Michael Hesemann, Historiker und Autor
Offizielle Homepage
Michael Hesemann - Vortrag am Einstein-Forum Potsdam im Rahmen des Symposiums "Tausendmal berührt" im Februar 2013:
http://www.einsteinforum.de/

Den Himmel begreifen - Reliquien und die Fassbarmachung der Transzendenz 


Hier als audio bei DEUTSCHLANDRADIO (DRadio Wissen):
http://www.dradiowissen.de/religionsgeschichte-tausendmal-beruehrt.88.de.html?dram:article_id=256146

In den christlichen Traditionen gelten Reliquien als Hilfmittel, um mit dem Transzendenten in physischen Kontakt zu kommen. Sie galten als Brücke zum Himmel. Ihr Besitz bedeutete, die Gegenwart eines Heiligen an einen Ort zu binden, die Kommunikation mit ihm zu eröffnen, seine Fürsprache anzurufen, auf seine Wunderkraft zu hoffen. Als greifbares Unterpfand und Repräsentanz göttlicher Gnade wurden sie in Prozessionen durch die Städte getragen, wurden ihnen goldene Schreine geweiht, erfüllten sie Kirchen mit ihrem Segen, verehrten die Gläubigen, denen sie präsentiert wurden, sie mit Küssen und zärtlichen Berührungen. Sie wurden Kranken aufgelegt, während noch heute etwa die orientalischen Christen glauben, durch Berührung ihres Schreines etwas von der "baraka", ihrer Segenskraft, zu empfangen. Schon im frühen Christentum wurden Tücher, die mit ihnen in Kontakt kamen, als Sekundärreliquien verehrt; eine Möglichkeit, ihre Gnade effizient zu verbreiten.
 
Dass der Petersdom, die einst größte Kirche der Christenheit, über dem Grab des Heiligen Petrus errichtet wurde, ist eine durch die Ausgrabungen in den 1940er Jahren bestätigte Tatsache. So wurde sichtbar gemacht, was zunächst bildhaft gemeint war, heute aber in goldenen Lettern rund um die mächtige Kuppel des Michelangelo geschrieben steht: „Du bist Petrus und auf diesen Fels will ich meine Kirche bauen.“ (Mt 16,18) Der Kirchenbau war also eine riesige Inszenierung, bis hin zur angeblichen Kathedra Petri, deren Reliquie, in Bronze gegossen, von tausend Engeln umgeben, gleich unter dem Glasfenster mit der Taube des Heiligen Geistes quasi vom Himmel hinunter zu schweben scheint, hin zum lebenden Nachfolger Petri, dem Papst. Doch diese gleichzeitige Präsenz des lebenden und den toten Petrus genügte nicht. Der Petersdom steht nicht nur ÜBER Reliquien, nein, vier Reliquienkapellen wurden in die vier Pfeiler gebaut, auf denen die Kuppel ruht, gewidmet den vier Hauptreliquien der vatikanischen Basilika, dem Schweißtuch der Veronika, der Kreuzreliquie, der Lanze des Legionärs und der Schädelreliquie des hl. Andreas (die erst Papst Paul VI. an die griechische Kirche zurückgab). Sie wurden zu ihren jeweiligen Festen auf den Balkonen der vier Pfeiler (heute nur noch dem Balkon des Veronika-Pfeilers) den Gläubigen zur Verehrung präsentiert. Das ist eine gewissermaßen abgehobene Form der Reliquienverehrung, doch auch sie zeigt eines: Im Zentrum der katholischen Frömmigkeit steht, wie im Osten die Ikone, im Westen seit der Antike die Reliquie.
Auch wenn sich heute die Kirche eher skeptisch und distanziert zur volkstümlichen Reliquienfrömmigkeit äußert, die längst ihre Renaissance erlebt; was Bernini im Bauplan des Petersdomes zum Ausdruck brachte war nicht weniger als die Heiligung des Kirchenraumes, ja der Kirche selbst, nicht etwa durch die unsichtbare Präsenz der Heiligen, nicht durch ihre Bilder, ja sogar erst sekundär durch die darin vollzogenen heiligen Handlungen inklusive der Wandlung, die immerhin die Realpräsenz des Herrn im Sakrament der Eucharistie bewirkt, sondern durch die physische Präsenz der Reliquien. Kein einziges katholisches Gotteshaus, das, kein einziger Altar – das ist kirchenrechtlich vorgeschrieben – der ohne sie auskommt!
Wie aktuell die Reliquienverehrung auch heute noch hier in Europa ist, das zeigen die folgenden Beispiele:

·       Im April 2005 starb Papst Johannes Paul II., was zu einem in der Geschichte einzigartigen Pilgerstrom führte. Fünf Millionen Pilger standen bis zu 19 Stunden in der nicht enden wollenden Schlange, um für ein paar Sekunden am aufgebahrten Leichnam des Papstes vorbei zu defilieren. Ihre „Reliquien“, die sie mit nachhause nehmen konnten, waren dabei in erster Linie Handy-Fotos, die etwas von einem „vera effigies“, einem „wahren Abbild“ hatten. Mütter hielten dem toten Pontifex ihre Babies entgegen, als könne er sie noch immer segnen. Wer immer ein Bild des Toten dabei hatte, hielt es in seine Richtung oder berührte damit die nächstgelegene Säule, als wolle er eine unsichtbare Kraft einfangen, die noch immer von seinem Leichnam ausging. Das änderte sich keineswegs nach seiner Bestattung, im Gegenteil: Jetzt drängten sich die Pilger zunächst in den vatikanischen Grotten, dann, seit seiner Seligsprechung am 1. Mai 2011, am Sebastians-Altar des Petersdomes, vor seinem Grab, wieder ausgerüstet mit Fotos, Medaillen und Rosenkränzen. So schrieb Jan Ross von der ZEIT einige Monate nach dem Tod des Pontifex: „Die Leute ziehen am Grab Johannes Pauls II. vorbei; es wird gebetet, gesungen, gekniet,  fotografiert und geweint. Die Grabplatte selbst darf man nicht berühren, aber es steht ein Offizieller daneben, der sich Münzen, Autoschlüssel, Rosenkränze anreichen lässt und sie kurz auf den Stein legt. Eine Kontaktmagie, wie sie schwerlich im Buch der Kirchenlehre steht, ein Schuss Aberglauben – aber am Ende ist es auch, als ob der touristisch übernutzte, geistlich entleerte riesenhafte Petersdom ein kleines neues Herz hätte.“
Gleichzeitig wuchs auch die Nachfrage nach echten Reliquien. Nur wenige Wochen nach dem Tod des Papstes wurden in den Devotionalienläden rund um den Petersdom bereits Medaillen mit einem kleinen Stoffstück angeboten, das angeblich „ex indumentes“, also von den Gewändern des polnischen Papstes stammen soll. Sofort dementierte der Vatikan deren Echtheit, zumal nach dem Kirchenrecht nur die Reliquien Seliger und Heiliger verehrt werden dürfen. Dass man es dabei nicht immer so genau nahm, zeigt freilich das Beispiel Pius IX. (1846-1878), der zu Lebzeiten seine Taschentücher zur frommen Verehrung verteilte. Ebenso bürgerte sich speziell unter Pius XII. (1939-1958) die Sitte ein, auf Papstaudienzen einen Pileolus, die weiße Schädelkappe des Papstes, mitzubringen, um diesen gegen den gerade benutzten auszutauschen; so kam der Gläubige in den Besitz einer Bekleidungsreliquie des noch amtierenden Papstes. Auch von Johannes Paul II. wurden bereits zu Lebzeiten Pileoli ausgegeben, oft genug mit einem offiziellen „Echtheitszertifikat“ seines Sekretärs.  Schließlich, mit der Eröffnung des Seligsprechungsprozesses, gab der zuständige Postulator gegen Spenden zigtausende kleiner Karten heraus, in die eine angeblich authentische Gewandreliquie eingeklebt war. Auf die Entnahme von Körperreliquien wurde dagegen bewusst verzichtet; lediglich sein Blut, das ihm zu Lebzeiten für den Fall einer Notoperation einmal entnommen worden war, wird, in kleine Phiolen abgefüllt, an besondere Wallfahrtsorte vergeben wie unlängst, zum Allerheiligenfest 2011, an das niederrheinische Kevelaer. Von anderen Päpsten wie Pius IX., Pius X. und Pius XII. dagegen waren schon unmittelbar nach ihrem Tod bereits Haarreliquien im Umlauf, von Pius X. (1903-1914) gibt es seit seiner Heiligsprechung 1954 sogar Gebeinreliquien.
 
·       Gleich dreimal wurde die bekannteste aller Reliquien, das sogenannte Turiner Grabtuch, in den letzten 15 Jahren ausgestellt, nämlich 1998, 2000 und 2010 – und jedes Mal zog es an die zwei Millionen Besucher (1998: 2,4 Mio; 2000: 1,2 Mio; 2010: 2,2 Mio) an. Sie standen jedes Mal stundenlang Schlange, um genau drei Minuten lang – genug für ein Gebet – vor dem angeblichen Leichentuch Jesu mit seinem rätselhaften Körperbild ausharren zu können. Wieder versuchten die meisten, auf Tuchfühlung zu gehen, hielten Rosenkränze und Fotos an das durch Panzerglas und eine Absperrung geschützte Leinen oder versuchten, es durch Handys und Kameras in ihre Speicherkarten zu bannen. Ähnliches ereignete sich 2012, als zum ersten Mal seit 1996 in Trier der „Heilige Rock“ ausgestellt wurde - der Überlieferung nach das Gewand Jesu, das von der heiligen Helena im 4. Jahrhundert in die Stadt ihrer Bekehrung zum Christentum geschickt wurde. Auch hier bildeten sich lange Schlangen, kamen in den drei Wochen der Wallfahrt mindestens 545.000 Pilger. In der Mitte des Trierer Doms hatte man es aufgebahrt, in einem mandelförmigen Podium aus Olivenholz unter einer massiven Glasscheibe, die jede Stunde neu geputzt werden musste, weil praktisch jeder Pilger sie berührte. Immer wieder sah man, wie die Menschen nicht nur ihre Andachtsgegenstände auf die Scheibe legten und sie damit zu „Berührungsreliquien“ werden ließen, sondern auch ihre Handflächen, so als wollten sie etwas von seiner „Energie“ oder Wunderkraft in sich aufnehmen. So erklärte der Trierer Bischof Ackermann, die Begegnung mit der Reliquie stünde für die „sinnlich-konkrete Wirklichkeit Jesu unter uns Menschen“.

