Michael Hesemann, Historiker und Autor
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Das andere Heilige Land jenseits des Jordan

 
Flug über Budapest nach Amman, Ankunft um 19.25 Uhr, mit dem Taxi durch die nächtlichen Straßen voller bunter, leuchtender Farben. Beim Shepherd-Hotel in der Altstadt steige ich aus, checke ein, lasse mich auf mein Zimmer bringen. Der erste Schreck: Es ist hellhörig und stark renovierungsbedürftig. Der zweite für mich als Deutschen: Es fehlt an Toilettenpapier; ein Schlauch am WC verrät mir, wie sich die Orientalen reinigen. Nach einem exzellenten Abendessen im benachbarten Restaurant beschließe ich: Hier will ich dann doch nicht bleiben. Ich gehe online, finde im modernen Westen der Hauptstadt das Mena-Tyche-Hotel. Die phönizische Göttin im Namen, die einst Stadtgöttin des hadrianischen Jerusalem war, und die Erinnerung an Kairos Mena-Haus im Schatten der Pyramiden überzeugen mich, der Preis auch. Ich buche mir ein Einzelzimmer mit Badewanne, packe meine sieben Sachen, lasse mir von dem freundlichen Portier ein Taxi rufen und ziehe um. Ich sollte diesen Entschluss in den nächsten Tagen kein einziges Mal bereuen. Das Mena-Tyche-Hotel erwies sich als exzellente „zweite“ Wahl.

Am nächsten Morgen bin ich um 10.30 Uhr mit Saber Badawi verabredet, der mein Fahrer sein sollte. Ein guter Freund, Prinz Al’Numan Gharios el-Chemor, der zwei Jahre in Amman gelebt hat, hat ihn mir vermittelt. Auch diese Wahl erweist sich als Glücksgriff. Saber, ein freundlicher, älterer Mann, spricht nicht nur ein gutes Englisch und kennt sich bestens aus, er wird über die Tage auch zu einem echten Freund und Helfer, der Plätze ausfindig macht, von denen ich nur ansatzweise gehört habe.

Unser erstes Ziel ist Sodom und Gomorrah. Und damit meine ich nicht das Nachtleben von Amman, das mich eher weniger interessiert, sondern den biblischen Sündenpfuhl. Genauer gesagt: Die Ruinen von Tell el-Hammam, die der amerikanische Archäologe Dr. Steven Collins als das biblische Sodom identifizierte. Nach einer kleinen Irrfahrt durch das heiße, stickige Gebiet der Jordanmündung ragt endlich der Hügel von Sodom vor uns auf. Ein amerikanischer Grabungshelfer erlaubt uns, ihn hochzufahren. Oben, auf dem Plateau, tut sich eine Grube vor uns auf, in der fleißig gearbeitet wird. Gary Byers, ein braungebrannter, weißbärtiger amerikanischer Archäologe mit Khaki-Weste, Bluejeans und Indiana-Jones-Hut begrüßt uns freundlich und führt mich durch die Ausgrabung. Schließlich holt er Dr. Collins, der fast sein Bruder sein könnte: Ein sympathischer, drahtiger „Dr. Bob“-Typ, braungebrannt und weißbärtig. Mit hochgekrempeltem Khakihemd, Khaki-Hose und Indiana-Jones-Hut entspricht er ganz dem Klischee seiner Zunft der Spatenwissenschaftler. Doch er ist kein Abenteurer wie der von Harrison Ford gespielte Filmheld, sondern eine Koryphäe ersten Ranges. Seine Entdeckung könnte sich als wichtiger herausstellen als das Troja Heinrich Schliemanns oder Howard Carters Grab des Tut-Ankh-Amun. Sollte seine These stimmen – und alles spricht dafür – dann hat er tatsächlich die Stadt Lots entdeckt, die Gott wegen ihrer Sünden zerstörte. Es war eine blühende Stadt, eine der größten in der ganzen Levante in der ersten Hälfte der Mittleren Bronzezeit, im 18. Jahrhundert vor Christus. Eine Stadt, und das ist nachgewiesen, die urplötzlich in Flammen aufging, in der ein Feuer brannte, das Tonkrüge zerplatzen ließ und Lehmziegel pulverisierte. Einzelne Scherben sind verglast wie der Wüstensand nach einer Atombombenexplosion. Kein Stadtbrand und auch kein feindlicher Überfall war die Ursache (es gibt keinerlei Hinweise auf Kämpfe oder Plünderungen), sondern eine kosmische Katastrophe, wie Geologen im Schlepptau des amerikanischen Archäologenteams herausfanden. In der Luft über Sodom explodierte vor rund 3800 Jahren ein Meteorit, der tatsächlich Feuer auf die Erde regnen ließ. Und die Bibel hat doch wieder einmal recht!



