Michael Hesemann, Historiker und Autor
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Maria von Nazareth

Die historischen Hintergründe der marianischen Dogmen
von Michael Hesemann
 
Erlauben Sie mir, dass ich an dieser Stelle zunächst sieben Thesen zu Maria formuliere, die uns hinführen mögen zu der Kernfrage dieses Vortrags, der Frage nach dem historischen Hintergrund der marianischen Dogmen.
 
Meine erste These lautet: Gott offenbart sich in der Geschichte!

Die Menschwerdung Gottes war Teil eines größeren Planes zum Zweck unserer Erlösung, Teil einer göttlichen Heilsökonomie. Nur deshalb waren zu allen Zeiten Propheten und Seher in der Lage, die Ankunft des verheißenen Messias Jahrhunderte zuvor anzukündigen. Den ersten Hinweis darauf finden wir im 4. Buch Mose. Damals, zur Zeit des Exodus, als die Israeliten durch das Ostjordanland zogen, rief der König von Moab den Orakelpriester Bileam, Sohn des Beor, und bat ihn, die Migranten zu verfluchen. Dreimal nahm Bileam Anlauf, doch jedes Mal kamen ihm statt Flüche nur Segensworte über die Lippen. Als der König ihn fortschicken wollte, sprach Bileam seine Prophezeiung über das daherziehende Volk: „Ich sehe ihn, aber nicht jetzt, ich erblicke ihn, aber nicht in der Nähe: Ein Stern geht in Jakob auf, ein Zepter erhebt sich in Israel ... Aus Jakob steigt einer herab.“  (4 Mos 24, 17-19)

Er sah also, rund 1400 Jahre vor der Inkarnation, bereits die Mission dieses Auserwählten Volkes: aus ihm würde „einer, der herabsteigt“ hervorgehen, um sein Zepter zu ergreifen, ein Stern würde sein Kommen ankündigen.

Nun gingen aus dem Volk Israel bald eigene Propheten hervor, die vom Messias sprachen. Der wichtigste von ihnen  war Jesaja, der um 720 v.Chr. lebte. In seinem Buch sind u.a. diese Verse enthalten: „Aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb (nezer!) aus seinen Wurzeln bringt Freude.“ (Jes 11, 1-5); „Darum wird der Herr von sich aus ein Zeichen geben: Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, sie wird einen Sohn gebären und wird ihm den Namen Immanuel geben.“ (Jes 7, 14); „Die Herrschaft liegt auf seiner Schulter: Man nennt ihn: Wunderbarer Ratgeber, Starker Gott, Vater in Ewigkeit, Fürst des Friedens. Seine Herrschaft ist groß und der Friede hat kein Ende.“ (Jes 9, 5-6)

Doch nicht nur im Judentum finden wir die Ankündigung des Messias. Zarathustra war der Prophet der Perser, der Begründer des Mazdaismus, der um 500 v.Chr. in der alten medischen Königsstadt Ekbatana wirkte. Die Juden hielten ihn für einen Schüler des Propheten Daniel, persische Autoren bezeichneten Daniel als Schüler des Zarathustra; jedenfalls waren beide Zeitgenossen am Hofe des medischen Königs. Zarathustra verkündete nicht nur den höchsten Gott, den er Ahura Mazda nannte, sondern glaubte auch, dass in der Zukunft ein Heilbringer, der Saoshyant, geboren würde. Von ihm heißt es in seinen Schriften: „(Saoschyant) ist der Erwählte unter den Menschen, von dem das Urteil ausgeht von der Wahrheit selbst, über die Taten und guten Werke der Menschen, sein ist die Macht, die ihm anvertraut wurde von Ahura Mazda (Gott), der ihn zum Hirten der Armen beruft.“ Er werde die Toten auferwecken, das Böse besiegen und ein neues Zeitalter einleiten. Saoschyant, so Zarathustra weiter, würde von einer Jungfrau geboren,  wenn ein neuer Stern am Himmel erscheint. Nach ihm sollten seine Anhänger, zu denen bald auch Angehörige der medischen Priesterkaste, die Magawan (griech. Magoi) zählten, Ausschau halten.

Auch in der anderen antiken Großmacht, in Rom, erwartete man kurz vor der Zeitenwende den Anbruch eines neuen, messianischen Zeitalters. Diese Erwartung, der sich die augusteische Propaganda geradezu schamlos bediente, geht zurück auf die Bücher der Sibyllen, der altrömischen Seherinnen, die Vergil, der Hofdichter des Augustus, in seiner vierten Ekloge zitiert: „Der große Kreislauf der Zeitalter wird von neuem geboren; schon kehrt die Jungfrau, kehrt die Herrschaft des Saturn zurück; schon wird ein neuer Nachkomme aus den Höhen des Himmels gesandt; sei du nur dem neugeborenen Jungen günstig, durch den das eiserne Zeitalter endet und sich in der ganzen Welt ein goldenes Zeitalter erhebt.“
Auf dem Wissen um diese messianische Erwartung zur Zeit des Augustus basiert die Gründungslegende der Kirche S. Maria in Aracoeli in Rom. Danach habe Kaiser Augustus einen Traum gehabt von der Geburt eines Knaben durch eine Jungfrau, die ihm eine der Sibyllen, die Tiburtinische Sibylle, deutete: Es sei der Sohn Gottes, der vom Himmel herabsteigen und durch eine Jungfrau geboren würde. Ihm weihte der Kaiser, so die Legende, auf der Kuppe des Kapitolshügels den „Himmelsaltar“.

Diese Legende hat einen wahren Kern. Nicht ein Traum, sondern das Wissen um die sibyllinische Prophezeiung trieb Augustus an, sich selbst den Römern als der erwartete Heilbringer zu präsentieren. Zugute kam ihm der Halley’sche Komet, der am Himmel stand, als Cäsars Leichnam öffentlich verbrannt wurde. Augustus erklärte ihn zur Seele Cäsars, die jetzt in den Himmel aufsteige, um zum Gott, zum Divus Iulius, zu werden, wie es auf Münzen heißt, die er in Erinnerung an dieses Ereignis prägen ließ. Er selbst aber, den Cäsar adoptiert hatte, bezeichnete sich fortan als filius divi, als „Sohn des Göttlichen“, woraus im Griechischen schnell „Sohn Gottes“ wurde. Teil der augusteischen Propaganda vom Neuen Zeitalter war der 9 v.Chr. eingeweihte Ara Pacis Augustae, der „Altar des augusteischen Friedens“, auch wenn dieser nicht auf dem Kapitol, sondern nördlich davon lag. Sein berühmtes Relief von der Frau, die mit zwei Knaben spielte – Symbol für das Zeitalter des Friedens und Wohlstands – inspirierte später Raphael zu seinen Darstellungen Mariens mit dem Jesus- und dem Johannesknaben. Die Priene-Inschrift, in Kleinasien gefunden, aus dem Jahre 9 v.Chr.  bedient sich eines geradezu weihnachtlichen Vokabulars, auch wenn sie sich auf Augustus, nicht auf Jesus, bezog: „Der Geburtstag des Göttlichen bedeutet für die ganze Welt den Beginn seiner Frohbotschaften (euangelia) ... Er ist uns und den kommenden Geschlechtern als Heiland (soter) gesandt.“