Was Reliquien betrifft, so unterscheiden wir heute zwischen solchen erster, zweiter und dritter Ordnung: zur ersten Kategorie gehören die Gebeine von Heiligen, aber auch alle Reliquien Christi, von seinem Grabtuch bis zu Partikeln seines Kreuzes. Zur zweiten Kategorie werden die Gewänder der Heiligen gerechnet, aber auch „berührte“ Nachbildungen von „Herrenreliquien“. Reliquien dritter Ordnung sind reine Berührungsreliquien; Tücher, die eine Reliquie erster oder zweiter Ordnung berührt haben.
Doch wie kam es zu dieser Greifbarmachung der Religion, wie kamen Christen überhaupt auf die Idee, mit ihren Heiligen „auf Tuchfühlung“ gehen zu wollen?

Zweifellos liegen die Ursprünge des Reliquienkultes im Schamanismus. Religionswissenschaftler bezeichnen das aus den pazifischen Naturreligionen stammende Begriffspaar „Mana“ und „Tabu“ als den Kern einer jeden Religion – den Glauben an das Heilige einerseits, aber auch an Verbote, die den Umgang mit den Göttern regeln. Dabei wird „Mana“ auch als geheimnisvolle, segensreiche Energie verstanden, die vom Heiligen ausgeht und das Leben der Menschen in positive Bahnen lenkt und stabilisiert. Im Judentum war das Tabu besonders ausgeprägt, doch die Heiligung des Menschen fand durch das Gesetz und die Erfüllung religiöser Pflichten – die freilich teilweise an einen bestimmten Ort, den Tempel, gebunden waren – und nicht etwa durch die Kontaktaufnahme mit „heiligmachenden“ Gegenständen statt; der einzige Gegenstand, der das Potenzial dazu besessen hätte und als „Gnadensitz Gottes auf Erden“ galt, die Bundeslade, war irgendwann zwischen der Einweihung des Salomonischen Tempels und seiner Zerstörung durch die Babylonier spurlos verschwunden. Heilig aber war die Schrift, das Gesetz, das Wort Gottes. Und heilig waren Menschen, die sich Gott, der Schrift und dem Gesetz geweiht haben oder gar von Gott dazu berufen worden sind. Obwohl bei den Juden alles, was mit einem Toten in Berührung kam, tabu war und als „unrein“ galt, entstand eine Art jüdischer „Heiligenkult“ um die Gräber der Stammväter und Propheten, die als Fürsprecher bei Gott und als Wundertäter unter den Menschen angerufen wurden.

Den Anfang des christlichen Reliquienkultes finden wir im Markus-Evangelium beschrieben, das der Tradition nach um 43, nach Meinung der Exegeten um 70 n.Chr. niedergeschrieben wurde :
Und er ging mit ihm, und eine große Volksmenge folgte ihm und drängte ihn. Und ein Weib, das zwölf Jahre mit einem Blutfluss behaftet war, und vieles erlitten hatte von vielen Ärzten und alle ihre Habe verwandt und keinen Nutzen davon gehabt hatte (es war vielmehr schlimmer mit ihr geworden),  kam, als sie von Jesu gehört, in der Volksmenge von hinten und rührte sein Kleid an; denn sie sprach: Wenn ich nur seine Kleider anrühre, so werde ich geheilt werden. Und alsbald vertrocknete der Quell ihres Blutes, und sie merkte am Leibe, dass sie von der Plage geheilt war. Und alsbald erkannte Jesus in sich selbst die Kraft, die von ihm ausgegangen war, wandte sich um in der Volksmenge und sprach: Wer hat meine Kleider angerührt? Und seine Jünger sprachen zu ihm: Du siehst, dass die Volksmenge dich drängt, und du sprichst: Wer hat mich angerührt? Und er blickte umher, um sie zu sehen, die dieses getan hatte. Das Weib aber, voll Furcht und Zittern, wissend, was ihr geschehen war, kam und fiel vor ihm nieder und sagte ihm die ganze Wahrheit. Er aber sprach zu ihr: Tochter, dein Glaube hat dich geheilt; gehe hin in Frieden und sei gesund von deiner Plage.“ (Mk 5, 24-34)

