Michael Hesemann, Historiker und Autor
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Der heilige Kelch
von
Valencia

 
Memorandum für
Seine Heiligkeit,
Papst Benedikt XVI.
 
anlässlich Seines Besuches in Valencia
zum V. Weltfamilientreffen, 1.-9. Juli 2006

 

 
von Michael Hesemann, CSC, Historiker
im Auftrag der Cofradia del Santo Caliz, Valencia

DER SANTO CALIZ VON VALENCIA
 
 
Seit 1437 wird in der Kathedrale von Valencia der „Santo Caliz“ als Reliquie des Abendmahlskelches unseres Herrn Jesus Christus verehrt. Er ist das Jahr über in einem Schrein in einer eigenen Kapelle ausgestellt; nur am Gründonnerstag und am „Fest des Santo Caliz“ Ende Oktober wird er in feierlicher Prozession zum Hauptaltar der Kathedrale getragen, bevor der Erzbischof von Valencia vor der kostbaren Reliquie das Messopfer feiert. Begleitet wird er dabei von den beiden Bruderschaften der „Caballeros del Santo Caliz“. Die bürgerliche „Cofradia“ steht unter Leitung des ehemaligen Gouverneurs der Provinz Valencia, Don Ignacio Carrau, der „Real Hermandad“ des Adels steht der Graf von Villafranqueza vor, ein Cousin des spanischen Königs.
 
 
 
BESCHREIBUNG DER RELIQUIE
 
 
In seiner heutigen Gestalt besteht der „Santo Caliz“ aus einem kleinen Becher aus Achat, einer als Fuß gearbeiteten Schale aus Onyx und einem zweihenkligen Mittelstück aus ziseliertem Gold. Die Onyxschale, die den Fuß bildet, wird von einer aus vier kreuzförmig angeordneten  Gold-Bügeln bestehenden Fassung gehalten, die mit 27 erbsengroßen Perlen, zwei Rubinen und zwei Smaragden besetzt ist.
 
Der Achatbecher ist die eigentliche Reliquie. Noch in einer Urkunde aus dem Jahre 1135 werden „illo calice de lapide precioso et uno urceo similiter de lapide precioso“ als getrennte Gegenstände aufgeführt; wahrscheinlich ließ König Ramiro II. von Aragon noch im selben Jahr beide Teile zu einem Ganzen zusammenfügen, das mehr der mittelalterlichen Vorstellung von einem Messkelch entsprach.
 
 
 
GESCHICHTE DES SANTO CALIZ
 
 
Schon in seiner frühesten urkundlichen Erwähnung, in einem Dokument aus dem Jahre 1134, wird der Steinkelch als „el Caliz en que Christo Nuestro Senor consagro su Sangre“ bezeichnet. Das selbe Dokument berichtet, dass dieser Kelch vom hl. Laurentius in seine Vaterstadt Huesca gesandt wurde („el qual embio San Lorenzo a su patria Huesca“).
 
Der spanischen Tradition zufolge wurde die Reliquie des Abendmahlskelches vom hl. Petrus nach Rom gebracht. Zwei Jahrhunderte lang war sie der Kelch der Päpste, worauf sich vielleicht der römische Kanon beziehen könnte, wenn es dort in der Wandlungsformel heißt: „...accipiens et hunc praeclarum calicem“; war eben nicht jeder Messkelch, sondern speziell „eben dieser“ heilige Kelch gemeint?
 
Wahrscheinlich war der hl. Diakon Laurentius tatsächlich ein Spanier; bei Huesca wird noch heute ein Gut mit dem Namen „Loreto“ als sein Geburtsort und Wohnort seiner Eltern verehrt. Dass Prudentius ihn schon im 4. Jahrhundert in seinem speziell den spanischen Blutzeugen gewidmetem Hymnus erwähnt, scheint diese Tradition zu bestätigen. Sicher ist (wie der Brief Cyprians bezeugt), dass während der „valerianischen Verfolgung“ des Jahres 258, der zunächst Papst Sixtus II. mit vieren seiner Diakone und, drei Tage später, auch Laurentius zum Opfer fiel, die Kirchengüter zugunsten der Staatskasse beschlagnahmt wurden. Deshalb würde es durchaus Sinn machen, dass ein so gewissenhafter Diakon wie Laurentius einen auch materiell kostbaren Achatkelch an einen sicheren Ort bringen ließ, weit entfernt von Rom. Das Gut seiner Eltern in Huesca war da zumindest eine plausible Möglichkeit.
 