Doch so befremdlich die Anmaßung des Kaisers auf uns auch wirken mag, so zeigt sie doch, wie stark die messianische Erwartung in den Jahrzehnten vor Christi Geburt auch bei den Heiden war. Ein Ruf nach Erlösung, ein „tauet, Himmel, den Gerechten“ lag in der Luft, nicht nur in den bangen Nächten Israels, sondern auf dem gesamten Erdkreis. Diese Stimmung machte sich die politische Propaganda des Augustus clever zunutze. Doch auch der Kaiser war nur ein Werkzeug der Göttlichen Vorsehung, ein Wegbereiter der Menschwerdung. Es gelang ihm, einen Großteil der antiken Welt unter dem Banner Roms zu vereinen, womit er die erste globalisierte Gesellschaft der Geschichte auch politisch einte. Die augusteische Friedenszeit wurde genutzt, um eine Infrastruktur aufzubauen: an erster Stelle ein Straßennetz, das alle Teile der römischen Welt miteinander verband, das erstmals sicheres Reisen ermöglichte. In dieser jetzt vernetzten Welt gab es eine Sprache, die alle verstanden: Koiné-Griechisch, eine einfache Form des Griechischen, die überall im Reich gesprochen wurde; Latein war allein die Sprache der Verwaltung. Damit aber wurden erst die Bedingungen geschaffen, um das wahre Evangelium effizient zu verbreiten. Die vier Evangelien waren in Koiné-Griechisch verfasst, auf den Römerstraßen wurden sie in alle Welt verbreitet. Kein anderer Zeitpunkt der Geschichte war so gut dafür geeignet. Ein Jahrhundert früher wäre das Christentum eine jüdische Sekte geblieben, hätte es nie den „Rest der Welt“ erreicht. Ein Jahrhundert später war Jerusalem längst zerstört, fehlte dieser Ur-Sitz und Nährboden der jüdischen Kultur, aus dem die Kirche am Pfingstmorgen geboren wurde. So wurde der Kaiser ungewollt zum ersten Wegbereiter des Evangeliums.

Der zweite war ausgerechnet Herodes der Große, den die Evangelien nur als Schurken erwähnen. Tatsächlich war er in seinen letzten Jahren ein grausamer, paranoider Tyrann. Doch zu Anfang seiner Herrschaft zeichnete er sich an erster Stelle durch politische Geschicklichkeit und Weitsicht aus. Als Vasall Roms dockte er Judäa an die globale Gesellschaft der Weltmacht an und holte es aus seiner Isolation. Durch geschickte Handelspolitik häufte er Reichtümer an, die das Land zum „Dubai der Antike“, zum Boomstaat, machten. So baute er nicht nur mächtige Festungen und die prachtvollsten Paläste seiner Zeit, sondern auch den Hafen Caesarea, der fortan Judäas Tor zur Welt wurde. Vor allem aber schenkte er den Juden den neuen Tempel, der als großartigstes Gebäude seiner Zeit galt. Das führte zu einem gigantischen Image-Gewinn. Jüdische Handelskolonien entstanden überall im Reich, das Judentum war plötzlich interessant geworden, auch Heiden strömten aus Neugierde in die Synagogen – ein Umstand, den die Apostel Jesu später nutzten. Der Tempel war aber auch des Herodes Liebeswerben um sein Volk. Denn bei konservativen Juden galt der Sohn eines judaisierten Idumäers und einer heidnischen Nabatäerin als Usurpator, als illegitimer König. Um dem zu kontern, gab er sich prachtvoller als Salomon, bemühte sich, den legendären Tempelerbauer in jeder Hinsicht zu übertreffen. Er wollte sich seinem Volk als der wahre Messias offenbaren, auf den es so lange gewartet hatte. Der jüdischen Tradition nach würde der Messias kommen, wenn der dritte Tempel erbaut würde. Und dieses „Zeichen“, so glaubte er, würde jetzt auf ihn verweisen. Tatsächlich war der erste Tempel der des Salomon, der zweite wurde nach der Rückkehr der Juden aus der babylonischen Gefangenschaft errichtet. Also war der Tempel des Herodes de facto der Dritte, auch wenn heutige Juden von der Second Temple Period sprechen und es so darstellen, als habe Herodes den zweiten Tempel nur renoviert. Das hat er wohl nicht. Doch ist es ein Zufall, dass exakt in dem Jahr, als Herodes den Tempelneubau ankündigte, 19 v.Chr., Joachim und Anna ihre Tochter verheißen wurde? Das Allerheiligste des herodianischen Tempels war jedenfalls leer. Die Bundeslade, der Gnadensitz Gottes auf Erden, war längst verschwunden; keiner weiß sicher, wann und wohin. Stattdessen erwählte sich Gott für seine Menschwerdung einen anderen Tempel, den Leib Mariens, deren Schoß damit zur neuen Bundeslade wurde.

These 2:
Maria ist die Tochter Zion, die Verkörperung Israels, die Frucht des Alten Bundes, aus dem der Neue Bund geboren wurde.


Was wissen wir wirklich über Marias Herkunft? Von Jesus wissen wir, dass er aus dem Hause Davids stammt, aber die Evangelien sind unklar in der Frage, ob biologisch – also über seine Mutter – oder juristisch – also über seinen Stiefvater Joseph. Deutlich wird nur Paulus, der im Römerbrief (1,3) feststellt, Jesus sei „dem Fleische nach geboren als Nachkomme Davids“. „Dem Fleische nach“ kann nur heißen: durch Maria. Stammte die Gottesmutter also auch „aus dem Stamme Davids“? Genau das behauptet eine apokryphe Quelle, die im judenchristlichen Millieu um 150 n.Chr, entstand, das Protevangelium. Es erhebt den Anspruch, auf den „Herrenbruder“ Jakobus zurückzugehen, von dem unklar ist, ob er ein Sohn Josephs aus erster Ehe (wie die Orthodoxie behauptet) oder ein Cousin Jesu (das ist die katholische Meinung) war. Auch Ignatius von Antiochien (+ 117), immerhin ein Schüler des Evangelisten Johannes, lehrte, Jesus sei „im Schoße von Maria ... aus dem Samen Davids“ geworden, und Justin der Märtyrer (+ 165), der aus Palästina stammte, war noch eindeutiger: Maria stamme „aus dem Geschlechte Davids“. Der gewöhnlich gut informierte Eutychius von Alexandria berief sich auf ältere Quellen, als er dezidiert feststellte: „Marias Vater war Joachim, der Sohn des Binthir, von den Söhnen Davids“. Maria entstammte also der alten jüdischen Königsfamilie der Davididen.
Das erwähnte Protevangelium erzählt die Geschichte der Geburt Mariens. Danach waren Joachim, ein Viehzüchter, und seine Frau Anna ein älteres Ehepaar, das sein Leben lang kinderlos geblieben war. Nach einer Konfrontation im Tempel zog Joachim sich in die Wüste zurück und betete zum Herrn um ein Kind. Schließlich erschien ihm ein Engel, der ihn wissen ließ, dass seine Gebete erhört seien. Auch seiner Frau Anna, die in Jerusalem geblieben war, verkündete ein Engel, dass sie bald schwanger werden würde.
Der Ort, an dem Joachim nach einer lokalen Tradition Zuflucht gesucht hatte, ist interessant. Es sind die Höhlen von Kosiba am Hang eines Wadis zwischen Jerusalem und Jericho, wo heute das Georgskloster diese Tradition bewahrt. Doch diese Höhlen haben eine viel längere Geschichte. Glauben wir der Kupferrolle von Qumran, so waren sie auch eine Eremitage der Essenergemeinschaft vom Toten Meer, jener strenggläubigen Juden, die in Erwartung des Messias und des kommenden Gottesreiches lebten.