Eine solche heilende, wunderwirkende Kraft, die nicht nur von ihm selbst  ausging, sondern offenbar auch seinem Gewand innewohnte, vermuteten die ersten Christen nicht nur bei Jesus. So berichtet die Apostelgeschichte:
„Auch ungewöhnliche Wunder tat Gott durch die Hand des Paulus. Sogar seine Schweiß- und Taschentücher nahm man ihm vom Körper weg und legte sie den Kranken auf; da wichen die Krankheiten und die bösen Geister fuhren aus.“ (Apg 19, 11-12)
Das muss um 53 gewesen sein, also zu seinem Zeitpunkt, als die unmittelbaren Jünger Jesu fast alle noch lebten. Und je mehr sich die junge Religion vom Judentum entfernte, je mehr sie sich in die römisch-griechische Welt mit ihrer ganz eigenen und oft archaischen Denkweise einfügte, desto schneller schwand auch die Scheu vor dem Grab. Als im 2. Jahrhundert, wohl 155, der hl. Polykarp von Smyrna das Martyrium erlitt, sammelten die Christen seine Gebeine ein: Sie galten ihnen als "kostbarer als Gold und Edelsteine", wie es in einem zeitgenössischen Bericht über das "Martyrium des Polykarp" heißt. Polykarp war Schüler des Apostels und Evangelisten Johannes, der ihn noch persönlich als Bischof eingesetzt hatte, was die Praxis der Reliquienverehrung schon für die zweite Generation der Apostelschüler bezeugt.

Kern der römischen Religion war der Glaube an unverfügbare Mächte, die „numina“, zu denen man sich im rechten Augenblick rituell richtig verhalten musste. Das lateinische Wort „sacer“, das später im Christentum eine so wichtige Bedeutung bekam, bedeutete in der römischen Religion so viel wie „alles, was einem ‚numen‘ zugehört, mit ihm in Verbindung steht, von einer Macht in besonderer Weise betroffen ist“. So ist das „sacrum“ das „von sich aus Heilige“.  

Kann ein Grab, können Gebeine heilig sein? Konnte man sich durch ihre Berührung heiligen, wie offenbar durch die Gewänder eines Lebenden, statt, wie die Juden glaubten, nur verunreinigen? Den Ansatz zu einer neuen Definition des toten Leibes finden wir schon im Lukasevangelium, wenn dort die Auferstehung Jesu als „Wiedervereinigung von Leib und Seele“ definiert wird. So schreibt Arnold Angenendt in seiner wegweisenden Studie „Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart“ (München 1994): „Mit dieser Aussage öffnete sich Lukas dem hellenistischen Denken und bereitete mit der leibidentischen Auferweckung der späteren Reliquienverehrung eine erste Grundlage.“ Hinzu kam die paulinische Lehre, dass der Leib eines Christen Instrument der Gnade, ja der Tempel des Heiligen Geistes (siehe 1 Kor 3,16 und 6,19) sei; er könne am Heil mitwirken. Im Mittelalter legitimierte Thomas von Aquin eben daraus den Kult um die heiligen Gebeine: „Deshalb sollen wir auch den Überresten (der Heiligen) zu ihrem Andenken jede entsprechende Verehrung erweisen, und vor allem ihren Leibern, die Tempel und Werkzeuge des Heiligen Geistes waren, der in ihnen wohnte und wirkte, und die durch eine glorreiche Auferstehung dem Leibe Christi gleichgestellt werden sollen. Und darum ehrt Gott selbst sinnvollerweise derartige Überreste, wenn er in ihrer Gegenwart Wunder wirkt.“

War im Judentum das Grab unrein, bewirkte die Berührung eines Toten die schlimmstmögliche kultische Verunreinigung, wurden auch bei den Römern die Gräber in regelrechten Totenstädten außerhalb der Mauern angelegt, holten die Christen ihre Verstorbenen in die Gemeinschaft zurück. Damit erneuerten sie einen Kollektivismus, wie wir ihn eigentlich aus den archaischen Kulturen kennen: Der Tote, so glaubten sie, bleibt gegenwärtig und unterhält eine Verbindung zu den Lebenden. Er kann gleichermaßen zum Empfänger von Gnaden wie zum Fürsprecher werden. So versammelten sich die Christen seit dem 2. Jahrhundert regelmäßig zu Mahlfeiern meist am Todestag eines Angehörigen, der jetzt als dies natalis, als Geburtstag in das Ewige Leben, gefeiert wurde, in den Katakomben und Friedhöfen. Eine regelrechte „Solidargemeinschaft der Lebenden und Toten“, wie Jacques LeGoff es bezeichnete, führte dann im Mittelalter dazu, dass die Gräber ins Zentrum des Dorfes geholt, ja auf dem Kirchhof angelegt wurden.

„Denn die Seelen lassen Spuren in ihren Gliedern zurück und es vermischt der Geist sein Verdienst und die Körper“, heißt es in einer christlichen Grabinschrift in Rom aus dem 5. Jahrhundert. Im Leib bleiben also Spuren von Leben, ja sogar seine Verdienste. Heiligkeit gehörte also nicht allein der Seele, sondern auch dem Leib und den Gebeinen. „Die Leiber, wiewohl tot, leben hier in so vielen Wundern“, stellte Papst Gregor der Große (um 600) fest. Angenendt: „Fortan ist klar: Im Leib der wirklich Heiligen sind Kraft und Leben; ja, die Reliquien sind ‚lebendig‘, sind der Heilige selbst“, ein Glaube, der in vielen Legenden seinen Ausdruck fand. So etwa heißt es in der Grabinschrift des hl. Martin von Tour: „Hier ist bestattet der Bischof Martin heiligen Andenkens, dessen Seele in der Hand Gottes ist; aber hier ist er ganz gegenwärtig, manifest in aller Gnade der Wunder“. Diese „Realpräsenz des Heiligen“, wie es Thomas von Canterbury in Anlehnung an die Realpräsenz Christi in der Eucharistie nannte, wurde geglaubt. Der Heilige ruhte in seiner Kirche, er konnte jederzeit auf Anruf aktiv werden, Fürsprache einlegen, Hilfe und Segen spenden.

