Michael Hesemann, Historiker und Autor
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Veronika-Weisung im Vatikan, 2013 von Michael Hesemann fotografiert


Das Heilige Antlitz

Geschichte und Mythos der „wahren Abbilder“ des Herrn
in Turin, Rom und Manoppello

von Michael Hesemann
 
Sehr geehrte Damen und Herren,
 
vor ziemlich genau acht Jahren, am 1. September 2006, pilgerte Papst Benedikt XVI. in das Abruzzendorf Manoppello, um dort ein geheimnisvolles, lange verschollen geglaubten Christusbild zu verehren: das Volto Santo, das Heilige Antlitz, das uns auf einem hauchdünnen Schleier aus Muschelseide (Byssus) geheimnisvoll anlächelt. Eine Woche später, auf einer Generalaudienz am 6.9.2006, reflektierte er das Geschaute mit den Worten:
„Um es gemäß dem Paradox der Menschwerdung auszudrücken, können wir wohl sagen, dass Gott ein menschliches Antlitz angenommen hat, das Antlitz Jesu, und infolgedessen brauchen wir von nun an, wenn wir das Antlitz Gottes wirklich erkennen wollen, nichts anderes tun, als das Antlitz Jesu zu betrachten! In seinem Antlitz sehen wir wirklich, wer Gott ist und wie Gott ist!“

Was wissen wir über dieses geheimnisvolle Christusbild, das den Papst offenbar so tief bewegte? Seine dokumentierte Geschichte ist kurz erzählt. 1638 bekamen die seit 1620 in Manoppello angesiedelten Kapuziner das Volto Santo von Dr. Donato Antonio de Fabritijs geschenkt. 1640 veröffentlicht Fr. Donato da Bomba seine Nachforschungen über dessen Geschichte.

Danach habe ein Unbekannter (oder „Engel“) 1506 einem Dr. Giacomo Antonio Leonelli ein verschlossenes Paket mit dem Schleierbild übergeben. Das Tuch sei über Generationen vererbt worden, um 1608 Marzia Leonelli und ihrem Mann, dem Dieb Pancrazio Petrucci, versprochen, dann aber verweigert zu werden. Petrucci stahl es, landete wegen eines anderen Diebstahls im Gefängnis. Da verkaufte Marzia Leonelli das Tuchbild an de Fabritijs, um ihren Mann aus der Haft freizukaufen.

Von Anfang an war den Mönchen klar, dass es sich um kein gewöhnliches Kunstwerk handeln konnte; sie hielten es für das Werk eines Engels. 1703 versuchten die Mönche, den Schleier in einen anderen Rahmen zu legen – das Bild verschwand. 1977 ließ Bruno Sammariccia den Schleier mit dem polarisierenden Licht einer Wood-Lampe, die in langwelligem UV-Licht Details sichtbar macht, durchleuchten – das Bild schien nicht zu reagieren, das Licht ging ins Leere, „was den physikalischen Gesetzen widersprach.“  Diese Entdeckung veranlasste den Kapuzinermönch P. Domenico da Cese, die Öffentlichkeit über das Volto Santo zu informieren. Durch ihn erfuhr der Journalist Renzo Allegri von dem Schleierbild, veröffentlichte einen vielbeachteten Artikel. Die deutsche Trappistin Blandina Paschalis und der römische Kunsthistoriker Prof. Heinrich Pfeiffer SJ wurden auf Manoppello aufmerksam, schließlich der deutsche Journalist Paul Badde. Doch auch die wissenschaftlichen Forschungen gingen weiter:
  • 1999 untersuchte Prof. Donato Vittore/Uni Bari das Tuch, scannte es mit einem hochauflösenden Digitalscanner – und fand wider Erwartens keine Farbreste oder Lösungsmittel. Auch Wasserfarbe konnte ausgeschlossen werden.
  • 2001 untersuchte Prof. Giulio Fanti/Uni Padua den Schleier spektrographisch, mit ultraviolettem und infrarotem Licht. Seine 2007 veröffentlichten Ergebnisse: a/ In den Zwischenräumen der Fäden fanden sich keine Pigmente; b/ keine Pigmente sind für die Färbung der Fäden verantwortlich; c/ Ursache für die Färbung des Gewebes konnte nicht bestimmt werden. Fazit: Es war nicht das Werk eines Künstlers. Ein übernatürlicher Ursprung ist wahrscheinlich.
  • 2004/5 ließ Paul Badde es von der Muschelseideexpertin Chiara Vigo untersuchen: Es besteht aus Muschelseide (Alexandrinischer Byssus). Muschelseide lässt sich nicht bemalen!
  • Auch eine erneute Untersuchung 2007 durch Prof. Pietro Baraldi/Uni Modena ergab, dass es keine Fluoreszenz = keine Farbpartikel aufweist: „Das Bild sitzt substanzlos im Gewebe des Schleiers.“
 