Gesichert ist jedenfalls, dass der Achatkelch seit dem 12. Jahrhundert im Kloster von San Juan de la Pena nördlich von Huesca als Reliquie verehrt wurde. Der spanischen Tradition zufolge hatte man ihn im 8. Jahrhundert, nach der Invasion der muslimischen Mauren, im Hocharagon in Sicherheit gebracht, wo sich die Widerstandsnester der Christen befanden. Hatte man ihn zunächst in einer Höhle versteckt, wurde er bald in die Kathedrale der provisorischen Hauptstadt Jaca, dann in das direkt dem Papst unterstehende Kloster von San Juan de la Pena überführt. 1399 ordnete König Martin I. auf Drängen des Gegenpapstes Pedro de Luna alias Benedikt XIII. eine Verlegung der Reliquie in die Palastkapelle von Saragossa, dann nach Barcelona an. Seine Nachfolger brachten den Santo Caliz zunächst in die Kapelle der neuen Residenz in Valencia, bevor er schließlich mit einer Urkunde vom 14. Juli 1506 den Kanonikern der Kathedrale übereignet wurde. Wenn Ihr, Heiliger Vater, Anfang Juli nach Valencia kommt, befindet sich der Santo Caliz also seit exakt 500 Jahren im Besitz der Domherren von Valencia, was an sich schon ein denkwürdiges Jubiläum ist.
 
 
 
KULTURHISTORISCHE BEDEUTUNG
 
 
Alles spricht dafür, dass die Verehrung und Geschichte des Santo Caliz das Vorbild für die Sage vom „Heiligen Gral“ ist, die ca. 1180 den Franzosen Chretien de Troyes zu seinem „Perceval“, um 1205 den Deutschen Wolfram von Eschenbach zu seinem „Parzival“ und 1879 Richard Wagner zu seinem 1882 uraufgeführten „Bühnenweihstück“ „Parsifal“ inspirierte.
 
„Gral“ (eigentlich „grial“, „graal“ oder „greal“) ist ein Wort aus dem Altspanischen  und bedeutet soviel wie „mörserförmiges Trinkgefäß“. Wir finden das Wort etwa in altspanischen Küchen-Inventaren, aber auch heute noch in der galizischen Volkssprache. Ein „Heiliger Gral“ ist also ein als heilig (da als Reliquie) verehrtes mörserförmiges Trinkgefäß, was der Santo Caliz in seiner ursprünglichen (Becher-) Form ja auch war. Wenn Wolfram von Eschenbach zudem von einem „Stein“ spricht, macht auch das Sinn, da der Gralsbecher ja aus kostbarem Stein – eben Achat – gefertigt wurde.
 
Weiter erwähnt Wolfram im „Parzival“ eine geheimnisvolle Inschrift („ein epitafum“) auf der Oberseite des Steingrals, das „sinen namen und sinen art“ offenbart. An anderer Stelle erklärt er: „Er heizet Lapsit exillis“. Tatsächlich befindet sich beim Santo Caliz auf der Oberseite seines Steinfußes eine Inschrift in kufischer (altarabischer) Schrift, die der deutsche Arabist Prof. Hans-Wilhelm Schäfer als „Al-labsit as-sillis“ transkribierte.
 
Weiter entspricht die Gralsburg Monsalvaesche („Monsalvat“ bei Wagner) in allen Details ihrer topografischen Lage und architektonischen Ausgestaltung der Klosterburg von San Juan de la Pena. Diese liegt tatsächlich zu Füßen des 1547 Meter hohen Mons Salvatoris (span.: Pico de San Salvador; in der okzitanischen Volkssprache: Mont (Sant) Salvatge).  Bei dem Gralskönig Anfortas scheint es sich um den historischen König Alfonso I. von Aragon (in der okzitanischen Volkssprache: „Anforts“; latinisiert: „Anfortius“; König von 1104-1134) zu handeln, der sich jedes Jahr zur Fastenzeit nach San Juan de la Pena zurückzog, wo (urkundlich nachweisbar) der Santo Caliz zu dieser Zeit verehrt wurde. Er war ein großer Förderer des Templerordens, dem er ein Drittel seines Reiches vererbte, was erklären könnte, weshalb die Gralsritter in Wolframs Parzival als „Templeisen“ bezeichnet werden. Wie der Anfortas der Sage, so wurde auch der historische Anforts/Alfonso I. in einer Schlacht tödlich verletzt, bevor man ihn nach San Juan de la Pena brachte, wo er sieben Wochen später verstarb. Nur im Volksglauben lebte er weiter, hielten sich (ähnlich wie bei Barbarossa) Gerüchte, er würde noch immer leben und eines Tages wiederkommen. So entstand die Legende vom siechenden König Anforts, der, bewacht von Templeisen/Templern, in Gegenwart des Grals auf Erlösung harrt. Bei der Person des Parzival, dem Helden der ersten Gralsepen, könnte es sich einen Cousin und Kampfgefährten des Königs, den französischen Grafen Rotrou Perche de Val (span: „Conde de Valperche“), gehandelt haben.
 