So wurde das Heiligengrab zur irdischen Anlaufstelle zwecks Kontaktaufnahme mit den Wundertätern, wurden Reliquien zum Unterpfand seiner vermittelten Gnade. „Nicht allein, dass Gott die Gebeine der Heiligen schützte und ehrte – mehr doch: in den irdischen Überresten blieb seine besondere Kraft gegenwärtig“, schreibt Angenendt so treffend. Schon Victricius von Rouen (+ 407) glaubte, „dass in den Reliquien die volle Gnade (virtus) ist“, denn „wer heilt, lebt auch; wer lebt, ist in den Reliquien. Die Apostel aber und Märtyrer heilen und reinigen. In den Reliquien sind sie also mit dem Band der ganzen Ewigkeit verbunden.“

Thiofried von Echternach, der 1110 verstarb, schildert eindrucksvoll die Kraft, die, wie man glaubte, von den Heiligengräbern ausging: „Und was sie (die virtus = Kraft des Heiligen) aufgrund ihrer zuvorkommenden und fürbittenden heiligen Verdienste in Fleisch und Bein (d.h. während des Erdenlebens) wunderbar tut, dasselbe tut sie noch wunderbarer im aufgelösten Staub und strahlt auf alles, das Äußere wie das Innere, auf jedwede Materie und … die Bedeckung (des Grabes)… Er (der Staub) überträgt den Überfluß seiner Heiligkeit … auf alles, worin er inwendig geborgen und von außen umschlossen ist. Wer festen Glaubens mit seiner Hand den äußeren Verschluss (des Grabes) berührt (…) der berührt, was drinnen ist.“ So weitete sich die Reliquienverehrung zunächst auf das Grab selbst, dann aber auch auf Kleidungsstücke aus, die von den Heiligen zu Lebzeiten benutzt wurden. Das berühmteste war zunächst die Cappa, der geteilte Mantel des hl. Martin, der zur Reichsreliquie der Karolinger wurde. Man führte ihn auf Feldzügen mit und beauftragte Feldgeistliche, die sogenannten capellani, mit seiner Bewachung; die Pfalzoratorien, in denen sie den Mantel aufbewahrten, hießen capella. So kamen Kapläne und Kapellen zu ihren Namen. Gerne wurden solche Sekundärreliquien auch angelegt, gleich ob es Kleidungsstücke, Gürtel oder gar die Ketten von Märtyrern waren, wie die Ketten des hl. Petrus, des hl. Paulus oder – im Osten verehrt – des hl. Georg, deren Berührung Besessene heilen sollte. Wasser, das einer nahe dem Heiligengrab sprudelnden Quelle entstammt, galt als ebenso wunderwirkend wie im Mittelalter Wasser, das aus der Schädelschale eines Heiligen getrunken wurde – oder, wie in Neuss, aus einem Brunnen, in dem bei einer Belagerung die Gebeine des Stadtheiligen versteckt wurden. Weil die Reliquien aufgrund ihrer virtus Heilträger waren, besaßen sie eine geradezu sakramentale Kraft.

Wo ein Grab ist, da macht sich auch die virtus, die überirdische Wundermacht, zum Abruf bereit. Wie die Geschichte von Jesus und der blutflüssigen Frau gezeigt hat, ließ sich diese durch glaubende Berührung erlangen. Es brauchte also nur das Grab und  alles, was mit dem heilbringenden Leib in Kontakt gekommen war, angerührt zu werden, um in den Besitz dieser Gnade zu gelangen. So bewegte sich, beginnend mit der Spätantike, ein nicht enden wollender Pilgerstrom hin zu den Gräbern der Heiligen, ob zu den Apostelgräbern in Rom oder Santiago de Compostela, zum heiligen Nikolaus von Bari oder zum heiligen Antonius von Padua. Man warf sich nieder vor den Gräbern und umlagerte sie, man schlief vor ihnen wie in den Heiltempeln der Antike. In manchen Fällen wurden Kranke auch auf den Sarg des Heiligen gelegt oder sein krankes Glied darüber gehalten. Später wurden die Särge erhöht und die Pilger krochen unter ihnen hindurch, wie es heute noch in Köln bei der Dreikönigswallfahrt praktiziert wird. Immer aber ging es um die „unmittelbare Partizipation an der Kraft des Heiligen“, wie es Angenendt ausdrückt. Schließlich versuchte man auch, etwas mitzunehmen, das diese Segenskraft „eingefangen“ hatte: Erst Lampenöl und Kerzenwachs, dann auch handfestere Reliquien. Schon bei den Römern wurden die Toten damit geehrt, dass man kostbare Öle in ihre Sarkophage goss, ein Brauch, der von den Christen fortgeführt wurde; nicht selten finden wir bei Heiligengräbern kreisrunde Öffnungen zum Nachschütten von Salböl, aber auch Abflüsse, um das jetzt durch die Berührung geheiligte Öl zu empfangen. Bald begann man, zudem quadratische Öffnungen in die Abdeckplatten der Gräber zu brechen, wie wir es etwa bei St. Paul vor den Mauern sehen können. Diese dienten der Einführung von Stoffbändern, brandae genannt, ein Brauch, von dem  uns Gregor von Tours (6. Jh.) berichtet. Man glaubte, dass sie, wenn sie über Nacht auf das Grab hinuntergelassen wurden, am nächsten Morgen so mit virtus vollgesaugt waren, dass sie nun schwerer erschienen. Diese brandae wurden zu den ersten Berührungsreliquien.  

