"Wer ist der Mann auf dem Tuch" - die Grabtuchausstellung der Malteser in Tanzenberg/Kärnten - Feierliche Eröffnung durch den Klagenfurter Bischof Dr. Alois Schwarz.
Michael Hesemann hielt den Eröffnungsvortrag.
Seht diesen Menschen!
Von Michael Hesemann,
Autor, Historiker und Berater der Malteser-Ausstellung „Wer ist der Mann auf dem Tuch?“
Vom 19. April bis 24. Juni 2015 wird in Turin erneut das „Grabtuch Christi“ ausgestellt. Das ist bereits die vierte große Ausstellung innerhalb von 17 Jahren, und wieder werden über zwei Millionen Pilger erwartet. Warum aber dieses große Interesse an der berühmtesten aller Reliquien gerade in unserer doch so aufgeklärten und kirchenkritischen Zeit?
Ich wage, zu behaupten: Weil das Turiner Grabtuch so etwas wie eine Zeitkapsel ist, ein Code, der erst in unserer Zeit entschlüsselt und verstanden werden kann. Weil es uns verhilft, durch die Methodik der Wissenschaft wieder das Wirken Gottes in der Geschichte zu erkennen.
Die Geschichte der modernen Grabtuchforschung begann 1898, als der Hobbyfotograf Secondo Pia, hauptberuflich Rechtsanwalt und Bürgermeister der Stadt Asti, die Genehmigung erhielt, erstmals im Rahmen einer Ausstellung das angebliche Leichentuch Christi zu fotografieren. Als er abends in seiner heimischen Dunkelkammer die großen fotografischen Platten, die er zuvor belichtet hatte, entwickelte, dachte er für einen Augenblick, er hätte eine Erscheinung, würde Zeuge eines Wunders werden. Denn die schemenhaften, ja geisterhaften Konturen eines menschlichen Körpers und Antlitzes, die er aufgenommen hatte, erschienen auf der entwickelten Platte plötzlich völlig real, wie ein Foto. Das Grabtuchabbild hatte also, und niemand war bislang darauf gekommen, alle Charakteristiken eines fotografischen Negativs. Secondo Pia war sich sicher: Er war der erste Mensch seit genau 1868 Jahren, der Jesus von Nazareth, dem Sohn Gottes, wieder ins Antlitz schaute!
Natürlich informierte er gleich am nächsten Tag den Erzbischof von Turin, den italienischen König, zum damaligen Zeitpunkt Besitzer des Grabtuchs, und Papst Leo XIII. über seine Entdeckung. Der Papst war so beeindruckt, dass er das „heilige Antlitz“ millionenfach auf Gebetszettel drucken und zur Verehrung verteilen ließ. Doch es gab auch kritische Stimmen, die Secondo Pia offen des Betrugs bezichtigten. Erst als 1931, bei der nächsten Grabtuchausstellung, zum zweiten Mal ein Fotograf die Erlaubnis erhielt, Bilder zu machen, wurde der „Secondo Pia-Effekt“ bestätigt. Heute kann sich jeder, der das Grabtuch mit seinem Smartphone ablichtet und mit der entsprechenden App das Foto ins Negativ verkehrt, davon überzeugen, wie real dieser Effekt ist.
Mit Secondo Pias Zufallsentdeckung begann die Geschichte der modernen Grabtuchforschung. Auf einmal ahnte man, dass mehr dahinter steckte als eine „fromme Fälschung“, als die man seit der Aufklärung ganz pauschal alle Reliquien abtat. Der „Negativ-Effekt“ bewies: So einfach konnte und durfte man es sich dann doch nicht machen. Denn kein frommer Fälscher, kein Künstler im Mittelalter, konnte ahnen, wie ein Negativ-Gemälde aussehen musste. Vor der Erfindung der Fotografie war das einfach kein Thema!
Die ersten Wissenschaftler, die jetzt auf das Grabtuch-Abbild neugierig wurden, waren Mediziner: Ärzte und Pathologen. Sie stellten fest, dass, im Gegensatz zu allen Werken mittelalterlicher Kunst, sämtliche anatomischen Details auf dem Grabtuch-Abbild stimmig waren. Es gab keinen einzigen „Fehler“, keine einzige anatomische Unmöglichkeit. Das Bild zeigte einen menschlichen Leichnam, der den Torturen der Kreuzigung unterzogen worden war, in geradezu forensischer Präzision.