Nur 400 Jahre später lagerte das Volk Israel vor dem Ruinenhügel von Sodom, der jetzt „Sittim“ hieß (Vokale, aber auch d und t sind leicht austauschbar in semitischen Sprachen) und bereitete sich auf den Einfall in das Gelobte Land vor. Ein Erdbeben staute für Stunden den Jordan, ließ das Auserwählte Volk trockenen Fußes den Fluss überqueren. An der gleichen Stelle am Ufer des Jordan wurde 600 Jahre später der Prophet Elias in einem „feurigen Wagen“ in den Himmel gehoben. Noch einmal 800 Jahre danach lebte in der Höhle des Elias der letzte der Propheten, Johannes der Täufer, und wartete auf den Messias. Er erkannte ihn, als Jesus von Nazareth vor ihm stand und sich von ihm taufen ließ. Die Taufstelle am Jordan ist mein nächstes Ziel, ich muss sie einfach sehen. Vor 11 Jahren hat Papst Benedikt XVI. sie besucht, hat König Abdullah ihn in einem Golfwagen ans Flussufer gefahren, gefolgt von einem zweiten Golfwagen, in dem Königin Ranja und Papstsekretär Dr. Georg Gänswein saßen. An der heutigen Taufstelle stehen Kirchen aller Konfessionen, sieht man hinüber ans andere Ufer des gar nicht mehr so stattlichen Flusses, wo Israel seine eigene Taufstelle eingerichtet hat. Authentisch ist keine von beiden, stelle ich schnell fest. Der Jordan hat über die Jahrhunderte hinweg, auch aufgrund seismischer Verwerfungen, immer wieder sein Flussbett gewechselt. Gleich neben der Elias/Johannes-Höhle, schon einige Kilometer vom heutigen Jordanufer entfernt, entdecke ich ein altes Flussbett. Hier könnte die authentische Taufstelle gewesen sein.



Am nächsten Tag besuche ich Madaba, eine uralte Bischofsstadt und noch heute christlich geprägt. Seine griechisch-orthodoxe St.Georg-Kirche stammt aus dem 6. Jahrhundert. Weltberühmt wurde sie durch ihr frühbyzantinisches Bodenmosaik, das in allen Einzelheiten das Heilige Land zeigt, samt einer Karte der heiligen Stätten, der Kirchen und Pilgerziele. Sie verrät uns, wo man in byzantinischer Zeit die Schauplätze des Alten und Neuen Testamentes verortete. Doch auch die anderen Kirchen Madabas, einige nur noch Ruinen, zeichnen sich durch herrliche Mosaike aus byzantinischer Zeit aus. Heute ist die Stadt wieder ein Zentrum der Mosaikkunst und bietet in zahlreichen Andenkenläden exzellente Kopien der antiken Originale an.

Jetzt will ich selbst das Gelobte Land sehen, wenn auch nicht aus der Vogelperspektive des Mosaiks, aber doch aus der Moses-Perspektive des Propheten. Ihm war es nicht vergönnt, die zukünftige Heimat seines Volkes zu betreten, doch Gott zeigte sie ihm, bevor er ihn für immer zu sich holte. Noch heute hat man vom Gipfel des Nebo aus den besten Blick auf das Jordantal und darüber hinaus, auch wenn es bewölkt und stürmisch ist wie am Tag meines Besuchs. Ich muss an Johannes Paul II. denken, der selbst wie ein Prophet erschien auf den Fotos, die sein treuer Fotograf Arturo Mari im März 2000 dort von ihm schoss, zu seinen Füßen das gelobte Land. Auch hier wieder die Ruinen byzantinischer Pilgerkirchen mit herrlichen Mosaiken. Doch mich faszinieren noch mehr die Spuren des Moses. An den Ain Musa, den Mosesquellen zu Fuße des Berges, fühle ich mich ihm nahe wie nie. Hier muss das Volk Israel auf ihn gewartet haben, bis es begriff, dass er nie mehr zu ihm zurückkehren würde.