Seit der Spätantike werden Reliquien als „Phylakterien“, als schadenabwehrende Schutzmittel, benutzt, die an die Stelle heidnischer Amulette traten. Ein solches „Heiltum“ wollte jedermann besitzen. Da man sich zunächst noch scheute, die Unversehrtheit und Vollständigkeit der Heiligenleiber zu kompromittieren – schließlich glaubte man an die Auferstehung des Fleisches, die einen vollständigen Körper erforderte – wurde stattdessen das 325 von der hl. Helena in Jerusalem entdeckte „wahre Kreuz“ zum ersten und vornehmsten teilbaren Unterpfand göttlicher Gnade. Splitter eben jenes Kreuzes, an dem der Sohn Gottes zu unserer Erlösung gelitten hat und gestorben ist, waren bald hoch begehrt. So erklärte nur 23 Jahre nach der so spektakulären Entdeckung bei den Ausschachtungsarbeiten zum Bau der Grabeskirche, nämlich 348, der Jerusalemer Bischof Kyrill in einer Katechese über „das heilige Holz des Kreuzes“: „Von diesem Ort aus (also der Grabeskirche) wurde mit ihm (dem Kreuzesholz) fast der ganze Erdkreis erfüllt“.  Das bestätigen zwei lateinische Inschriften aus der Zeit um 350, die man im heutigen Algerien entdeckte und die die Aufbewahrung und Verehrung von Reliquien des „lignum crucis“ bezeugen. Gregor von Nyssa erwähnt, dass seine 379 verstorbene Schwester bereits im Besitz einer Kreuzreliquie war, Johannes Chrysostomos berichtet um 400, dass Christen in Gold gefasste Kreuzpartikel als kostbarsten Besitz an Ketten um den Hals trugen und Paulinus von Nola schickte seinem Freund Sulspicius Severus eine Kreuzpartikel in einem goldenen Kästchen und betonte: „im winzigen Teil ist ganz des Kreuzes Kraft“. Seitdem gibt es buchstäblich zigtausende versiegelte Reliquienkapseln (thecae) mit dem „lignum crucis“, dessen Authentizität natürlich umstritten ist, da man bald Berührungsreliquien den gleichen Status einräumte; Skeptikern sprechen von ganzen Wäldern, die dafür benötigt würden, was natürlich übertrieben ist, sind doch die meisten verehrten Kreuzpartikel mikroskopisch klein.

Um 383 wird die pilgernde Nonne Egeria Zeugin der jedes Jahr zu Karfreitag abgehaltenen Kreuzverehrung in der jerusalemer Grabeskirche:
„Vor den Bischof wird ein mit Leinen gedeckter Tisch gestellt und die Diakone stehen um den Tisch herum. Dann wird ein vergoldetes Silberkästchen gebracht, in dem sich das heilige Holz des Kreuzes befindet; es wird geöffnet, das Kreuzesholz wird herausgehoben und zusammen mit der Inschrift auf den Tisch gelegt. Wenn es nun auf den Tisch gelegt worden ist, hält der Bischof im Sitzen die beiden Enden des heiligen Holzes mit den Händen fest; die Diakone aber, die herum stehen, bewachen es … weil irgendwann einmal jemand zugebissen und einen Splitter vom Kreuz gestohlen haben soll. So geht das ganze Volk vorüber, einer nach dem anderen, alle verbeugen sich, berühren zuerst mit der Stirn, dann mit den Augen das Kreuz und die Inschrift, küssen das Kreuz und gehen weiter.“
Ich kann Ihnen versichern, dass die Kreuzverehrung auf die gleiche Weise noch heute überall dort stattfindet, wo es eine Kreuzreliquie gibt; etwa in Santo Toribio de Liebana im Norden Spaniens, in Valencia, in Rom, aber auch in Limburg an der Lahn.