Es scheint also offenbar tatsächlich ein Mysterium, ein Acheiropoieton, ein „nicht von Menschenhand gemachtes“ Wunderbild zu sein. Doch wie entstand es und wie kam es wirklich nach Manoppello? Prof. Heinrich Pfeiffer, SJ, Kunstgeschichtler an der Gregoriana, hält die Jahresangaben in der Geschichte des Volto Santo für einen versteckten Hinweis: 1506 wurde der Grundstein für den neuen Petersdom unterhalb des Veronika-Pfeilers gelegt. 1608 wurde das Schweißtuch der Veronika in seinen neuen Schrein überführt, 1628 der neue Petersdom eingeweiht.

Pfeiffer ist überzeugt, dass hier eine Verbindung besteht: Dass das Volto Santo das geheimnisvolle „Schweißtuch der Veronika“ ist, das im Mittelalter, speziell zu den Heiligen Jahren, die Pilger anzog – und dass es, weshalb auch immer, gegen eine andere Reliquie ausgetauscht und nach Manoppello gebracht worden ist.

Über 25 Millionen Pilger strömten im Heiligen Jahr 2000 nach Rom, um an den  Gräbern der Apostel zu beten und den Jubiläumsablass zu empfangen. Die Tradition der Heiligen Jahre geht auf Papst Bonifatius VIII. zurück, der 1300 das erste Jubeljahr ausrief. Erst alle hundert, dann alle 50 und schließlich alle 25 Jahre zogen seitdem die Pilger in die Ewige Stadt, um dort den „Jubiläumsablass“ zu empfangen. Die mittelalterlichen Rompilger besuchten natürlich die Apostelgräber, die sieben Pilgerkirchen. Aber ihr eigentliches Ziel war die Petrusbasilika – nicht den Papst, sondern Christus selbst hofften sie dort zu erblicken: Sein heiliges Antlitz auf dem Schleier der Veronika. Kein Geringerer als Dante verewigt dieses Streben im 31. „Gesang des Paradieses“ seiner „Göttlichen Komödie“:  

„Wie jener, der, vielleicht aus Kroatien, zu unserer Veronika mit altem Sehnen kommt, und sich nicht satt an ihrem Anblick sehen kann, und der, nachdem er sie geschaut, sich fragt: ‚Mein Herr Jesus Christus, wahrer Gott, bist Du als Mensch denn so erschienen?‘“

Der mittelalterlichen Legende nach war Veronika eine fromme Frau aus Jerusalem, die am ersten Karfreitag nach draußen lief, als sie den Lärm des Kreuzigungs-Zuges hörte. Sie sah Jesus, der unter Schmerzen den schweren Kreuzesbalken trug, sein schweißgenässtes, blutüberströmtes Gesicht. Aus Mitleid reichte sie ihm ihr Schweißtuch. Als er sich damit das Gesicht getrocknet hatte, gab er es ihr zurück – mit seinem eingeprägten Antlitz. Später brachte es Veronika mit nach Rom. Sein Anblick heilte den Kaiser Tiberius von einer schweren Krankheit.
 
In der Schatzkammer des Petersdomes findet sich noch heute der zerbrochene Rahmen aus der Zeit Innozenz III. (1198-1216), in dem den mittelalterlichen Pilgern die Veronika „gewiesen“ wurde. Doch auch heute noch werden im Petersdom jedes Jahr am Passionssonntag um 17.00 Uhr nach der Vesper die Gläubigen mit einer „Veronika“ gesegnet, die sich jetzt in einem schweren Metallrahmen aus dem 17. Jahrhundert befindet.
 
Was veranlasste also den mit Rom so gut vertrauten Jesuiten-Professor, die „wahre“ Veronika in Manoppello zu vermuten? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir einen Blick auf die „heutige Veronika“ werfen. Auch wenn es streng verboten ist, das Schweißtuch in seinem Metallrahmen aus der Nähe zu fotografieren, gibt es neben Teleobjektivaufnahmen noch einige präzise Reproduktionen wie jene, die Caterina Savelli im Jahre 1617 Kaiser Karl VI. schenkte und die sich heute in der Wiener Hofburg befindet. Sie alle zeigen das Antlitz als dunkle, fleckige Fläche, auf der sich bestenfalls Nase und Augen noch erahnen lassen. Tatsächlich bestätigen Kunsthistoriker und Historiker, die (wie der Autor dieser Zeilen) die Veronika in ihrer Kapelle aus nächster Nähe studieren konnten, dass auf ihr allenfalls Spuren eines Gesichtes, ein Haaransatz vor allem aber Flecken auf braunem Untergrund, zu sehen sind. Eine Untersuchung, in Auftrag gegeben durch die Fabbrica di S. Pietro, ergab den Grund: Im Mittelalter hatte man versucht, das Tuchbild durch die Bestreichung mit Fischöl zu konservieren, was allerdings den gegenteiligen Erfolg hatte: Das Leinen verfärbte sich tief braun, die Konturen verschwanden, eventuelle Farbe löste sich auf.