Auch Johannes den Täufer treffe ich wieder an diesem Tag, als wir weiterfahren zur Festung von Mukawer (Machaeus), einem der Paläste des Herodes. Hier war es, wo Johannes der Täufer im Kerker verharrte, bis Salome von ihrem Stiefvater seinen Kopf verlangte. In einer Höhle am Fuße des Burghügels erkenne ich das Gefängnis des Letzten der Propheten.



Der Rückweg führt uns über die alte Moabiterhauptstadt Dhiban, die seit 5000 Jahren (außer in der jüngeren Bronzezeit) existiert. Sie liegt am „Königsweg“, der einst Mesopotamien mit Ägypten verband, der ältesten bekannten Straße der Welt. Hier wurde 1868 die „Mescha-Stele“ aus dem 9. Jh. v.Chr. gefunden, die den Sieg des Königs von Moab über König Omri von Israel feierte und auch das „Hause Davids“ erwähnt.

Meinen vierten Tag in Jordanien widme ich der Hauptstadt Amman, wo ich zunächst einer uralten christlichen Legende auf den Grund gehe. Nach ihr hatten sich um 250 n.Chr. sieben junge Männer und ein Hund in einer Grabhöhle vor der Christenverfolgung des Decius versteckt, seien in einen tiefen Schlaf gefallen und erst unter Theodosius, 150 Jahre später, wieder aufgewacht. Im August 2000 hatte ich im türkisch besetzten Ephesus die Siebenschläfergrotte besucht, den angeblichen Schauplatz des Wunders. Es war eine Grabhöhle inmitten eines Friedhofs, ohne Spuren einer späteren Verehrung. Jetzt hatte ich gelesen, dass es auch eine jordanische Tradition gab, derzufolge sich das Wunder in Philadelphia, dem heutigen Amman ereignete. Auch der Koran erwähnt die sieben Gefährten, was auf ihre große lokale Verehrung hindeutet. Neben der Höhle im Vorort Al-Raqeem steht heute eine große Moschee, den Siebenschläfern gewidmet, zu deren Gräbern auch die Moslems pilgern. Tatsächlich handelt es sich bei der jordanischen Siebenschläfergrotte um eine Grabhöhle aus dem 3. Jahrhundert, die den Luftschacht und den Sonneneinfall aufweist, den einige Versionen der Legende erwähnen. Vor und über ihr wurde im 5. Jahrhundert eine byzantinische Basilika errichtet, just zu dem Zeitpunkt, als auch Jakob von Sarog – unsere erste Quelle zur Siebenschläferlegende – sie erwähnt. Erst nach dem Einfall der Moslems im 7. Jahrhundert wurden die Kirchen zerstört. Gut möglich, dass man damals die Reliquien der Heiligen nach Ephesus brachte, sich ihre Verehrung verlagerte. Von der Hand zu weisen ist der Anspruch Jordaniens, Ursprungsort dieser Legende zu sein, jedenfalls nicht.


Anschließend besuche ich die Zitadelle von Amman, dem biblischen Rabbat-Ammon, der Hauptstadt der Ammoniter, gegen die König David einst Krieg führte. Hier befindet sich auch das nach wie vor sehenswerte älteste archäologische Museum des Landes, das freilich mit dem modernen, gerade eröffneten „Jordan Museum“ nicht mithalten kann. Hier lagern einige der Schriftrollen vom Toten Meer und die berühmte Kupferrolle von Qumran, aber auch ein Fresko aus der Eisenzeit, das den biblischen Seher Bileam, Sohn des Beor, erwähnt. Da es Samstagabend ist, habe ich mir bereits eine Kirche herausgesucht, in der auf Englisch das Heilige Messopfer gefeiert wird: Die „Maria von Nazareth“-Kirche der Jesuiten im modernen Westen der Stadt.

Überraschenderweise ist es eine Kinder- und Jugendmesse, zu der überwiegend einheimische Familien kommen. Die rege Beteiligung bezeugt den Glaubenseifer orientalischer Christen. Sie leben in Jordanien, anders als in vielen Nachbarländern, völlig unbehelligt. Der jordanische Islam ist tolerant und friedlich – dafür garantiert der König, selbst ein Nachkomme Muhammads, dabei aber ein intelligenter, gebildeter und weltoffener Mann. Seine Frau, die bildschöne Königin Ranja, hat Betriebswirtschaft an der amerikanischen Universität in Kairo studiert und gilt als selbstbewusst und modern. Islamistische Fanatiker haben in diesem Land keine Chance. Man sollte König Abdullah zum Kalifen ernennen und die Welt hätte ein Problem weniger!