Das wäre vielleicht noch ein Zufall, wenn die Kupferrolle – eine Liste essenischer Häuser und Einrichtungen, in denen man die Schätze des Ordens versteckt hatte – nicht auch ein Haus am Schaftor gleich neben dem „Haus des Doppelbeckens“, dem Bethesda-Teich, erwähnt, das gegen 66 n.Chr. der Gemeinschaft gehörte. Eben dort verehren Katholiken wie Orthodoxe das Haus, in dem Maria geboren wurde. Über seinen Kellerräumen erheben sich heute zwei Kirchen, die St. Anna-Kirche der Kreuzritter und ein griechisch-orthodoxes Kloster. Haben Joachim und Anna ihr Haus vielleicht der Essenergemeinschaft vererbt? Hatten sie Kontakt zu der traditionsbewußten Gemeinschaft von Qumran?

Mariens Eltern, so das Protevangelium, waren so glücklich über das verheißene Kind, dass sie ein Gelübde ablegten, es dem Tempel zu überantworten. So wurde Maria mit drei Jahren tatsächlich in den Tempel geführt, wo sie unter Obhut ihres Onkels Zacharias aufwuchs. Mit zwölf, vor ihrer Geschlechtsreife, wurde sie mit einem Davididen, dem Witwer Joseph verlobt.

Dieser „Tempelgang“ galt lange als Indiz gegen die Authentizität des Protevangeliums. Im Judentum, so glaubte man, gäbe es keine „Tempeljungfrauen“. Da hätten heidnische Institutionen wie etwa die vestalischen Jungfrauen Roms Pate gestanden. Doch mittlerweile weiß man es besser. Die Schriftrollen, die man 1947 am Toten Meer fand, kannten sehr wohl den Mädchendienst im Tempel. Auch im Alten Testament ist er bezeugt. Schon das Buch Exodus spricht von: „Frauen, die am Eingang des Offenbarungszeltes Dienst taten“ (2 Mos 38,8) und auch in 1 Samuel 2,22 („dass sie mit den Frauen schliefen, die sich am Eingang des Offenbarungszeltes aufhielten“) ist von einem Jungfrauendienst am Bundeszelt, dem Vorläufer des Tempels, die Rede. Als Davididin aber, die unter der Obhut eines Tempelpriesters, also eines Aaroniten, aufwuchs, vereinte Maria die königliche und die priesterliche Tradition Israels in sich. Sie war die Tochter Zion, die Frucht des Alten Bundes.

These 3:
Maria war tatsächlich „immerwährende Jungfrau“

Die historisch-kritische Exegese behauptet, der Evangelist Matthäus habe sich die Jungfräulichkeit Mariens quasi ausgedacht, weil er Jesaja 7,14 für eine Prophezeiung vom Messias hielt und ihm der Text nur in griechischer Übersetzung (der Septuaginta) vorlag. Dabei sei im Hebräischen Originaltext nur von einer „jungen Frau“ die Rede gewesen. Nun steht wirklich bei Jesaja das Wort almah, das in der Septuaginta als parthenos übersetzt wird. Geht also der Glaube an die Jungfräulichkeit Mariens auf einen simplen Übersetzungsfehler zurück?

Tatsächlich gibt im Hebräischen drei Begriffe für Frauen: Eine betulah ist ein nicht geschlechtsreifes Mädchen und damit natürlich immer eine Jungfrau. Eine almah ist ein gerade geschlechtsreifes Mädchen ab etwa zwölf Jahren, das, so war es Brauch im Judentum, innerhalb eines halben Jahres verlobt und dann innerhalb von zwölf Monaten verheiratet wurde. Da auch im Judentum die Keuschheit vor der Ehe erwartet wurde, war eine almah in der Regel eine Jungfrau. Nach der Ehe wurde sie zur issa, der verheirateten Frau; ihre Jungfräulichkeit endete gewöhnlich in der Hochzeitsnacht.

Jesaja benutzte also das Wort Almah. Und die Übersetzer der Septuaginta hatten ihre guten Gründe, es als parthenos zu übersetzen, da der Prophet doch von einem besonderen „Zeichen“ des Herrn sprach. Nun ist es gewiss eine Gnade, aber doch kein besonderes Zeichen Gottes, wenn eine verheiratete Frau ein Kind bekommt; das geschieht jeden Tag, ja jede Minute auf dieser Erde. Es ist auch nicht gerade göttliche Gnade, wenn eine unverheiratete Frau durch Vergewaltigung oder Sünde schon vor der Ehe schwanger wird, auch das kann der Prophet mit dem „Zeichen“ also nicht gemeint haben. Außerdem wird der prophezeite Immanuel augenscheinlich mit den Attributen Gottes beschrieben: „Sein“ ist Israel, das doch sonst als „Land des Herrn“ galt, er wird „Starker Gott“ und „Vater in Ewigkeit“ genannt! In der heidnischen Welt wurden Kaiser und Könige als Götter verehrt , doch nie im Judentum; da galt der König lediglich als Statthalter des wahren Herrn, nämlich Gottes. Also kann Jesaja nicht einmal an eine schwangere Prinzessin gedacht haben. Er konnte nur gemeint haben, dass die almah, dieses verlobte aber noch jungfräuliche Mädchen, Gott selbst, der Mensch wurde, zur Welt bringen würde. Damit aber gilt: Wenn Maria tatsächlich Jungfrau war, hat Matthäus die Prophezeiung zurecht auf sie bezogen!