Dass die Gralssage ursprünglich aus Spanien stammt, stellt auch Wolfram von Eschenbach im „Parzival“ ausdrücklich fest. Danach brachte der Troubadour Guiot de Provins sie aus Toledo mit. Tatsächlich besuchte Guiot den Hof von König Alfonso II. von Aragon, als dieser 1174 heiratete. Damals bereitete der König einen neuen Feldzug gegen die Mauren vor. Seinem Großvater hatte der Papst für seinen Maurenfeldzug die Privilegien und Ablässe eines Kreuzzugs gewährt. Auch Alfonso II. hoffte auf den Segen des Papstes. Zudem wollte er die besten europäischen Ritter dafür gewinnen, an seiner Seite zu kämpfen. Dazu brauchte er einen Mythos. Wer am Jerusalem-Kreuzzug teilnahm, kämpfte für das Heilige Grab. Die Botschaft des Grals-Mythos war: Noch ehrenvoller als der Kreuzzug zur Befreiung des leeren Grabes ist der Dienst im Zeichen des Heiligen Grals, des Symbols für die Eucharistie, in der Christus lebendig ist. So verband Guiot die Gralsgeschichte mit dem Artusmythos; die Ritter der Tafelrunde waren die großen Vorbilder des mittelalterlichen Rittertums, ihnen sollten die europäischen Fürsten folgen.
 
Auch wenn sich der Gralsmythos bald „verselbständigte“, so blieb doch sein Kern erhalten: Er wurde zum Symbol für die Suche des Menschen nach dem Ewigen, nach Gott, und damit zur Metapher für die höchsten Ziele und Ideale des christlichen Europas. Nach dem Gral zu suchen heißt, das Geheimnis der heiligen Eucharistie zu ergründen. Verheißt der Gral ewiges Leben, erfüllt das allerheiligste Sakrament das Versprechen Christi: „Wer dieses Brot isst, der wird leben in Ewigkeit“ (Joh 6,59).
 
 
 

             Fällt Licht von oben auf den Achatkelch, so scheint er in Flammen zu stehen

 
 
EINE ECHTE RELIQUIE?
 
 
Während wir sicher sein können, dass die Verehrung des Santo Caliz im 12. Jahrhundert zur Entstehung der Gralssage führte, ist natürlich nicht mehr zu klären, ob es sich hier tatsächlich um den Kelch vom Letzten Abendmahl unseres Herrn Jesus Christus handelte.
 
Sicher ist jedoch nach Ansicht der Archäologen, dass es sich bei dem Steinbecher um ein antikes Trinkgefäß aus der hellenistischen Epoche handelt, das wohl im 3.-1. Jahrhundert v. Chr. im Raum Antiochia ad Orontes enstand. Im Britischen Museum in London finden wir zwei ähnliche Trinkgefäße aus dieser Zeit und Region. Waren aus Antiochia, der Hauptstadt des Seleukidenreiches, erfreuten sich in Jerusalem großer Beliebtheit. Für das Sedermahl am Passahfest bevorzugten strenggläubige Juden Steingefäße, denn nur Stein galt als wirklich „kosher“. Ton war zu porös, konnte Verunreinigungen in sich tragen, Silber aus eingeschmolzenen Münzen mit den Abbildern heidnischer Götter stammen.
 
