
Was an den beiden Datierungen überzeugt ist der Umstand, dass ihre Mittelwerte in einem historischen Kontext durchaus plausibel erscheinen. Gegen Ende des 4. Jahrhunderts setzte der christliche Pilgerverkehr in Nazareth ein. Seit die römische Kaisermutter Helena im Herbst/Winter 325/26 in das Heilige Land gepilgert war, wurde es zur Pflichtübung für fromme Frauen aus der kaiserlichen Familie, ihr nachzueifern. Gegen 392/93 bereiste Poemenia, eine Verwandte des Kaisers Theodosius, mit verschwenderischem Pomp das Heilige Land, 438 folgte ihr die Gattin Theodosius II., Eudocia, in nicht geringerer Opulenz. Die Inschrift einer Marmorplatte, mit der sie ein von Pilgern gerne frequentiertes Heilbad in Hammath Gader oberhalb des Sees Genezareth ausstatten ließ, bezeugt ihre Vorliebe für Thermen und Balnearien. Nichts liegt näher, als den Bau des Badehauses von Nazareth zeitnah zur Entstehung einer Infrastruktur für den Pilgerbetrieb im Heimatdorf Jesu zu datieren. Der Bedarf an Bädern muss groß gewesen sein, denn selbst das verhältnismäßig wenig besuchte Kursi erhielt zu Ende des 4. Jahrhunderts ein solches, wenn auch sehr viel bescheidener ausgestattet als der Fund von Nazareth.



Als im Jahre 614 die Perser über das Heilige Land herfielen, wurden nicht nur Kirchen und Klöster, sondern auch Pilgerherbergen und Badehäuser geplündert, gebrandschatzt und zerstört. Erst im Laufe des 7. Jahrhunderts wurde vieles wieder aufgebaut, sodass auch die zweite Datierung logisch erscheint. Wurden die Stützmauern damals niedergerissen, mussten sie natürlich mit neuen, intakten Ziegeln wieder aufgebaut werden, wollte man das Pilgerbad auch weiterhin nutzen. Da der Pilgerbetrieb auch in den ersten Jahrzehnten der islamischen Herrschaft uneingeschränkt andauerte, wird der Bedarf gewiss bestanden haben.

So kann mit einiger Sicherheit angenommen werden, dass das Cactus-Badehaus in seiner heutigen Gestalt aus der byzantinischen Zeit stammt. Doch trotzdem könnte es, wie die GPR-Daten andeuten, durchaus einen Vorläufer gehabt haben, den es noch zu datieren gilt.