Nun ist die Jungfräulichkeit Mariens gewiss keine „Erfindung“ des Matthäus, denn wir finden Hinweise darauf in allen vier Evangelien.  Markus etwa, der bekanntlich vor Matthäus schrieb, nennt Jesus „Sohn der Maria“ (Mk 6,3). Damit ist Jesus so ungefähr der einzige Jude der Geschichte, den man nach seiner Mutter benannte, statt, wie üblich nach dem Vater. Auch bei Lukas hat Maria „keinen Mann erkannt“ (Lk 1,34) und in einer frühen Lesart des Johannes-Evangeliums heißt es, Jesus sei „nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren.“ (Joh 1,13)

Den entscheidenden Beweis aber für Marias Jungfräulichkeit – nicht nur zum Zeitpunkt der Verkündigung, sondern auch während und nach der Geburt des Herrn - finden wir in ihrer Antwort auf die Verkündigung des Engels. Sie lautet ganz pauschal: „Wie kann das geschehen, da ich keinen Mann erkenne?“ (Lk 1,34) Dabei wäre es das Normalste auf der Welt gewesen: Maria war verlobt, sie würde bald heiraten, und natürlich würde sie dann Kinder empfangen, denkt man an dieser Stelle doch. Aber nein, Maria sagt nicht etwa „da ich noch keinen Mann erkannt habe“, sie schließt jeden Beischlaf kategorisch aus: „da ich keinen Mann erkenne“ – nicht morgen und nicht in einem Jahr. Nie! Was wiederum nur bedeuten kann, dass Maria zu diesem Zeitpunkt bereits ein Keuschheitsgelübde abgelegt hatte.

Aber hatte denn Jesus keine jüngeren Geschwister? Heißt es nicht etwa im Markus-Evangelium ausdrücklich: „Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder des Jakobus, Joses, Judas und Simon? Leben nicht seine Schwestern hier unter uns?“ (Mk 6,3) Allerdings: das hebräische Wort für „Brüder“, achim, bezeichnet auch Cousins ... und in Mk 15,40 werden gerade Jakobus und Joses explizit als Söhne einer anderen Maria, der „Schwester“ (natürlich Cousine oder Schwägerin) der Gottesmutter, bezeichnet; ihr Mann hieß Klopas (lt. Joh 19,25).

Dass Maria keine anderen Kinder hatte, zeigt auch die Szene unter dem Kreuz, die uns Johannes 19,26-27 überliefert: „Als Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er liebte, sagte er zu seiner Mutter: Frau, siehe dein Sohn! Dann sagte er zu dem Jünger: Siehe, deine Mutter! Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.“ Nach jüdischem Recht hatte der älteste Sohn nach dem Tod des Vaters für die Mutter zu sorgen. Stirbt er vorzeitig, ging diese Pflicht automatisch an den zweitältesten Sohn über. Einen Dritten damit zu beauftragen, wäre ein Affront gegen den eigenen Bruder gewesen. Das hätte nicht zu Jesus gepasst. Außerdem: Auch in der Erzählung von der Wallfahrt des Zwölfjährigen mit seinen Eltern zum Tempel, von der uns Lukas berichtet, ist nur von einer Kleinfamilie – Stiefvater, Mutter, ein Kind – die Rede. Ebenso bei der Hochzeit zu Kana, als der hl. Joseph wohl schon verstorben war; er wird jedenfalls nirgendwo mehr erwähnt.

Aber war denn eine Frau, die ein Keuschheitsgelübde ablegt, im jüdischen Kontext überhaupt denkbar? Gilt den Juden nicht das Urgebot Gottes, „so werdet fruchtbar und vermehrt euch“ (1 Mos 9, 7) , als Verpflichtung? Keineswegs zur Zeit Jesu, wie wir den Schriftrollen vom Toten Meer entnehmen. Bei den Essenern gab es den Zölibat und gab es keusch lebende Männer und Frauen. Auch im allgemeinen Judentum gab es „Gottgeweihte“, die ein „Nasiräat“,  ein zeitlich begrenztes oder unbegrenztes Enthaltsamkeitsgelübde, abgelegt hatten. Und das galt ausdrücklich auch für verheiratete Frauen, wie wir in 4 Mos 30, 4-8, also in der Torah, lesen: „Heiratet (eine Frau) einen Mann, während sie durch ein Gelübde gebunden ist, dann bleiben die Gelübde oder die Enthaltung, zu der sie sich verpflichtet hat, in Kraft, falls ihr Mann an dem Tag, an dem er davon erfährt, schweigt.“ Fast gleichlautend finden wir diese Torastelle auch in der „Tempelrolle“ der Essener, wo noch konkreter vom „Schwur der Enthaltung“ die Rede ist und was belegt, wie aktuell dieses Lebensmodell im ersten vorchristlichen Jahrhundert noch (oder wieder) war. So sind sich alle Quellen, die wir über die Essener haben, einig, dass es in dieser Gemeinschaft zur Zeit Jesu auch keusch lebende Ehepaare gab! Damit ist die „Josefsehe“ und die immerwährende Jungfräulichkeit Mariens in diesem historischen Kontext mehr als plausibel.

These 4:
Maria war vielleicht arm, aber gebildet

Der sel. Kardinal John Henry Newman (1801-90) schrieb in “Maria im Heilsplan”:
„Es würde nicht genügen, um den Gedanken, dass Gott Mensch ist, zum Ausdruck zu bringen und ihn uns einzuprägen, wenn Seine Mutter eine ganz gewöhnliche Frau gewesen wäre. Eine Mutter, die in der Kirche kein Heimatrecht hätte, ohne Würde, ohne besondere Gaben, wäre, in Hinblick auf die Menschwerdung, überhaupt keine Mutter. Sie hätte sich nicht im Gedächtnis und in der Vorstellung der Menschen erhalten können. Wenn sie das Wort: ‚Gott ist Mensch geworden‘, bezeugen und in Erinnerung bringen soll, muss sie zu diesem Zweck eine hohe und überragende Stellung einnehmen. Wenn sie eine Lehre erteilen soll, muss diese auch imstande sein, den Geist der Menschheit zu beschäftigen. Wenn Maria unsere Aufmerksamkeit erregt, dann, aber auch nur dann, beginnt sie, Jesus zu verkünden. Wir fragen vielleicht: ‚Warum soll sie eine solche Sonderstellung haben?‘ Die Antwort lautet: ‚Weil Er Gott ist.‘“

Kardinal Newman verteidigte mit diesen Zeilen die katholische Marienverehrung vor protestantischer Kritik. Doch mit der gleichen Begründung kann ich mir nicht vorstellen, dass Maria  bloß ein einfaches Landmädchen gewesen ist, wie es manchmal heißt. Ich bin überzeugt, dass sie schon vor ihrer Geburt von der göttlichen Vorsehung auserwählt und aufs Beste vorbereitet wurde auf ihre große Aufgabe, Werkzeug der Menschwerdung Gottes zu sein. Wie gesagt: Wir lesen im Protevangelium, dass sie „aus gutem Hause“ stammte, ja aus dem besten, dem Königshaus Israels, den Davididen. Über ihre Mutter Anna war sie zudem Aaronitin, entstammte „zur Hälfte“ dem Priestergeschlecht Israels. Dass sie im Tempel unter der Obhut der Priester aufgezogen wurde, dass sie ein Keuschheitsgelübde abgelegt hatte, diente alles ihrer Heiligung. Sie war die neue Eva, vorab erlöst und unbefleckt empfangen, und diese Reinheit konnte sie ihr Leben lang erhalten. So, nur so war es möglich, dass sie ihrem Sohn, dem Sohn Gottes, eine gute Mutter sein, ihn auf seine Aufgaben optimal vorbereiten konnte.