Erst Ende der 1968er Jahre erhielten weitere Naturwissenschaftler die Erlaubnis, Untersuchungen am Tuch selbst durchzuführen. 1978 hatten Top-Wissenschaftler der USA aus den Reihen der NASA, der US-Luftwaffenakademie und der staatlichen Rüstungslabors die Chance, 48 Stunden lang mit dem modernsten Equipment Daten zu sammeln, von denen noch heute die Forschung zehrt. Die Ergebnisse, die ihre Auswertung zutage förderten, waren frappierend. So fand man Pollen im Leinengewebe des Grabtuchs, die es ermöglichten, seinen Weg durch die Geschichte zurückzuverfolgen: Von Norditalien und Frankreich bis in den Raum Konstantinopel/Istanbul, Ostanatolien und das Heilige Land. Die beiden häufigsten Pollenarten stammten von Pflanzen, deren Abdrücke noch heute auf dem Grabtuch sichtbar sind: Sie kommen gemeinsam ausschließlich in dem schmalen Streifen zwischen Hebron und Jerusalem vor und blühen in den Monaten März und April. Auf den Fußsohlen und in der Knieregion des Körperbildes fanden sich Spuren von Straßenstaub, dessen geologische Signatur mit der des Gesteins von Jerusalem übereinstimmt. In der Augenregion fand man die Abdrücke zweier Münzen, die der römische Provinzstatthalter Pontius Pilatus 29-30 n.Chr in Judäa prägen ließ. Dort, wo der „Mann auf dem Grabtuch“ seine Wunden hat, identifizierten Mediziner menschliches Blut der bei uns seltenen, in Israel aber häufigen Blutgruppe AB. Genetiker konnten feststellen, dass der Tote Verwandte in der jüdischen Priestersippe der Leviten hatte. Die Webart des Leinens war durch und durch antik – auch wenn es wohl im Mittelalter zu Ausbesserungen an den Rändern kam, die vielleicht Ursache der widersprüchlichen C-14 Datierung von 1988 waren. Vor allem aber zeigte sich, dass das Abbild nicht „bloß“ ein fotografisches Negativ war: Es wies auch alle Eigenschaften eines Hologramms auf. Nicht Farbe oder Säure verursachte das dreidimensionale Körperbild, sondern Vergilbung. Es muss durch starke Strahlung praktisch in das Leinen „hineingebrannt“ worden sein.
Sehr diesen Menschen auf dem Tuch! Wer ist der Mann auf dem Grabtuch, wie unsere Ausstellung fragt? Wie Pathologen in einer Art „CSI Golgota“ nachwiesen, stimmen seine Verletzungen und die ermittelte Todesursache exakt mit dem überein, was uns die Evangelien über das Leiden und Sterben Jesu von Nazareth berichten. Nur in Judäa, wo die römische Besatzungsmacht zwischen 6 n.Chr. und 66 n.Chr. noch die jüdischen Gesetze respektierte, durften Gekreuzigte überhaupt ehrenhaft bestattet werden. Dürfen wir also, ganz wie die Jünger, als sie den Auferstandenen zu erblicken glaubten, hoffnungsvoll ausrufen: „Es ist der Herr!“? Ist das Turiner Grabtuch das Urbild aller Ikonen, geschrieben mit dem Blut der Passion und dem Licht der Auferstehung?
Mit dieser Frage werden wir konfrontiert, wenn wir vorurteilsfrei die Ergebnisse von über hundert Jahren Grabtuchforschung studieren. Und auf einmal scheint es zu uns zu sprechen. Oder besser: Wir sind, Dank der Wissenschaft, endlich in der Lage, seine Stimme zu vernehmen. Ist das nicht eine Ironie der Geschichte? Ausgerechnet jene Wissenschaft, die uns bereits als Ersatzreligion galt, die sich rühmte, den Glauben überflüssig zu machen, liefert jetzt den Schlüssel dazu, in einer Zeit der Wissenschaftsgläubigkeit, in der wir doch leben, als ob es Gott nicht gäbe, die Wahrheit der Evangelien, das Geheimnis der Passion Christi, neu zu entdecken? Und hat dieses Leinentuch vielleicht aus eben diesem Grund die Zeiten überdauert, um uns, Seite an Seite mit so vielen großen Wissenschaftlern, zurück zum Glauben zu führen? Eben das meine ich mit dem Bild von der „Zeitkapsel“!
Geben wir doch zu: Wir alle sind wie Thomas, der vermeintlich „Ungläubige“, der nur nicht blind glauben konnte und wollte, der, wie jeder wissenschaftlich denkende und gebildete Mensch, nach einem Beweis verlangte. Jetzt können wir, wie er, unseren Finger in Seine Wunden legen. Und „wer Augen hat, zu sehen und Ohren, zu hören“ wird dann vielleicht, wie er, auf die Knie fallen und dieses schönste aller Bekenntnisse des gesamten Neuen Testaments ausrufen: „Mein Herr und mein Gott!“ (Joh 20, 28).
Diözesanbischof Dr. Alois Schwarz; die Kuratorin der Ausstellung Bettina von Trott zu Solz; Michael Hesemann; Dr. Ulrich Glaunach von Kazenstain; Norbert von Salburg-Falkenstein (von links nach rechts)