Dabei ist auch die vatikanische Reliquie verehrenswürdig. Als Papst Pius IX. 1848/9 nach Gaeta fliehen musste, ordnete er die tägliche Zeigung der Veronika im Petersdom an. Dabei kam es am 6.1.1849 zu folgendem Zwischenfall, von dem uns ein zeitgenössisches Dokument in den Archiven des Vatikans berichtet:
Der Hwst. Domherr Fantaguzzi zeigte um 14.45 die Reliquie, wie er es in den Tagen zuvor getan hatte, von der Loggia des S.Veronica. Während die Chorherren und die Priester auf die Knie fielen und die vorgeschriebenen Gebete verrichteten, wurde vor der Schließung des Schrankes beobachtet, wie in dem Abbild das lebendige Abbild unseres Herrn Jesus Christus, wie es noch nie zuvor in der Vergangenheit gesehen wurde, erschien. Zuvor war nicht die geringste Spur davon zu sehen gewesen. Egal, wie man das Bild hielt und ob man sich ihm näherte oder sich von ihm entfernte, das Bild blieb erhalten. 
Um den letzten Verdacht, es könne sich um eine Illusion handeln, zu widerlegen, lud man die Römer Luigi und Raffaele sowie Cioli, Nisini und Vallerano aus der Diözese Civitavecchia und den Sanpietrino Paolo Paraccini aus Rom, die auf dem Flur waren, ein. Sie hatten das heiligste Antlitz schon oft gesehen, sowohl in den letzten Tagen wie auch im Mai 1848, dich jetzt bestätigten sie einstimmig, was die Chorherren gesehen hatten und dass dies keine Illusion, sondern greifbare Wirklichkeit war.“

Fortan wurden idealisierte Reproduktionen an die Gläubigen ausgegeben, von den Domherren von St. Peter besiegelt. Der sel. Leo Dupont verbreitete die Verehrung des hl. Antlitzes in der gesamten katholischen Welt. Auch die hl. Theresia vom Kinde Jesu und dem hl. Antlitz, wie ihr vollständiger Name lautete, wurde von ihm inspiriert.

Doch ist die heutige „Veronika“ auch die „Veronika“ des Mittelalters?

Dagegen sprechen fast sämtliche Werke von Künstlern des 14. bis 15. Jahrhunderts, etwa Bertram von Minden (um 1400), des Meisters vom Flémalle (um 1430), die zwischen 1345 und 1425 entstandene Darstellung des Schweißtuches im Frankfurter Kaiserdom oder das um 1355 im Auftrag Karls IV. entstandene Fresko im kaiserlichen Schlafzimmer auf der Burg Karlstejn bei Prag, um nur vier Beispiele zu nennen – sie gleichen wie Zwillinge dem Volto Santo von Manoppello, nicht aber der heutigen „Veronika“ von Rom. Selbst bei dem Christusmosaik in der Basilika St. Paul vor den Mauern, das Papst Innozenz III. (1198-1216) in Auftrag gab, scheint das Muschelseidenbild das Vorbild geliefert zu haben.

Auch ein Augenzeugenbericht aus dem Jahre 1511, er stammt von dem deutschen Augustinermönch Dr. Martin Luther, passt eher zum Volto Santo als zur heutigen „Veronika“:
„Veroniken thun und geben sie für, es sei unseres Herrn Angesicht in ein Schweißtüchlein gedruckt“, schreibt Luther. Dabei handle es sich doch um
„nichts denn ein schwartz Bretlin, viereckt. Da henget ein klaret lin für, darüber ein anderes klartet lin, welches sie auffzihen, wenn sie die Veronica weisen. Da kann der arm Hans von Jena nicht mehr sehen denn ein klaret lin für einem schwarzen bretlin.“

Tatsächlich ist die heutige „Veronika“ alles andere als ein „klaret lin“ (helles Leinen), sehr wohl aber der Schleier von Manoppello, auf dem tatsächlich bei zu starker Lichteinstrahlung das Abbild zu verschwinden scheint.