Am Sonntag stehe ich früh auf, denn ich habe ein volles Programm. Wieder führt unser Weg mich ins Jordantal, dann, vorbei an den luxuriösesten Hotels des Landes, am Toten Meer entlang. Mein erstes Ziel ist Bab edh-Dhra, eine Stadt der frühen Bronzezeit, die vor der Entdeckung des Tell el-Hammam als der „heißeste“ Kandidat für das biblische Sodom galt. Zumindest könnte es gegen 2250 v.Chr. in einem Erdbeben zerstört worden sein, hieß es. Ich verbringe zwei Stunden inmitten der Ruinen und bin enttäuscht. Bab edh-Dhra hatte zwar mächtige Mauern, aber anders als Sodom gleich zwei Stadttore und keinen Palast; das Buch Genesis dagegen erwähnt ausdrücklich einen König Beor von Sodom, gegen den eine Koalition von vier Königen in den Krieg zog. Anders als Sodom wurde Bab edh-Dhra nur teilweise zerstört und bald darauf wieder besiedelt. Das große Gräberfeld außerhalb der Stadtmauern blieb dabei völlig unbehelligt. Der einzige „Pluspunkt“, die es zu verzeichnen hat, ist die relative Nähe zu jener Stätte, die in byzantinischer Zeit als „Lots Höhle“ verehrt wurde; hierhin soll der Neffe Abrahams mit seinen Töchtern geflohen sein, als Sodom im Regen von Feuer und Schwefel zugrunde ging. Doch ist das realistisch? „Rette Dich ins Gebirge!“, hatten ihm die Engel geraten, er wollte lieber in das kleine Zoar fliehen, das von der Katastrophe verschont wurde. Heute wird Zoar mit Safi am Südostende des Toten Meeres gleichgesetzt, aber diese Tradition ist, wie Lots Höhle, erst seit byzantinischer Zeit bezeugt. Schon die Entfernung spricht dagegen. Laut der Bibel bricht Lot bei der ersten Morgenröte auf, um kurz nach Sonnenaufgang in Zoar einzutreffen. Safi liegt aber gut 30 Kilometer von Bab edh-Dhra entfernt, zu weit, um es zu Fuß, die beiden Töchter im Schlepptau, in einer guten Stunde zu erreichen. Von Tell el-Hammam sind es nur sieben Kilometer ins Gebirge, an dessen Fuße das biblische Zoar gelegen haben könnte.

Als ich schließlich im Museum von Kerak und im „Museum des tiefsten Punktes der Erde“ (Es heißt tatsächlich ganz offiziell „The Museum at the Lowest Place on Earth“ und liegt 360 Meter unter dem Meeresspiegel) unterhalb der „Lot-Höhle“ Keramik aus Bad edh-Dhra inspiziere, ist die Frage für mich endgültig geklärt; sie ist zum größten Teil bestens erhalten. In Tell el-Hamman dagegen hatte das Team von Prof. Collins kaum ein unversehrtes Tongefäß entdeckt, war fast sämtliche Keramik unter der gigantischen Hitze, die hier gewirkt haben musste, zerborsten.



Der Abstecher nach Kerak aber lohnt sich trotzdem, nicht nur wegen seiner gigantischen Kreuzritterburg, in der einst der berüchtigte Rainald de Chatillon (1125-87) residierte. Denn auf dem höchsten Punkt der einstigen Moabiterstadt liegt eine kleine, weiße Moschee mit grüner Kuppel, in der die Muslime das Grab Noahs verehren. Eine bizarre Felsformation zu ihren Füßen gilt als versteinerter Überrest der Arche Noah.