Lesen wir das Magnificat im Lukas-Evangelium, so erstaunt zunächst einmal das profunde theologische Wissen und die Kenntnis der heiligen Schrift, die sich dahinter verbergen. Das ist kein Beweis gegen die Authentizität dieser Überlieferung, im Gegenteil. Maria kann sehr wohl hoch gebildet gewesen sein. Einige Rabbiner zur Zeit Jesu schätzten religiös gebildete Frauen sehr wohl. Auch der Essenergemeinschaft gehörten gottgeweihte Frauen an, die freilich nie alleine lebten, sondern einem ebenfalls keusch lebenden Mann anvertraut wurden; Frauen hatten im Judentum stark eingeschränkte Rechte und brauchten einen Mann als „Vormund“.

Das dritte Indiz nach ihrer Abstammung und dem „Magnificat“ ist Nazareth selbst. Immer mehr deutet darauf hin, dass es eben nicht ein „ordinäres galiläisches Bergdorf“, sondern viel mehr war: Eine Kolonie exilierter Davididen, die als rivalisierende Thronprätendanten gleich nach Eroberung der  Nordgebiete durch die Hasmonäer im 1. Jh. v.Chr. nach Galiläa „verbannt“ wurden. Dafür spricht schon der Name, der auf Hebräisch „Sproßdorf“ lautet und auf die Davididensippe als „Sproß Isais“ hindeutet. Tatsächlich bezeugt Julius Africanus, dass noch im 3. Jahrhundert Davididen in Nazareth lebten. So verwundert kaum, dass unter dem Konvent der Nazarethschwestern ein Felsengrab mit Rollstein gefunden wurde, das eher an die Königs- und Hochgestelltengräber Jerusalems erinnert als an die üblichen Grabstätten galiläischer Dörfer. Unter der Verkündigungsbasilika gruben Archäologen in den 1960er Jahren die Überreste eines ausgedehnten Landgutes mit Ställen, Zisternen, Öl- und Weinkeltern, Backöfen und Werkstätten, aber auch zwei Mikwen, aus. Die Heilige Familie lebte zwar ländlich-bescheiden, aber keineswegs armselig und vor allem tief fromm. Maria könnte sogar Landbesitz geerbt haben.

Das jedenfalls wäre die einzig plausible Erklärung für die Reise der Hochschwangeren nach Bethlehem zur Steuerschätzung. Die Römer kannten nämlich zwei Steuern, Kopf- und Grundsteuer. Die Kopfsteuer konnte man entrichten, wo man lebte. Kam aber die Grundsteuer hinzu, war man Landbesitzer, dann musste man an jenen Ort ziehen, wo der Landbesitz lag, und dort seine Steuern entrichten. Da Maria zum fraglichen Zeitpunkt noch nicht verheiratet war, hätte Joseph sie in Nazareth bei seinen Verwandten zurücklassen können, wäre er der Landbesitzer gewesen. Da er jedoch als tekton, also als Bauhandwerker arbeitete, kann dies wohl ausgeschlossen werden. Dass beide den dreitägigen Fußweg antraten, kann nur bedeuten, dass Maria die Landerbin war. Tatsächlich lesen wir im Protevangelium, dass ihr Vater Joachim ein wohlhabender Viehzüchter war, der Schafe aus seinen Herden in Jerusalem an die Pilger verkaufte, die im Tempel ihr Opfer darbringen wollten. Er muss also Weideland besessen haben; als Davidide wohl sogar in Bethlehem, dem Stammsitz seiner Sippe.

Nach der Tora ist eine Einzeltochter erbberechtigt, muss aber einen Mann aus der gleichen Sippe heiraten, der dann offiziell von ihrem Vater adoptiert wurde. Das lässt uns natürlich fragen, ob dies der Grund dafür sein könnte, dass beide, Maria und Joseph, Davididen waren. Darauf gibt es einen deutlichen Hinweis in den Evangelien nach Matthäus und Lukas, der freilich von den Exegeten gerne ignoriert wird: Die beiden unterschiedlichen Stammbäume Jesu.

Sie dienen skeptischen Exegeten eher als Beweis, dass die „Kindheitsgeschichten“ fabriziert sind. Wenn die Evangelisten sich nicht mal im Stammbaum Jesu einig sind, wie glaubwürdig kann dann die Tradition sein, auf die sie sich berufen? Dabei muss man die beiden Stammbäume nur richtig lesen, um sie zu verstehen. Matthäus, dessen Evangelium ohnehin die Menschwerdung Gottes aus der Perspektive des hl. Joseph schildert, liefert dabei zweifellos den biologischen Stammbaum des Stiefvaters Jesu, wie das Verb „zeugte“ verrät. Am Ende (1,16) heißt es dann auch: „Jakob zeugte Josef, den Mann Marias, von der Jesus geboren wurde, der Christus genannt wird“. Damit ist der biologische Stammbaum Josephs zugleich der juristische Stammbaum seines Adoptivsohns Jesus.

Anders ist es bei Lukas (3,23-38), der ganz andere Namen nennt, dabei aber auf den biologischen Terminus des „Zeugens“ verzichtet. Danach hieße der Vater Josefs Eli. Und da müssen wir aufhorchen. Denn Eli ist die Kurzform des Hebräischen Eliachim, griech. Joachim, und so hieß bekanntlich der Vater Mariens. Wenn er hier als „Vorfahre Josephs“ genannt wird, dann kann das nur bedeuten, dass er rein formaljuristisch eben dieses war, dass er Joseph pro forma adoptiert hatte, damit Maria, sein einziges Kind, ihr Erbe antreten konnte. Maria war also eine „Erbtochter“ und Lukas zitiert hier den juristischen Stammbaum des hl. Joseph, aber den biologischen Stammbaum Mariens und Jesu!

These 5:
Die Kindheitsgeschichte Jesu ist historisch zuverlässig. Sie beruht auf den Erinnerungen Mariens.

Solche Details, die tief im Judentum verwurzelt sind und gleichermaßen Zeitgeist wie Lokalkolorit „atmen“, lassen uns erahnen, dass die Evangelien nach Matthäus und Lukas in ihren Schilderungen der Menschwerdung sehr wohl historische Glaubwürdigkeit beanspruchen können. Sie sind in vielerlei Hinsicht plausibel. Die „Quellenangabe“ des Lukas, „Seine Mutter bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen“ (Lk 2,51), dass also zumindest sein Bericht auf Erinnerungen Mariens basiert, kann also nicht so einfach von der Hand gewiesen werden.