Der Zeitpunkt, als das heute als „Veronika“ verehrte Bild das Volto Santo – die Veronika des Mittelalters? – ersetzte, lässt sich ziemlich genau datieren. Er muss zwischen 1617 und 1635 angesetzt werden: also genau zwischen dem angeblichen Diebstahl durch Petrucci 1608 und die Übergabe an die Kapuziner 1638!
1618 veröffentlichte Giacomo Grimaldi, einer der Kanoniker des Petersdomes, sein „Opusculum“ „über die allerheiligste Veronika und die Lanze, welche unserem Herrn Jesus Christus in die Seite gestoßen wurde, die sich beide höchster Verehrung in der vatikanischen Basilika erfreuen“. Das Titelblatt zierte ein Holzschnitt, der ziemlich eindeutig das Volto Santo in einem Schaurahmen zeigt. Doch 1635 erschien das Buch quasi in zweiter Auflage. Wieder schmückte die Veronika das Titelblatt, doch diesmal sah sie ganz anders aus: ziemlich exakt wie die Wiener Veronika-Kopie von 1617.

Wenn aber das Volto Santo die „ursprüngliche“, jedenfalls vom 13. bis 16./frühe 17. Jh. im Petersdom verehrte „Veronika“ ist, ergeben sich daraus zwei Fragen:
  1. Wann und wie kam es nach Rom?

    2. Was ist das heute als „Veronika“ verehrte Bild?
Der Anfang der „Veronika“-Verehrung im Petersdom lässt sich exakt datieren. Es war 705, als Papst Johannes VII. (705-707)  „das Ziborium des hochheiligsten Schweißtuches der Veronika und der Gottesmutter Maria“ in der damaligen konstantinischen Basilika weihte.

Dieses Jahr ist insofern relevant, weil es zusammenfällt mit dem Verschwinden des wichtigsten „nicht von Menschenhand gemachten“ Christusbildes der frühbyzantinischen Zeit, des „Schleiers von Kamulia“. Dieses Tuchbild, das Christi Antlitz zeigte, galt als Palladium; ihm schrieb man die Wirkkraft zu, das Reich und die Hauptstadt vor allem Unheil zu bewahren.

695 zog Kaiser Justinian II. (685-95 sowie 705-711) mit diesem Schleierbild in die Schlacht von Sebasteia …  und verlor. Der Empfang in der Hauptstadt war eisig. Seine Gegner hatten geputscht, ergriffen den besiegten Herrscher und schnitten ihm die Nase ab; ein Verstümmelter konnte nie mehr Kaiser werden. Dann verbannten sie ihn in die Steppen Skythiens, der heutigen Ukraine.

Doch Justinian gab nicht auf. Um wieder Kaiser sein zu können, ließ er seine Nase durch eine Prothese aus purem Gold ersetzen. Er schlug sich nach Westen durch, heiratete eine bulgarische Prinzessin und zog gen Konstantinopel, das er 705 mit Hilfe bulgarischer Truppen eroberte. Wieder an der Macht, übte der „Goldnasige“, wie er jetzt hieß, blutige Rache. Seine einstigen Gegner und alle, die er für Verräter hielt, ließ er hinrichten, Patriarch Kallinikos aber blenden und nach Rom verbannen. Auch das bislang verehrte Heilige Antlitz von Kamulia, das er für seine Niederlage verantwortlich machte, verschwand aus der Hauptstadt. Hatte er zuvor ein Christusbild auf seine Goldmünzen geprägt, das dem Volto Santo gleicht, zeigten die Münzen nach 705 einen ganz anderen Christus, mit „syrischer“ Lockenfrisur und einem sauber frisierten Bart. Kann es ein Zufall sein, dass das Jahr, in dem der Kamulia-Schleier verschwand, zugleich das Jahr ist, in dem die römische Veronikaverehrung begann?

Was wissen wir über dieses Schleierbild? Bereits im 4. Jahrhundert wurde es in Kamulia bei Caesarea in Kappadozien verehrt; viele Legenden, meist wenig plausibel, versuchten, seine Entstehung zu erklären. Meist hieß es, Christus sei einer Heidin auf diesem Tuch erschienen. Angeblich sollen es Nonnen aus Melitene (Malatya) mitgebracht haben. Bischof Gregor von Nyssa, einer der „kappadokischen Väter“ und Kirchenlehrer, gehörte zu seinen größten Verehrern.
574 ließ es Kaiser Justin II. nach Konstantinopel bringen. Der byzantinische Chronist  Theophylaktus Simokatta beschrieb es als Tuchbild, „von dem es heißt, seit alters und bis in unsere Zeit gilt, dass göttliche Kunst es gebildet, nicht eines Webers Hände es gewirkt, noch eines Malers Paste es gefärbt hat.“
Im gleichen Jahr, 574, stiftete Justin II. dem Papst die Crux Vaticana (Justinkreuz) mit seinen eindrucksvollen Christusbildern, von denen zumindest Prof. Dr.Dr.Dr. Andreas Resch von der Päpstlichen Lateranuniversität annimmt, sie seien durch das Schleierbild des Volto Santo inspiriert.
Von einer Frau namens Veronika war damals noch keine Rede. Schon das lässt uns annehmen, dass auch ihre Geschichte bloß eine fromme Legende ist, mit dem Ziel, die Entstehung des geheimnisvollen Schleierbildes zu erklären. Deren Evolution kann historisch belegt werden:

330: Eusebius von Caesarea berichtet von einer Frau namens Berenike, der „Blutflüssigen“ aus den Evangelien, die Jesus bei Caesarea Philippi (Banyas) eine Statue errichtete.
4. Jh.: In den apokryphen „Pilatus-Akten“ reist diese Frau zu Tiberius, um Jesu Unschuld zu bezeugen.
7. Jh.: Die „Cura Sanitatis Tiberii“ behauptet, Tiberius habe, schwer erkrankt, von Jesus gehört, einen Beamten nach Judäa geschickt. Der habe von der „Blutflüssigen“, einer Frau namens Veronika oder Basilla aus Tyrus gehört, die aus Dankbarkeit zu Jesu Lebzeiten ein Bild von ihm gemalt habe. (Der Name geht offenbar auf eine Verwechslung mit Berenike, Tochter Herodes Agrippas und Königin=Basileia von Chalkis im Libanon zurück) Das bringt sie nach Rom, der Kaiser sieht es, ist geheilt. Er lässt es kostbar rahmen und im Lateranpalast aufstellen.
1050: In der lateinischen Pilatus-Prosa wird aus dem Bild ein Wunderbild.
Ca. 1270: Noch in der „Legenda Aurea“ des Jacobo de Voragine FEHLT der Bezug zur Passion.
12. Jh.: In der französischen Legende wird die Veronika zum Passionsbild…
… zur VERA ICONIA = wahres Abbild, der Name des Bildes, der wohl zu der Legende inspirierte!

Die Vorlage dieser Legendenbildung ist schnell ermittelt:
330: Eusebius berichtet von König Abgar von Edessa, der, schwer erkrankt,in einem Brief Jesus zu sich einlädt. Jesus verspricht, ihm „nach seiner Erhöhung“ einen seiner Junger (Judas Thaddäus) zu schicken.
400: Nach der „Doctrina Addai“ fertigte der Gesandte Abgars ein Jesus-Portrait „in erlesenen Farben“ an.
7. Jh. Laut der „Acta Thaddei“ mißlang dieses Porträit. Jesus wusch sich, trocknete sich mit einem „rakos tetradiplon“ oder „sindon“ ab, sein Abbild blieb zurück.
6. Jh.: Laut Evagrius Scholasticus wollte ein Nachfolger Abgars das Tuch zerstören lassen. Der Bischof mauerte es über einem Stadttor ein, wo es 525 bei einer Überschwemmung wiederentdeckt wurde.
944 gelangte es nach Konstantinopel.
Dieses Tuch, auch „Mandylion“ (Handtuch) genannt, kann also NICHT die Veronika gewesen sein, die im 4. Jh. in Kamulia verehrt und 574 nach Konstantinopel gebracht wurde, wo sie 705 verschwand.
Als es 944 nach Konstantinopel gebracht wurde, stellte der Chronist Stylitzes das „wunderbare Abdrucktuchbild“ als etwa vier Meter langes „Laken“ dar. Fortan, jedenfalls bis 1204, blieb es in der byzantinischen Hauptstadt.

Umso mehr spricht für eine andere Deutung, nach der es sich bei dem sagenhaften Mandylion um nichts anderes als das Grabtuch (sindon) Jesu mit seinem mysteriösen Ganzkörperbild gehandelt hat, das heute in Turin verehrt wird.
Tatsächlich deutet alles darauf hin, dass das Turiner Grabtuch einmal in Konstantinopel war, dessen wichtigste Reliquien im 4. Kreuzzug 1204 gestohlen und nach Westeuropa gebracht worden waren.

So prägten die Kaiser des oströmischen Reiches, dessen Hauptstadt Konstantinopel war, seit 944 ein geheimnisvolles Christusbild auf ihre Münzen, das ziemlich deutlich an das Grabtuchabbild erinnert. In den Reliquiensammlungen der Kaiser wird ausdrücklich das Grabtuch Jesu, das Sindon, genannt, das „den konturlosen, mit Myrrhe gesalbten, nackten Körper nach der Passion umhüllte“, wie es in einer Beschreibung heißt.