Der Abend dämmert und wir fahren noch einmal, jetzt von Safi kommend, in die Berge von Moab, die im Licht der schwächer werdenden Sonne in geradezu surrealem Rosa und Lila erscheinen. Bald verraten mir die immer rötlicher werdenden Felsen, dass wir Edom erreichen, das biblische „Rote Land“. Ich will immer wieder Fotos von dieser atemberaubenden Landschaft schießen, doch Saber, mein Fahrer, mahnt mich zur Eile. Schließlich wollen wir noch vor Einbruch der Nacht mein nächstes Ziel, Petra, erreichen. In der Region von Tafilah erreichen wir ein Hochplateau mit einer Tankstelle und Saber hält an. Ich steige aus, um mir die Beine zu vertreten und doch noch zu fotografieren, höre Hundegebell. Nicht von einem, sondern von sehr vielen Hunden. Ein ganzes Rudel von Straßenhunden kommt auf mich zugelaufen. Saber grinst über das ganze Gesicht. Das ist also die Überraschung, die er mir den ganzen Tag über versprochen hatte. Er hat mitbekommen, dass ich Hunde liebe, dass ich ihn bei jedem zweiten Straßenhund anhalten ließ, den ich fütterte und fotografierte. Ein Jordanier war offenbar ein noch fanatischerer „Hundemensch“ als ich es bin und ist gleich ganz auf dieses Bergplateau gezogen, um die wilden Hunde von Edom mit Futter zu versorgen: Goldige Welpen und liebevolle Muttertiere, stolze Rüden und verschmuste alte Hunde, mit buschigem Fell in allen Schattierungen von Rot, Weiß und Schwarz, bis zu 400 an der Zahl. Sie alle bellen um die Wette und begrüßen mich schwanzwedelnd, während am graublauen Abendhimmel – es regnet zeitweise  – ein Regenbogen erscheint. Natürlich erhält der „Dog Man of Jordan“, wie der zweibeinige Rudelführer Isam Sawalqah nur genannt wird, von mir eine ordentliche Spende für den Futtererwerb; hätte ich vorher Bescheid gewusst, ich hätte ganze Säcke voll Hundefutter im Kofferraum gehabt!



Petra zu besuchen ist immer mein großer Traum gewesen. Zeitmangel, zu viele dringendere Termine haben mich bislang davon abgehalten, ihn zu verwirklichen. Umso glücklicherer bin ich, als wir gegen 20 Uhr Wadi Musa erreichen, die moderne Nachbarstadt der Nabatäermetropole. Das „Moses-Tal“, so die Übersetzung, verdankt seinen Namen einer Szene, die das Buch Numeri beschreibt. Als das Volk Israel nach seiner Wanderung durch die Wüste Zin in Kadesch-Barnea („Heiligtum in der Wüste“) rastete, murrte es, weil es dort an Wasser mangelte. Moses betete zu Gott, nahm seinen Stab und schlug gegen einen Felsen, aus dem „Wasser in Mengen heraus“ (4 Mos, 20, 11) sprudelte, das fortan als „Wasser von Meriba“ („Streitwasser“) bezeichnet wurde. Schon Flavius Josephus (1. Jh.) und Eusebius von Caesarea (4. Jh.) identifizierten Kadesch-Barnea mit Petra, der Stadt, die ihren Namen („Sela“ aram.: „Sela“=„Fels“; „Petra“ ist die griech. Übersetzung) dem Moses-Felsen und ihre Existenz der Moses-Quelle verdankte. Denn als die Edomiter hier auf einem Hügel die Stadt Rekem gründeten, nutzten sie bereits ihr kostbares Wasser. Die Nabatäer, die im 4. Jh. v.Chr. entweder aus dem Hedschas oder aus Assyrien nach Edom kamen, leiteten dieses Wasser durch einen Kanal in das Tal des Wadi Musa und errichteten dort ihre Hauptstadt, berühmt für ihre prachtvollen, in den roten Fels geschlagenen Grabmonumente, die ein achtes Weltwunder sind. Natürlich ist unser erstes Ziel die „Mosesquelle“ (Ain Musa). Unter einem von drei Kuppeln gekrönten modernen Bauwerk befindet sich ein mächtiger gespaltener Felsbrocken, unter dem das Wasser so reichhaltig hervorquillt, dass es eine ganze Stadt versorgt. Ich nehme einen Becher und trinke das frische Quellwasser – es ist köstlich!