Als im frühen 4. Jahrhundert, unter Konstantin dem Großen, die ersten Grabeskirchen gebaut wurden, wurden die Apostelgräber von Rom oder das Heilige Grab von Jerusalem zunächst in marmorne Würfel gefasst, die von den Pilgern verehrend umkreist und berührt werden konnten. Erst in der nächsten Bauphase, als man, etwa um der Tiberflut zu entkommen – so in St. Paul vor den Mauern in Rom – das Gesamtniveau der Kirche erhöhte und die Grabwürfel im neuen Boden „versanken“, wurden vertiefte Umgänge, Confessio genannt, angelegt. Zudem begann man, Altäre auf den Würfeln zu errichten; der Papstaltar in St. Peter, aber auch in St. Paul vor den Mauern zeugt von diesem Konzept. Und so wie man zunächst Kirchen auf Apostel- und Märtyrergräbern errichtete, machte man bald Kirchen zu Märtyrergräbern, indem man einfach deren sterbliche Überreste etwa aus den Katakomben in diese überführte. Noch später setzte sich dann ein das Konzept durch, aus JEDEM Altar ein Heiligengrab zu machen – durch die Einfügung von Reliquien. Bald galt die Regel: Kein Heiligenleib ohne Altar und kein Altar ohne Reliquien. So wurde aus dem ursprünglich als „Thron von Leib und Blut Christi“ verehrten Altar ein Reliquienbehältnis. Man suchte die Altäre auf, um den jeweiligen Heiligen um Fürsprache anzurufen, aber auch, um dort Eide abzulegen, auf „Stein und Bein“ zu schwören, Urkunden zu besiegeln und Geschäfte abzuschließen, wofür der Heilige als Zeuge dienen sollte.

Doch das war eine mittelalterliche Entwicklung. Als die byzantinische Kaiserin Papst Gregor den Großen um 600 um eine Petrusreliquie bat, lehnte dieser empört ab; es erschien ihm als völlig undenkbar, die Integrität und Vollständigkeit der Apostelreliquien zu kompromittieren, ja die Öffnung des Apostelgrabes musste ihm als Frevel erscheinen. Als im Rahmen der karolingischen Renaissance eine vermehrte Nachfrage nach Reliquien entstand, wurden zunächst nur komplette Märtyrerleiber in das Frankenreich überführt, wo man freilich ab dem 9. Jahrhundert mit der Teilung der Gebeine begann. Erst als Kaiser Otto III. im 11. Jh. in Rom weilte, erreichte diese Praxis auch die Ewige Stadt. So griff Bischof Bernward von Hildesheim in St. Paul vor den Mauern beherzt in den Sarkophag des Heiligen Timotheus und „nahm einen ganzen Arm des heiligen Märtyrers heraus“. Fortan galt auch hier, was man bislang nur für Gewand- und Kreuzreliquien hatte gelten lassen, nämlich das schon von Victricus von Rouen (+ 407) postulierte Prinzip  „Ubi est aliquid ibi totum est“ – wo ein Teil ist, da ist das Ganze. Eine Partikel genügte, um den ganzen Heiligen präsent zu haben.  Die Folge war jetzt im Hochmittelalter die große Zerteilung der Heiligenleiber.

Doch seit dem 14. Jahrhundert genügte es nicht mehr, die Reliquien in den Altären zu erahnen. Man holte sie heraus, baute Schreine mit Sichtfenstern, machte sie aufklappbar oder zeigte einzelne Reliquienteile in gläsernen Behältern, sogenannten Ostensorien. Ganze Sammlungen entstanden, die Gläubige und Pilger anzogen, zumal die Ostensorien auch den Segen mit der Reliquie und ihre Verehrung durch einen Kuss erlaubten. Hatte noch Gregor der Große erklärt, „es ist ganz unzulässig und sakrilegisch, wenn jemand die Leiber der Heiligen etwa berühren wollte“, wurde zu seiner Zeit nur der Sarg oder der über dem Grab errichtete Altar berührt, bewirkte diese Zurschaustellung eine neue Unmittelbarkeit. Mehr noch, der Heilige wurde mobil. Man trug ihn in feierlicher Prozession in seinem Schrein oder Reliquiar umher, bereitete ihm, jedes Jahr neu an seinem Gedenktag, einen gloriosen Empfang und segnete mit der Reliquie Städte, Häuser und Individuen oder. Was in den Ostkirchen die Ikone als unmittelbare Repräsentanz des Heiligen war, das wurde im Westen die Reliquie. In ihr war Leben und Kraft, die sich durch Berührung übertragen ließ. 
Erste Kritik fand diese Praxis bei den Humanisten. „Du verehrst die Heiligen, du freust dich, ihre Reliquien zu berühren, doch du verachtest das Beste, was sie überliefert haben, das Beispiel des reinen Lebens“, schrieb etwa Erasmus von Rotterdam, der den Reliquienkult als „ein Meer von Aberglauben“ verurteilte. Luther fand noch stärkere Worte, er hielt Wallfahrten für „Teufelsverführung“; das Volk sei dabei „tobend ohne Vernunft, ein Haufen wie Vieh“, die bezeugten Wunder „vom Teufel“. Doch auf dem Konzil von Trient, mit dem die Gegenreformation eingeläutet wurde, versuchte die katholische Kirche zwar, dem Missbrauch des Reliquienkultes und den zahlreichen Fälschungen Einhalt zu gebieten, sie bestätigte aber auch: „Die heiligen Leiber der heiligen Märtyrer und anderer, die mit Christus leben … sind von den Gläubigen zu verehren, wodurch den Menschen von Gott viele Wohltaten erwiesen werden.“