Tatsache jedenfalls ist, wie ich in meinem Buch „Maria von Nazareth“ (Augsburg 2011) dezidiert belege:
  • Es fanden unter Augustus auch in Vasallenkönigreichen Steuerschätzungen statt, so 7 und 6 v.Chr. in Nachbargebieten Judäas, etwa im Nabatäerreich oder der freien Stadt Apamea.
  • Damals war Saturninus Statthalter von Syrien, aber Quirinius Oberbefehlshaber im Osten und als solcher für die Steuerschätzungen in den Vasallenkönigreichen zuständig. Tatsächlich wird er im Lukas-Ev auch nicht als Statthalter (hegemon), sondern als „hegemoneuon“ bezeichnet, also historisch korrekt als „Oberbefehlshaber“ der römischen Truppen, die in Syrien stationiert waren; dieses Amt übte er von 12-2 v.Chr. aus.
  • Zur Steuerschätzung musste, wie gesagt, jeder dorthin, wo er Landbesitz hatte, Männer begleiteten als Vormund ihre Frauen.
  • Im März 5 v.Chr. erstrahlte eine Supernova im Sternbild Adler, die bis Ende Mai sichtbar war.
  • Sie könnte von den Magern als Stern des Saoschyant gedeutet worden sein (Adler = Symbol des Ahura Mazda). Von Jerusalem aus liegt Bethlehem im Süden, dort, wo diese Supernova Mitte Mai 5 v.Chr stand. Wenn die Magi tatsächlich, nach etwa 40-50tägiger Reise aus der Region Ekbatana, frühmorgens in Jerusalem aufgebrochen sind, muss der Stern direkt vor ihnen gestanden haben und nach einstündigem Fußweg (6 km!) hinter den Häusern Bethlehems untergegangen sein.
Das ganze Szenario von Lukas und Matthäus ist also, soweit überprüfbar, durchaus historisch plausibel!
Zudem sprechen starke und schon früh bezeugte Lokaltraditionen für die Geburt Jesu in Bethlehem. So wird seit dem 4. Jahrhundert „Mariä Rast“ auf dem Weg von Jerusalem nach Bethlehem verehrt; lt. dem Protevangelium soll Maria hier gewartet haben, als Joseph nach einer Unterkunft suchte.

Seit ca. 130 ist die Verehrung der Geburtsgrotte bezeugt. Justin der Märtyrer (ca. 130) erwähnt sie, Hadrian paganisierte sie 135 durch ein Attis-Heiligtum, Origenes weiß um 200: „Was da gezeigt wird, ist in der Gegend jedermann bekannt. Selbst die Heiden sagen es jedem, der es hören will, dass in der besagten Höhle ein gewisser Jesus geboren wurde.“

Trotzdem behaupten die Kritiker, Bethlehem als Geburtsort sei eine Erfindung der Evangelisten. Da man um jeden Preis Jesus als Messias „verkaufen“ wollte, der Messias aber nach jüdischem Glauben aus dem Hause Davids stammen müsste, habe man ihm „auf Biegen und Brechen“ eine davidische Identität verpasst und seine Geburt in die Davidstadt Bethlehem verlegt.

Doch erst heutige Theologen zweifeln an der Abstammung Jesu aus dem Hause David. Für seine Zeitgenossen dagegen, für seine Anhänger wie Gegner, war sie eine Realität. Jesus wurde von Pilatus zum Tod am Kreuz verurteilt, was die übliche Strafe für Hochverrat ist, weil er als ein nicht von Rom eingesetzter Thronprätendent galt. „Jesus von Nazareth, König der Juden“ stand als Grund für seine Hinrichtung auf dem titulus Crucis. Auch nach dem frühesten christlichen Zeugnis, den Paulusbriefen, entstammte er dem Hause Davids.

Der letzte der „Herrenbrüder“, Simon oder Symeon, wurde 107 von Kaiser Trajan gekreuzigt, weil er aus der Königsfamilie der Davididen stammte. Laut Julius Africanus (um 200) gingen die„Herrenverwandten“ danach nach Nazareth zurück, wo sie ihre Stammtafeln hüteten. Die Enkel eines anderen „Herrenbruders“, des Judas, wurden unter Domitian vor Gericht gestellt, wieder weil sie Davididen und damit potenzielle Thronprätendenten waren. Für die römischen Richter bestand daher nie ein Zweifel an der Abstammung Jesu aus dem Königsgeschlecht.

Wenn Jesus aber tatsächlich aus dem Hause Davids stammte, dann war Maria kein simples Dorfmädchen, sondern Tochter einer alten, traditionsbewussten Familie. Dann hatte die Heilige Familie jeden Grund, zur Steuerschätzung nach Bethlehem zu reisen. Dann wurde sie von Kreisen unterstützt, die einen priesterlichen Messias aus Aaron und einen königlichen Messias aus David erwarteten wie etwa den Essenern. Und dann ist die „Kindheitsgeschichte“ auch plausibel!

These 6:
Die Mariendogmen basieren auf gesicherter Überlieferung.

Die Kirche hat die Rolle Mariens in der Heilsgeschichte in vier Dogmen definiert:
431, Konzil von Ephesus: Maria ist „Gottesgebärerin“ (theotokos).
 649, Lateransynode (zuvor in Konstantinopel für die Ostkirche): Maria ist die „Allzeit Jungfräuliche“ – sie war jungfräulich vor, während und nach der Geburt Jesu.
1854, Rom: Maria wurde unbefleckt (also vorab von der Erbsünde erlöst) empfangen.
1950, Rom: Maria wurde „mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen“.

Tatsächlich ist Mariens Rolle im Heilsgeschehen nicht genug zu preisen. Ohne ihr Fiat, ihr Einverständnis in den göttlichen Heilsplan, wäre die Menschwerdung Gottes, wäre unsere Erlösung, nie möglich gewesen.
Zudem war Maria an den Eckpunkten der Heilsgeschichte dabei: Verkündigung, Geburt, Beginn des öffentlichen Wirkens (Hochzeit zu Kana); sie stand auf Golgota unter dem Kreuz,sie wurde, zumindest nach ostkirchlicher Tradition, Zeugin der Auferstehung, aber auch der Himmelfahrt Jesu und der Herabkunft des Heiligen Geistes zu Pfingsten.

Und schließlich hat sie auf Golgota mitgelitten, als, entsprechend der prophetischen Ankündigung durch Simon (Lk 2, 35), ein Schwert ihre Seele durchstieß, als sie Zeugin des Leidens ihres Sohnes wurde.
Dort, vom Kreuz herab, hat ihr Sohn sie nicht nur dem Lieblingsjünger anvertraut, sondern mit ihm auch der Kirche. Und zugleich wurde ihr dabei die Kirche anvertraut, deren Mutter sie fortan sein sollte. So wurde sie zur liebenden und betenden Mitte der Urgemeinde, ganz wie sie in der westlichen wie in der östlichen Ikonographie der Himmelfahrt und des Pfingstereignisses dargestellt wurde.