Nachts im Hotel lasse ich noch einmal alles Revue passieren. Ich bin gewissermaßen dem 4. Mosesbuch in umgekehrter Richtung gefolgt, angefangen mit Sittim=Sodom und der Überquerung des Jordan, dann zum Berg Nebo, bin durch Moab und Edom schließlich nach Kadesch-Barnea gekommen, zur Stätte des zweiten Wasserwunders. Oder war ich doch nicht? Moderne Bibelarchäologen lokalisieren Kadesch-Barnea lieber westlich der Arabah, in En-el-Qederat in der Wüste Negev, nahe der israelisch-ägyptischen Grenze. Dort fehlt nicht nur jede Lokaltradition, auch die Archäologie konnte keine Siedlungsspuren aus der Zeit vor 1000 v.Chr. finden – fünf Jahrhunderte zu spät für den Exodus. Zudem liegt es weit abseits der biblischen Route, die als letzte Station vor Kadesch die Wüste Zin und die Stadt Etzion-Geber nennt, das heutige Aqaba. Tatächlich führt der alte Königweg von Aqaba aus über die Wüste des Wadi Rum nach Petra, die Entfernung beträgt 133 Kilometer oder fünf Tagesmärsche. Nach En-el-Qederat sind es 160 Kilometer Luftlinie, quer durch die Negev und über mehrere Gebirgszüge, ein völlig unsinniger Weg. Auch die Geographie stimmt nicht. Laut der Bibel lag Kadesch „an der Grenze des Landes Edom“ (4 Mos 33,37) nahe dem Königsweg; Moses ließ von dort aus den König von Edom fragen, ob sein Volk auf dem Königsweg weiter nach Norden ziehen dürfe und erhielt eine Absage (4 Mos 20, 14). Petra lag nahe der Grenze des bronzezeitlichen Edom, erst in der Eisenzeit drangen die Edomiter bis nach Etzion-Geber (Aqaba) vor.  Es gibt in En-el-Qederat zwei reichhaltige Quellen, keine davon entspringt einem Stein. Doch nicht nur die Mosesquelle weist Petra als das biblische Kadesch-Barnea aus, sondern auch das Aaron-Grab auf dem Berg Hor, der Bibel zufolge ebenfalls „an der Grenze des Landes Edom“ (4 Mos 20, 23) gelegen. Es gibt nur eine einzige Stätte im gesamten Osten, die als Grab des ersten Hohepriesters Israels verehrt wird, und die befindet sich ausgerechnet in Petra. Fünf Kilometer westlich der Mosesquelle wird das Tal der alten Nabatäerhauptstadt von einem mächtigen, zweistufigen Berg überragt, dem 1457 Meter hohen Jebel Harun (arab. Aaronsberg). Auf seinem Gipfel befindet sich eine kleine, weiß getünchte Moschee. Sie steht auf den Trümmern einer byzantinischen Pilgerkirche, die 1988 von einem finnischen Archäologenteam freigelegt wurde; hier fand man eine Scherbe, die mit dem Namen Aarons auf Griechisch beschriftet war. Damit steht fest, dass die Tradition vom Aaronsgrab und die Identifikation des Jebel Harun mit dem „Berg Hor“ aus vorislamischer Zeit stammen müssen.