1150 besuchte eine ungarische Delegation Konstantinopel. Ihr wurde die Reliquiensammlung der byzantinischen Kaiser gezeigt. Nach ihrer Rückkehr illustrierte ein Kleriker, der ihr angehört hatte, den „Codex Pray“, das älteste Evangeliar in ungarischer Sprache mit Bildern von der Grablegung Jesu und von der Auffindung des leeren Grabes. Der Leichnam hat exakt die Pose des Mannes auf dem Grabtuch. Und das aufgefundene Leinentuch weist nicht nur ein Fischgrätmuster auf, sondern auch die viermal vier Brandlöcher, die wir noch heute auf dem Grabtuch finden!
Die letzte reguläre Ausstellung dieser bedeutenden Reliquie fand im Frühjahr 2010 statt. Wieder standen die Menschen, dieses Mal ganze 2,1 Millionen, einige Stunden lang geduldig Schlange, um, für nur wenige Minuten, meist betend und kontemplierend, aber oft auch nur neugierig, mit Kameras jeder Art ausgerüstet, vor dem geheimnisvollen Abbild eines gekreuzigten Mannes innezuhalten.

Doch was ist es, das die Menschen wieder einmal anzog zu einer der größten Wallfahrten des Kontinentes? Auf den ersten Blick handelt es sich beim Turiner Grabtuch um ein Leinen, 4,40 Meter lang und 1,10 Meter breit, dessen Körperbild geradezu schattenhaft wirkt, ja manchmal sogar zu verschwinden scheint. Erst im fotografischen Negativ wirkt es realistisch.

Das aber ist eine Entdeckung der Moderne, die gleichermaßen zur Geburtsstunde einer neuen Wissenschaft wurde: Als 1898 schon einmal das Grabtuch in Turin gezeigt wurde, erhielt der Hobbyfotograf, Anwalt und Bürgermeister von Asti, Secondo Pia, die Erlaubnis, es zum ersten Mal in der Geschichte zu fotografieren. Minutenlang belichtete er vier fotografische Platten. Als er sie abends in seiner Dunkelkammer entwickelte, stockte ihm der Atem. Denn auf dem Negativ erschien ein ganz anderes Bild, das jetzt wie ein Foto, ein Positiv, wirkte. Ein Effekt, den jeder nachprüfen kann, denn heute lassen sich Digitalbilder am Computer ganz einfach ins Negativ „umkehren“. Was auf dem Tuch schattenhaft erscheint, wirkt im Negativ realistisch. Das Tuchbild selbst hat also die Eigenschaften eines fotografischen Negativs. Doch wie ist es entstanden? Bis zur Erfindung der Fotografie im 19. Jahrhundert konnte kein Mensch erahnen, was ein Negativbild überhaupt ist. Nie hat ein Künstler negativ gemalt. Ein Kunstwerk kann es also nicht sein. Aber was ist es dann?

Die Wissenschaft war gefragt und begann, sich des Grabtuchs anzunehmen. Zuerst waren es Ärzte, Pathologen, die  feststellten, dass das Körperbild viel realistischer war als alles, was die Kunst bis dahin produziert hatte. In allen Details entsprach es dem medizinischen Befund, den man bei einem Kreuzigungsopfer erwarten konnte. Schließlich wurde 1973 von seinem damaligen Besitzer, dem Oberhaupt des Hauses Savoyen und Italiens Ex-König Umberto II., die Genehmigung erteilt, das Grabtuch wissenschaftlich zu untersuchen. Im Herbst 1978, nach der bislang längsten Grabtuchausstellung der Geschichte, hatten amerikanische, schweizer und italienische Wissenschaftler ausgiebig die Chance zu einer Datensammlung und akribischen Studie. „Das „Shroud of Turin Research Project“ (STURP) war geboren, die Entdeckungen der Wissenschaftler waren spektakulär.

Bereits 1973 hatte der Schweizer Krimonologe und Botaniker Prof. Dr. Max Frei-Sulzer das Grabtuch auf Pollen hin untersucht. An mehreren Stellen drückte er Klebestreifen fest auf das Leinen, zog sie wieder ab, klebte sie auf einen Objektträger und schob diesen später unter sein Mikroskop. Dabei war er in der Lage, 58 verschiedene Pollenarten zu identifizieren. Sie stammten aus drei Regionen der Erde: Westeuropa, also Frankreich und Norditalien, der heutigen Türkei, sowohl dem Umland von Istanbul wie dem Anatolischen Hochland, und dem Heiligen Land.