Natürlich galt ein Achatbecher auch damals als sehr wertvolles Gefäß. Nichts deutet jedoch darauf hin, dass Jesus den beim Letzten Abendmahl verwendeten Kelch auch besessen hat. Stattdessen sprechen einige Indizien (auf die etwa der verdiente Benediktiner-Archäologe Pater Bargil Pixner hinwies) dafür, dass das Passahmahl des Herrn und Seiner Jünger im Gästehaus der Essener-Gemeinschaft stattgefunden hat. Jedenfalls beschreibt der jüdische Historiker Flavius Josephus den Zionsberg, auf dem die früheste christliche Tradition das Letzte Abendmahl lokalisiert, als Wohnviertel der Essener. Fand im restlichen Jerusalem das Passahmahl in der Nacht zum Karsamstag statt, folgten die Essener einem anderen Kalender, nach dem der „erste Tag der Ungesäuerten Brote“ bereits der Mittwoch war. War das Letzte Abendmahl tatsächlich eine Passah-Feier, so war diese zu dem traditionellen Zeitpunkt einzig und allein im Essenerviertel möglich. Aus den Schriftrollen, die in den Höhlen des Khirbet Qumran am Toten Meer entdeckt wurden, wissen wir, dass schon die Essener in Erwartung des Messias ein „Bundesmahl“ feierten. Dass sie zu dieser Feier kostbare Gefäße verwendeten ist anzunehmen. Wenn die Jünger Jesu auch zum Pfingstfest wieder das „Obergemach“  aufsuchten (Apg 1,13; 2,1), so ist zumindest ein enger Kontakt zu der Ordensgemeinschaft wahrscheinlich und deshalb auch eine Übereignung des Kelches an Petrus als Ersten unter den Aposteln denkbar.
So ist zwar nicht beweisbar, dass der Santo Caliz tatsächlich der Abendmahlskelch unseres Herrn war, es spricht aber auch nichts gegen diese Tradition, und vielleicht sollte auch hier gelten: „In dubio pro traditionem“.
 
Jedenfalls fällt es schwer zu glauben, dass ausgerechnet der Kelch, mit dem das Allerheiligste Sakrament als Mahl des Neuen Bundes eingesetzt wurde, einfach verloren ging. Es gibt auch kein anderes Gefäß, das nur einen halbwegs legitimen Anspruch auf diesen Status erheben könnte; der „Sacro Catino“ von Genua jedenfalls, der 1102 bei der Eroberung Caesareas den Genuesen in die Hände fiel, ist eindeutig eine arabische Arbeit aus dem 9. Jahrhundert. Zunächst hatten die Kreuzritter das Glasgefäß für ein Geschenk der Königin von Saba an König Salomo gehalten, gedacht, es sei aus einem einzigen, großen Smaragd geschliffen.
 
Schon weil der Santo Caliz eine ehrwürdige, alte und zugleich plausible Tradition hat, ist sein Reliquienstatus gewiss legitim.
 
 

 
 
PAPST JOHANNES PAUL II. UND DER SANTO CALIZ
 
 
1959, als man in ganz Spanien die 1700-Jahr-Feier der Ankunft des Santo Caliz auf der Iberischen Halbinsel beging, gewährte Papst Johannes XXIII. allen Pilgern, die in der Kathedrale von Valencia nach Beichte und Kommunionempfang vor dem Santo Caliz beteten, einen Ablass. (Vat. Reg. # 2164/59)
 
Als Euer verehrter Vorgänger, Papst Johannes Paul II., am 8. November 1982 Valencia besuchte, zeigte man ihm in der Kathedrale den Santo Caliz und erklärte ihm seine Geschichte. Vorsichtig umfasste der Papst den goldenen Untersatz, auf dem die Reliquie stand, andächtig beugte er sich vor und küsste liebevoll das Gefäß. Anschließend bat er darum, mit dem Santo Caliz die große, öffentliche Eucharistiefeier auf dem größten Platz von Valencia zelebrieren zu können; gerne erfüllten ihm die Domherren diesen Wunsch.
 
Weil der Wunsch des Papstes spontan war, wurde leider versäumt, die Wandlungsformel des römischen Kanons zu benutzen. Sonst hätte, zum ersten Mal seit 1724, wieder ein Papst die Formel des „Simili modo, postquam cenatum est, accipiens et hunc praeclarum calicem...“ über jenem Kelch gesprochen, auf den, wie auf keinen anderen, diese Worte zutreffen könnten. Aber vielleicht wird dies eines Tages von einem anderen Papst nachgeholt werden...
 
 
 

 
Willkommen in Valencia, Heiliger Vater!