Ich stehe frühmorgens auf und gehe die wenigen hundert Meter von meinem Hotel („Petra Palace“) zum Besucherzentrum von Petra. Ich zeige meinen „Jordan Pass“ und bekomme mein Ticket und einen Plan, bevor ich den Besucherströmen zum Siq folge. Das antike Petra liegt zwischen zwei Gebirgszügen, von denen der östliche durch einen tiefen, schmalen Spalt in zwei Hälften geteilt wird, den nördlichen Jebel al Khubta und den südlichen Jebel Attuf. Dieser gut zwei Kilometer lange Felsspalt, eine Verlängerung des Wadi Musa, war in der Antike wie auch heute der wichtigste Zugang nach Petra. In seine rostroten Felswände sind antike Gräber mit prachtvollen Fassaden gemeißelt, von denen das berühmteste das sogenannte „Schatzhaus des Pharaos“ ist (auch wenn es weder ein Schatzhaus war noch einen Bezug zu einem Pharao aufweist). Hier fand Indiana Jones im gleichnamigen Hollywood-Filmepos den Heiligen Gral. Am Ende des Siq muss sich der Besucher entscheiden, ob er den bequemen Weg durch die Ruinenstadt Petra wählt, sich das antike Theater, die Tempel und die gigantischen Fassaden der Königsgräber anschaut – oder ob er Lust auf ein Abenteuer hat. Ich entscheide mich für Letzteres und klettere hinauf auf den Jebel Attuf, vorbei an assyrisch anmutenden Grabfassaden, den ältesten der Stadt. Schweißgebadet und außer Atem, vorbei an wilden Hunden und Katzen, erreiche ich schließlich den Gipfel, auf dem mir zwei in Stein geschlagene Obelisken andeuten, dass hier einst ein heiliger Ort war.  Manche halten sie für Symbole des nabatäischen Götterpaares Dushara und Al Uzza, andere für Teile einer astronomischen Anlage, denn sie sind in exakter West-Ostachse ausgerichtet. Doch um mein Ziel zu erreichen, das benachbarte Plateau des Jebel Madhbah („Hohe Opferstätte“), muss ich einen Felsspalt überwinden und einen Felsen hinaufklettern, beides ohne auch nur halbwegs sportlich zu sein. Ich wage auch das und werde belohnt. Hier, in 1035 Metern Höhe, wurde der Berggipfel künstlich abgetragen und zu einer Opferstätte umgestaltet. Vor mir liegt ein vierzehn mal sechs Meter großes Becken, gut 40 Zentimeter tief, mit einem Steintisch in der Mitte, dieser zwei mal einen Meter groß. Er zeigt auf einen Steinaltar, zu dem drei Stufen führen. Links neben ihm befindet sich ein kreisrundes Opferbecken mit einem Abfluss, der wohl einst der Aufnahme des Blutes der Opfertiere diente. Es ist unklar, ob dieser Opferplatz von den Nabatäern stammt, die ihn mit Sicherheit (auch) nutzten oder von den Edomitern, die den gegenüberliegenden Hügel besiedelten. Ebenso gut aber kann er auch aus israelitischer Zeit stammen, wie Dr. Samuel Colby von der University of Maryland annimmt. Er vergleicht den Gebel Madhbah nicht nur mit den „Hohen Opferstätten“ des Alten Testamentes, sondern sieht in ihm mit seinen zwei Obelisken das Vorbild für den Salomonischen Tempel, der von zwei freistehenden Säulen („Jachin und Boas“) gesäumt wurde. Was mir zudem auffällt: Der Opferaltar, ja die gesamte Anlage ist exakt nach dem Jebel Harun ausgerichtet, dem Aaronsberg. Diente er dem Volke Israel während der 40 Jahre, die es in Kadesch-Barnea = Petra verbrachte, als Ersatz für den Gottesberg Horeb? Wurde deshalb Aaron auf seinem Gipfel bestattet? Oder wurde hier einst der nabatäische Stammesgott Dushara verehrt, dessen Name „Herr der Shara-Berge“ bedeutet, die im Alten Testament „Seir“ genannt werden? Doch auch das braucht kein Widerspruch zu sein, heißt es doch im 5. Buch des Pentateuch, im Segen des sterbenden Moses für sein Volk: „Der Herr zog vom Sinai daher und erstrahlte seinem Volk aus Seir…“ War also Jahwe der ursprüngliche „Herr der Seir-Berge“, Dushara nur einer seiner Titel?

Ich verbringe den ganzen Tag in Petra, lege 25 Kilometer auf steilen Bergpfaden zurück, stehe atemlos staunend vor dem Tempel-Kenotaph des Deir („Kloster“) und den phantastischen Fassaden der Königsgräber, füttere wilde Hunde mit Wurst aus einem Imbissstand und erlebe abends tausend Lichter vor dem Schatzhaus, während sich jede Minute, jeder Anblick, jedes Gefühl der Begeisterung tief in mein Herz einschreibt. 55 Länder der Erde durfte ich besuchen, ich war in Rom und Teotihuacan, in Nazca und Gizeh, in Karnak und auf der Akropolis, in Jerusalem und auf dem Nemrud Dagh - doch etwas so Überwältigendes, Atemberaubendes, Schönes wie Petra habe ich noch nirgendwo gesehen. Ich werde wiederkommen, das schwöre ich mir.



Am nächsten Tag heißt es Abschied nehmen von Petra, bleibt nur ein Gang durch das Museum, ein letzter Schluck aus der Mosesquelle und das obligatorische Foto vom Blick über das Tal. Dann heißt es „Aqaba, el-Aurance, Aqaba“, wie Omar Sharif in seiner Glanzrolle als Sherif Ali dem britischen Abenteurer und Geheimagenten Thomas Edward Lawrence zurief, in Sir David Leans epochalem Meisterwerk „Lawrence von Arabien“, einem der großartigsten Epen der Filmgeschichte. Mich hat diese Gestalt der Geschichte immer fasziniert, nicht nur, weil Lawrence mit Hilfe der Araber das Heilige Land von der Terrorherrschaft der Türken befreite (die bereits einen zweiten Völkermord an den jüdischen Siedlern planten), sondern auch weil er ein begeisterter Archäologe und begnadeter Schriftsteller war (sein Buch „The Seven Pillars of Wisdom“ ist Weltliteratur!).  Auf dem Weg nach Aqaba passieren wir das Wadi Ram, den Schauplatz des Hollywood-Filmepos, aber auch der authentischen Geschichte des Lawrence und zudem die „Wüste Zin“ aus dem Pentateuch, der Torah. Hier zog das Volk Israel entlang auf seinem Weg nach Kadesch-Barnea.