Nachdem wir die Umstände, die zu den ersten drei Mariendogmen führten, hier bereits behandelt haben, müssen wir uns auch des letzten Mariendogmas annehmen, der für uns so schwer fassbaren „leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel“. Ihm zugrunde liegt tatsächlich eine der ältesten Traditionen der Kirche.
Sie siedelt die Entschlafung Mariens auf dem Zionsberg in Jerusalem an, dort, wo sich heute die Dormitio-Abtei der Benediktiner erhebt. Hier, in unmittelbarer Nachbarschaft, lag der Saal des Letzten Abendmahles, hier soll sich das Pfingstereignis zugetragen haben, hierher kam die Urgemeinde nach der Zerstörung Jerusalems zurück, um eine „kleine Kirche Gottes“ zu errichten, die wir heute im „Erdgeschoss“ des Abendmahlssaal-Heiligtums wiederfinden, von den Juden als Davidsgrab verehrt und als Synagoge genutzt. Ihre uralte Torahnische freilich zeigt nicht, wie üblich, nach Osten, zum Tempel hin, sondern nach Norden, in Richtung des Hügels Golgota: Es war ursprünglich eine judenchristliche Synagoge.

Gewiss kein Zufall ist, dass der Zionsberg zugleich seit der Zeit des Königs Herodes das Essenerviertel von Jerusalem. Das von Flavius Josephus erwähnte Essenertor, nachträglich in die hasmonäische Stadtmauer geschlagen, wurde mittlerweile von Archäologen entdeckt und freigelegt. In unmittelbarer Nähe fanden sie eine gewaltige Mikwe, ein jüdisches Reinigungsbad, mit Doppeleinstieg. Das ist höchst ungewöhnlich, denn gewöhnlich unterzogen sich die Juden nur dann einer rituellen Waschung, wenn sie zum Gebet, in die Synagoge oder in den Tempel gingen. Nirgendwo sonst aber fand man eine Mikwe neben einem Stadttor. Das allein beweist schon, dass es in ein ganz besonderes Viertel führte, in eine Art Klosterdorf der Essener. Mikwen mit getrenntem Ein- und Ausstieg fand man auch im Essenerkloster von Qumran; sie zeugen von einem sehr strengen Judentum. So sollte vermieden werden, dass  man sich verunreinigt, wenn die Füße erneut die Stufen berührten, auf die man noch „unrein“ in das Wasser gestiegen war.

Dort, wo heute die Dormitio-Abtei steht, verehren koptische und syrische Christen zuvor einen Stein als „Stein vom Haus der Gottesmutter“. Bei der Errichtung der Abtei stieß man auf eine Reihe einfacher Häuser, die offenbar tief gläubigen und in freiwilliger Armut lebenden Juden oder Judenchristen gehörten: jedes Haus hatte seine eigene Mikwe. Tatsächlich erwähnen die ältesten Schilderungen von der Entschlafung Mariens, die Gottesmutter habe, als sie den nahenden Tod spürte, noch ein Bad genommen. Es ist anzunehmen, dass dies nicht der Körperreinigung, sondern der kultischen Reinigung diente. Befindet sich dieses „Marienbad“ noch unter der Abtei, deren Anspruch, wie die Arkulf-Handschrift aus dem 7. Jahrhundert zeigt, auf einer mindestens anderthalb Jahrtausende alten Tradition beruht?

Noch länger ist die Verehrung des „Mariengrabes“ im Kidrontal, gleich neben der Getsemani-Grotte, bezeugt. Archäologische Untersuchungen belegen, dass die unterirdische Kirche in eine jüdische Grabanlage aus dem 1. Jahrhundert hinein gebaut worden ist. Deutlich können noch ihre Eingangskammer mit der Stiege, ihre Vorkammer und die Grabkammern unterschieden werden. In ihrem Zentrum, eingeschlossen in einen steinernen Schrein gen Osten hin, befindet sich die Grabbank, auf der Mariens Leichnam gelegen haben soll. Damit entspricht ihre Topografie dem, was uns die älteste Version des Transitus, des Entschlafungsberichtes Mariens, die aufgrund ihrer judenchristlichen Symbolsprache von franziskanischen Experten in das 2. Jahrhundert datiert wird, von der Bestattung der Mutter Jesu berichtet. Danach soll ein Engel die zu ihrem Tod versammelten Apostel angewiesen haben: „Nehmt die Herrin Maria an diesem Morgen und geht dort fort von Jerusalem auf der Straße, die zum Ende des Tales auf dieser Seite des Ölbergs führt, wo Höhlen sind, eine große Außenhöhle, eine weitere im Innern und eine kleine Höhle ganz im Innern mit einer erhöhten Bank auf der Ostseite. Geht dort hinein und legt die Gesegnete auf diese Bank...“

Die Übereinstimmung von Topografie und Text bestätigen die Entstehung des Transitus im judenchristlichen Millieu des 2. Jahrhunderts, als die Herrenverwandten in der Urgemeinde noch eine wichtige Rolle spielten und zumindest bis in die Zeit des Domitian auch die Bischöfe stellten. Erst im 4. Jahrhundert, als sich die jerusalemer Judenchristen der Orthodoxie anschlossen, erfuhr die Weltkirche vom Grab Mariens und seiner Geschichte, auf die zumindest Epiphanius von Salamis zunächst skeptisch reagierte. Denn der Transitus endet aber nicht mit der Schilderung der Bestattung Mariens. Verspätet soll der heilige Thomas in Jerusalem eingetroffen sein, auf seinen Wunsch hin wurde erneut das Grab geöffnet. Doch der Leichnam, von dem der Jünger sich verabschieden wollte, war nicht mehr da; an seiner Stelle, so heißt es, lagen nur noch Blumen auf der Felsbank. In einer Vision erfuhren die Apostel, dass der Herr Seine Mutter in den Himmel aufgenommen hatte.

Dahinter steckt eine tiefe Theologie. Maria, die vorab Erlöste und von der Erbsünde Befreite, konnte nicht verwesen wie alles sündige Fleisch. Ihr Sohn holte sie zu sich, wie er uns eines Tages zu sich holen wird. Oder, wie es der ukrainisch-katholische Erzbischof Petro Kryk so wunderbar formulierte: „Weil die Liebe nicht sterben kann, muss Christus, der die Liebe ist, jeden, der ganz in der Liebe lebt. zu sich hochziehen.“
Ein Sarkophag aus dem 4. Jahrhundert, in Saragossa entdeckt, stellt das in anrührender Bildlichkeit dar. Auf seinem Relief sehen wir die Gottesmutter inmitten der Jünger. Aus dem Himmel kommt eine Hand, die die ihre ergreift, um sie zu sich hinaufzuziehen, ähnlich wie Bischof Kryk das Mysterium der Himmelfahrt Mariens theologisch deutete.