Fast die Hälfte der auf dem Tuch entdeckten Pollen, nämlich 91, stammten von einer einzigen Pflanze, der „Dornigen Diestel“, lateinisch: Gundelia tournefortii. Sie wächst in einem breiten Streifen von der Türkei bis ins Persische Hochland und, nach Süden hin, bis ins Bergland von Juda. Umso erstaunlicher war, als der israelische Botaniker Prof. Avinoam Danin auf dem Grabtuch auch noch Abdrücke dieser Diestelart entdeckte. Zudem stieß er auf Abdrücke und Pollen einer weiteren Pflanze, dem „Buschigen Jochblatt“, lat. Zygophyllum dumosum. Sie kommt nur auf dem Sinai, in der Negev und rund um das Tote Meer vor. Es gibt nur einen einzigen Ort auf der Welt, an dem man auf beide Pflanzengleichzeitig treffen kann: den schmalen Streifen von Jerusalem bis Hebron. Der einzige Zeitraum, in dem beide Pflanzen blühen, sind die Monate März und April.

Mediziner untersuchten die Blutflecken auf dem Grabtuch und stellten fest: Es ist menschliches Blut. Sie identifizierten rote Blutkörperchen und waren sogar in der Lage, die Blutgruppe zu bestimmen: AB. Sie ist in Europa extrem selten, kommt aber recht häufig ausgerechnet in Israel vor.
Die Textilarchäologin Dr. Mechthild Flury Lemberg stellte fest, dass das Tuch von antiker Webart ist. In der Antike wurden Leinenfäden gefärbt, bevor man sie verarbeitete, was zu Farbvariationen führte, während man im Mittelalter erst das fertiggestellte Gewebe färbte. Das Fischgrätmuster, in dem das Tuch gewoben wurde, war schon den alten Ägyptern bekannt. Die Webkantenbildung, so stellte Flury-Lemberg fest, gleicht der von Stoffen, die in den Ruinen von Masada entdeckt wurden, einer im Jahre 73 n.Chr. von den Römern zerstörten Felsenfestung.

In den USA fütterte einer der Wissenschaftler, Prof. John Jackson von der US Airforce Academy, Fotos des Grabtuchs in einen Computer der Raumfahrtbehörde NASA, der dem Zweck diente, Sondendaten vom Mars zu verarbeiten, den sogenannten VP-8. Zeile für Zeile baute sich am Bildschirm das dreidimensionale Bild eines liegenden Mannes auf! Das Grabtuchabbild war also mehr als ein Negativ, es wies die Eigenschaften eines Hologramms auf. Kein Gemälde könnte diesen Effekt bewirken und auch kein Foto, das immer nur das von einem Körper reflektierte Licht festhalten würde. Der Befund lässt sich nur dadurch erklären, dass der Körper selbst die Lichtquelle war. Tatsächlich ist das Körperbild an jenen Stellen am intensivsten, an denen das Tuch dem Körper am nächsten kam, während es schwächer dort ist, wo der Abstand zunahm.

Auf den Augen entdeckten die Wissenschaftler kreisrunde Erhöhungen, die an Münzen erinnerten. Tatsächlich ließen sich in der Vergrößerung Zeichen und Schrift ausmachen – nämlich die Buchstaben Y CAI. Numismatiker waren in der Lage, sie einer Münze zuzuordnen, die zwischen 29 und 32 n.Chr. von Pontius Pilatus, dem Statthalter von Judäa, geprägt wurde. Ihre griechische Aufschrift lautete TibepioY KAIcapos (Tiberiou Kaisaros). Doch es gab auch Fehlprägungen zu Anfang dieser Serie. Auf ihnen war das „Kaisaros“ versehentlich (wie Caesar) mit C geschrieben – „Caisaros“! Von diesen Münzen sind heute nur drei Exemplare bekannt. Sie entsprechen exakt dem Abdruck auf dem Grabtuch.

Das war eine eindeutige, äußerst präzise Datierung. Doch eine Datierung mit der Radiokarbondatierung kam zu einem anderen Ergebnis. Dafür hatte man drei Fragmente vom Rand des Grabtuchs abgetrennt und sie an Labors in Arizona/USA, Zürich und Oxford geschickt. Das Ergebnis: Ihr Leinen sei angeblich erst zwischen 1260 und 1390 n.Chr. entstanden: ein Schock für die Fachwelt!

Wie läßt sich der Widerspruch erklären: Der Chemiker Prof. Ray Rogers von den Los Alamos National Laboratories und der University of California war überzeugt, dass der Rand, von dem die Proben entnommen wurde, später angenäht oder ausgebessert worden ist. Tatsächlich enthält er, anders als der Rest des Grableinens, auch Baumwollfäden. Zudem weist er einen Vanillingehalt  von 37 % auf, während dieser beim restlichen Leinen unter 5 % liegt – übrigens der gleiche Vanillingehalt, wie ihn die Leinenbinden aufweisen, in die die Schriftrollen vom Toten Meer gehüllt waren. Danach wäre das Grabtuch doch ca. 2000 Jahre alt.