Wir halten an einer Autobahnraststätte und warten auf Yahia, einen waschechten Beduinen, der Führungen im Geländewagen anbietet. Mit Sabers Limousine ist die Fahrt durch die Wüste nicht möglich. Er ist pünktlich und fährt mich mit rasantem Tempo durch eine Marslandschaft. Mars-, nicht Mond, obwohl es bei den Arabern auch Wadi al-Qamar, Mondtal heißt, denn hier ist alles rostrot: Die Felsen, sogar der Sand. Die Amerikaner drehen hier regelmäßig, wenn ein Science-Fiction-Film auf dem Mars spielen soll, so bei „Red Planet“ (albern) und „The Martian“ (sehenswert). Lediglich der Himmel ist hellblau über dem Wadi Rum, aber dafür gibt es Filter!
Immer wieder halten wir an, um eine noch bizarrere Felsenformation in Augenschein zu nehmen oder uralte Petroglyphen zu untersuchen. Ich verstehe jetzt, was Lawrence gemeint hat, als er schrieb: „Die Wüste ist sauber“. Und ich entdeckte mich wieder in einem der berühmtesten Dialoge des Hollywood-Epos, von denen ich viele noch auswendig aufsagen kann: „You are one of those desert-loving English. No Arab loves the desert. The desert is nothing and no man needs nothing!” Die Wüste ist rein. Purste Naturgewalt. Eine Begegnung mit den Urkräften der Schöpfung. Der Tanzgrund Gottes. Kein Wunder, dass alle Propheten in die Wüste gingen, um Ihn dort zu finden.



Nach einer guten Stunde Fahrt und einer herzerwärmenden Begegnung mit einer Kamel-Mutterstute und ihren beiden Fohlen erreichen wir die „Sieben Säulen der Weisheit“, eine markante Felsformation, benannt nach Lawrences Buch. Dann liegt es vor mir, das berühmte Dreieck der Berge, des Jebel Ram (1734 m), des Jebel um-Ischrin (1733 m) und des kleineren Jebel Khazali (1420 m), der berühmt ist durch seine 100 Meter lange Schlucht, die einem riesigen Felsspalt gleicht. Hier inspizieren wir Petroglyphen und Inschriften in nabatäischer, thamudischer und arabischer Schrift. Zu Füßen des Jebel Ram, dort, wo die Nabatäersiedlung Iram lag, führt mich Yahia zu den Ruinen eines nabatäischen Tempels, der einst der Mondgöttin Allat (Kurzform von Al-ilahat = Die Göttin; Semitisch: Iram) geweiht war. Jetzt verstehe ich, weshalb die Araber den Wadi Ram auch „Mondtal“ nennen. Auch „Sin“ ist ein semitischer Begriff für den Mond, der sich im Namen der „Wüste Zin“ wiederzufinden scheint. Einige Autoren halten sogar den imposanten Jebel Khazali für den wahren Berg Sinai des Exodus. Tatsächlich vermittelt die Grandiosität dieser Landschaft etwas von der Größe Gottes. "Ich fühlte mich in meiner Geringfügigkeit beschämt" schrieb Thomas Edward Lawrence, als er zum ersten Mal den Wadi Rum betrat.

Nach gut zwei Stunden in der Wüste erwartet Saber mich an der Autobahn, dem einstigen Königsweg, der Straße des Volkes Israel. Vierzig Minuten später haben wir Akaba erreicht. Palmen und bunte Blumen säumen die Straße, die Sonne spiegelt sich im Roten Meer, im weichen Abendlicht erkenne den Badeort Eilat in Israel und die Berge von Taba in Ägypten, die Ostküste der Halbinsel Sinai. Hier warten weitere Geheimnisse des Exodus, auf beiden Seiten dieses jetzt goldenen Meeres. Doch mir bleibt gerade noch die Zeit, die Ruinen von Etzion Geber zu besuchen, dann muss ich zum Flughafen. Ich weiß, ich muss nach Jordanien zurückkehren, in dieses andere Heilige Land jenseits des Jordans!


TIPP: Für alle, die auf eigene Faust Jordanien erkunden wollen: Saber Badawi, mein Fahrer, macht Ihnen gerne ein Angebot. Sie finden ihn auf Facebook!

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