Noch zu Ende des 17. Jahrhunderts stellte der lutherische Arzt Garmann fest, es geschähen bisweilen durch die Berührung eines Toten, etwa durch Glied-zu-Glied-Kontakt, Heilungen und Kräftigungen statt, sogar in der Liebeskraft; selbst Knochen bestimmter Menschen wirkten schützend, etwa wenn ein Soldat den Finger eines Gefallenen bei sich trüge. Und „göttliches Wasser“ sei, was aus dem Schädel eines gewaltsam zu Tode Gekommenen getrunken wird; Reliquienkult ohne Heilige war das, jetzt endgültig zum Aberglauben verkommen! Erst die Aufklärung definierte den Tod neu, nämlich medizinisch und als Antithese zum Leben. Die Theologie reagierte, der Leib wurde belanglos. Die Friedhöfe wurden wieder vor die Städte verbannt, die Symbiose von Lebenden und Toten hatte ein Ende. Die Hygiene trug ihren Teil dazu bei, dass plötzlich Ekel vor Gebeinen empfunden und vom „Pesthauch der Toten“ gesprochen wurde. Fortan galt auch Reliquienverehrung als Superstition, als verrückter Aberglauben des primitiven Volkes, der mit allen Mitteln zu bekämpfen sei. Die Rationalisierung duldete keine Sinnlichkeit in der Religion. Von Fetischismus war plötzlich die Rede, von primitiver Magie, die gleichermaßen dumm und ekelhaft sei. Die Zahl der Reliquien und Reliquiare, die während der französischen Revolution zerstört wurden, geht in die Zehntausende.
Nur zeitweise, etwa in der Romantik, setzt sich die Sehnsucht nach der Berührbarmachung des Numinosen durch. Etwa in Clemens Brentano, der die stigmatisierte Nonne Anna Katharina Emmerick dadurch testet, dass er ihr Reliquien zum Fühlen gibt, die sie als „vollkommener Sacrometer“ zu bestimmen hat; zum ersten Mal werden die Gebeine der Heiligen für quasiwissenschaftliche Tests verwendet. Auch die Heiligrock-Wallfahrt in Trier 1844 erweckt die Sehnsucht nach der Tuchfühlung mit dem Heiligen und wird zugleich zur Provokation. Im aufgeklärten Preußen gilt der Katholizismus als rückständig, wird er im Kulturkampf schikaniert, ohnehin die Religion zur Privatsache erklärt. Und doch: Zu keiner Zeit in der Geschichte wurden so viele Reliquien von Rom aus an die gläubigen Laien ausgegeben wie im 19. Jahrhundert.

Trotzdem galt die Reliquienfrömmigkeit als „Aberglauben“ der unaufgeklärten Hinterwäldler, nicht beachtend, dass sie einst von den Großen und Mächtigen praktiziert wurde, von Karl dem Großen, Ludwig dem Heiligen oder Karl IV. Denn was nicht im Licht der Aufklärung steht, das muss einfach in der Finsternis des Aberglaubens stehen. So schrieb Jacob Grimm etwa in seiner 1844 publizierten „Deutschen Mythologie“: „Kirchen und Kapellen des Mittelalters durchdringt mit schwülem Grabgeruch ein Anbeten toter Knochen, deren Echtheit und Wunderkraft selten beglaubigt, zuweilen ganz unmöglich scheint. Die wichtigsten Geschäfte des Lebens, Eidschwüre und Krankheiten, forderten Berührung dieser Heiltümer … an Idololatrie und Heiligendienst fand aber die Herrschaft der Geistlichkeit ihre große Stütze.“

Doch wie berechtigt ist diese herbe Kritik? Ich denke, was der Katholizismus einst begriffen hat, ist die Sinnlichkeit des Menschen. Ein Ansatz, der nur rational erfolgt, ist begrenzt und daher unbefriedigend. Immerhin ist der Reliquienkult kein rein katholisches Phänomen. Schon bei primitiven Völkern finden wir Reliquien als Überbleibsel von mit Kraft erfüllten Menschen, meist Häuptlingen und Kriegern, die als Zaubermittel gebraucht wurden, um eben diese Kraft an andere weiterzugeben. In der antiken Welt gab es einen Reliquienkult, aber auch im Buddhismus und Islam. Von dem Moment an, in dem das Menschenkind tastend seine Welt erkundet, will es auch jenes erfühlen, das es nicht sehen kann: Das Heilige, das Ewige, das Andere, das Numinose. Alles Übernatürliche zeichnet sich dadurch aus, dass es immateriell ist. Es kann eigentlich nicht ertastet werden. Die große Herausforderung, es doch zu verspüren, macht die Bannkraft der Reliquien aus. Sie dienen als Brücken zum Himmel, denn sie transzendieren unsere sinnliche Wahrnehmung. In diesem Sinne weiten sie unseren Geist und machen uns offen für das Andere, das durchaus auch heilig und göttlich sein kann.