Darstellung der Heimholung Mariens auf einem Sarkophag aus dem 4. Jh., gefunden in Saragossa/Spanien
 
Natürlich haben wir keine Möglichkeit, die Historizität des Transitus zu überprüfen. Aber wir können mit Sicherheit sagen, dass das vierte Mariendogma auf eine Tradition der Urgemeinde zurückgeht, die seit dem 2. Jahrhundert bezeugt ist und dem judenchristlichen Millieu, in dem auch Maria wirkte, entstammt.

These 7:
Die Marienverehrung ist so alt wie die Kirche!

Wir müssen Lukas ernst nehmen, wenn er die Gottesmutter im Magnificat sagen lässt, „Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter.“ Das Evangelium wurde gegen 60 n.Chr. verfasst (jedenfalls vor der Apostelgeschichte, die 62 endet) und nichts hätte peinlicher geklungen als Mariens Gewissheit, „von nun an“ von allen Geschlechtern seliggepriesen zu werden, wenn nicht genau das längst der Fall gewesen wäre. Doch schon die ältesten Katakombenmalereien Roms, die ins 2. und 3. Jahrhundert datiert werden, zeigen die Gottesmutter mit den Gesten der späteren Ikonografie: Das Kind auf dem Schoß bei der Anbetung durch die Magi, als Maria lactans, als Adorantin mit oder ohne ihren Sohn vor sich (Ersteres als Vorläufer der orthodoxen „Immanuel“-Ikone), finden wir etwa in der römischen Priscilla-Katakombe.

In Nazareth, bei den Ausgrabungen im Bereich der Verkündigungsbasilika, stellten die Archäologen fest, dass das jüdische Landgut aus dem 1. Jh.  v.Chr. gegen Mitte des 1. Jh. n.Chr. umgestaltet wurde. Im 2. Jahrhundert integrierte man die Verkündigungsgrotte und das damals noch davorstehende kleine Steinhaus schließlich in ein größeres Gebäude, das als judenchristliche Synagoge identifiziert werden konnte. Ihre Wände zierten die Graffiti hunderter Pilger, von denen zwei besondere Beachtung fanden. Bei dem ersten handelt es sich um die Worte XE MARIA, eine Kurzform des „chaire Maria“, was wir als „Gegrüßet Seist Du, Maria“ oder „Ave Maria“ übersetzen, was aber eigentlich „Freu Dich, Maria“ bedeutet; mit diesen Worten beginnt die Verkündigung des Engels im griechischen Originaltext des Lukas-Ev und natürlich auch das gleichnamige Mariengebet. Das zweite, ins 3. Jh. datiert, ist ein längerer Text: „Kniend unter der heiligen Stätte M(ariens) schrieb ich dort die (Namen und) verehrte ihr Bild (eikos!)“ Es verrät uns, dass es in Nazareth bereits im 3. Jahrhundert eine Bilderverehrung, eine Ikone der Gottesmutter gab.

Sind Ikonen aus dieser Zeit erhalten? Die beiden ältesten Marienikonen Roms sind wohl die „Advocata“ auf dem Monte Mario und die aus dem Jahre 439 stammende Ikone des Hodegetria-Typs, die einst in S. Maria Antiqua und heute in S. Francesca Romagna auf dem Forum Romanum verehrt wurde bzw. wird. Tatsächlich wurde nach dem Konzil von Ephesus die Rolle Mariens als theotokos ikonographisch betont, sie fortan überwiegend mit ihrem Sohn auf dem Arm dargestellt, auf den sie verweist. Damit sollte eine Anbetung Mariens verhindert werden; jede Marienverehrung auf Christus verweisen. Die Advocata dagegen zeigt Maria als Beterin. Halbprofil, Nasenlänge, Augenform etc. weisen darauf hin, dass die Forums-Ikone nach ihrem Vorbild gemalt wurde. Selbst die bei ihr auf das Kind verweisende linke Hand finden wir auf der Advocata originalgetreu wieder, allerdings zum Gebet erhoben. Die rechte Hand der Betenden dagegen wurde umgedreht und hielt jetzt das Kind. Wenn aber die auf 439 datierte Forums-Ikone die Advocata zum Vorbild hatte, muss diese entsprechend älter sein. Wie alt? Wir wissen es nicht. Die römische Tradition schreibt sie dem Evangelisten Lukas zu.

Das hat auf den ersten Blick wenig zu bedeuten. Es gibt auf der Welt einige Dutzend Marienikonen, die diesen Anspruch erheben; die jüngsten davon stammen nachweislich aus dem Mittelalter. Doch bei der Advocata liegt die Sache etwas anders. Sie wurde enkaustisch gemalt, also mit erhitzten Wachsfarben. Diese Methode, die ab dem 7. Jahrhundert in Vergessenheit geriet, wurde ursprünglich im ptolemäischen Ägypten für Mumienportraits entwickelt. Tatsächlich erinnern einige Mumienportraits aus dem 1. Jahrhundert, die in der Oase Fayum entdeckt wurden, an diese Ikone. Doch die Gesichtszüge der Advocata sind gerundeter. Das wiederum ist typisch für die syrische Kunst der Antike, etwa für die herrlichen Mosaiken aus dem 1. Jh., die man in Antiochia fand. Man kann also vermuten, dass die Advocata (oder ihr Vorbild) von einem Syrer gemalt wurde, der in Ägypten die Maltechnik der Enkaustik erlernt hatte. Das würde zumindest dem Profil des hl. Lukas entsprechen, der ein Arzt aus Antiochia, ein Syrer war. Die besten Ärzte der Antike erlernten ihre Kunst in Ägypten.

Ausgerechnet aus Ägypten ist auch das erste Mariengebet überliefert. Man fand es auf einem Stück Papyrus, das einem Toten ins Grab gelegt worden war.

Der Fund war umso bedeutender, weil kritische Exegeten gerne die Marienverehrung für eine Folge (!) des Konzils von Ephesus 431 halten. Als Papyrus 470 ist das Gebet heute Teil der berühmten John Rylands Library in Manchester, England. Experten datieren es in das 3. Jahrhundert, doch sein Text ist uns allen bekannt: „Unter deine Barmherzigkeit flüchten wir uns, Gottesgebärerin. Unser Flehen weise nicht zurück in der Not, sondern rette uns in Gefahr, Du einzig Reine, einzig Gesegnete.“

Unter dem lateinischen Titel Sub tuum praesidium („Unter Deinen Schutz und Schirm…“) wird es noch heute gebetet wie vor 1750 Jahren. Damals schon, in der Zeit der großen Christenverfolgungen, riefen also die Gläubigen die Gottesmutter an, benannten sie mit jenem Titel, den das Konzil von Ephesus zwei Jahrhunderte später bestätigte: Theotokos, „Gottesgebärerin“. Denn Konzilien bestätigen Traditionen, erfinden sie aber nicht.

Damit aber wissen wir, dass auch die frühen Christen Maria verehrten und sich sicher waren, dass kein Gebet, das an sie gerichtet wurde, nicht gehört werden würde.