Doch auch ein anderer Faktor kann zu einer Fehldatierung geführt haben – Kontamination. So versagte die C14-Methode schon bei der Datierung von Leinenbinden ägyptischer Mumien, die bis zu 1700 Jahre jünger schienen als die Leichen selbst. Der Mikrobiologe Prof. Garza Valdez stellte fest, dass ein bioplastischer „Mantel“ aus Bakterienresten der Grund dafür ist. Eine solche „bioplastische Beschichtung“ stellte er auch beim Grabtuch fest.

Wie entstand das schattenhafte Körperabbild? Sicher ist: Es ist kein Gemälde. Es muss nach den Blutflecken entstanden sein, denn er setzt sich nicht unter dem Blut fort. Jeder Maler aber hätte zuerst den Corpus gemalt, dann die Blutflecken hinzugefügt. Tatsächlich sind einige der größten Künstler, darunter Albrecht Dürer , schon daran gescheitert, das Grabtuch zu reproduzieren, da sie seinen Negativeffekt nicht verstanden.

Die Wissenschaftler des STURP-Projektes, die das Grabtuch minutiös untersuchten, stellten fest: Das Körperbild ist hauchdünn. Es existiert nur auf einer haarfeinen Schicht der obersten Fasern des Leinengewebes. Es ist das Produkt einer starken Vergilbung und Ausdörrung der Fasern. Es muss kurzfristig durch eine starke Strahlung entstanden sein. Tatsächlich berichten die Jünger, wie der Körper Jesu zu strahlen begann – nämlich im Moment der Verklärung auf dem Berg Tabor. „Sein Antlitz strahlte wie die Sonne und seine Kleider wurden weiß wie das Licht“, heißt es bei Matthäus (17,2). Geschah ähnliches im Moment der Auferstehung?

Eine Reihe von Wissenschaftler, darunter Prof. John Jackson, Prof. Fanti, Prof. Lindner aus Karlsruhe, sind überzeugt: Das Bild muss entstanden sein, als das Tuch praktisch durch den Körper „hindurch fiel“, als sich dieser sich in Energie verwandelte und dabei Strahlung abgab. So phantastisch das klingen mag, es erklärt perfekt den Befund: Dass die Vorderseite dreidimensionale Informationen beinhaltet, während das Rückenbild flach wirkt. Dass es keine Verzerrungen gibt. Dass sich Münzen „aufluden“ und ihren Abdruck in das Tuch brannten. Dass, wie bei einem Röntgenbild, die Fingerknochen durch den Handteller hindurch sichtbar sind. Und dass die Evangelien beschreiben, wie Jesus nach seiner Auferstehung sogar durch verschlossene Türen eintreten konnte.

Das aber hieße: Das Grabtuch ist der beste Beweis für die physische Realität der Auferstehung Jesu!.

Prof. Minarro, forensischer Künstler der Universität Sevilla, rekonstruierte das Gesicht des „Mannes auf dem Grabtuch“. Indem der alle Spuren der Misshandlung reduzierte, zeigte er aber auch, wie dieser vor der Passion ausgesehen hat. Tatsächlich gleicht die Büste, die Prof. Minarro rekonstruierte, wie ein Zwilling den frühesten Jesusdarstellungen der christlichen Ikonographie, etwa einem Fresko in der römischen Katakombe S. Pietro e Marcellino. Aber sie gleicht auch der ältesten Ikone der Welt, die sich heute in der Mathildenkapelle des Vatikans befindet und aus Edessa stammt, der Stadt des Mandylions. Experten datieren sie in das 3. Jahrhundert. Ohne Zweifel wurde sie vom Grabtuchabbild inspiriert. Tatsächlich gibt es Berichte aus Edessa, dass eine Ikone, die das Mandylion repräsentieren sollte, auf einem Thron am Eingang der lokalen Kathedrale den Gläubigen zur Verehrung dargeboten wurde; das wahre Mandylion, das heilige Tuchbild, wurde dagegen in einem Schrein aufbewahrt. Nur einmal im Jahr durfte der lokale Bischof allein ihn öffnen und das „doppelt vierfach gefaltete“ Leinen verehren.

Während sich die älteste Mandylion-Ikone heute im Vatikan befindet, wird eine fast identische Kopie aus dem Mittelalter in der Armenierkirche von Genua verehrt.  Charakteristisch ist beiden ein Goldrahmen, der lediglich das Gesichtsfeld freiläßt und nach unten hin in drei Spitzen – wohl für das lange Haar und den Bart – mündet. Er scheint Teil der Präsentation der Ikone schon in Edessa gewesen zu sein, heißt es doch in der Abgar-Legende, der König habe das Leinen „auf ein Brett aufgezogen und mit Gold geschmückt“. Kein Zufall kann darum sein, dass die „heutige Veronika“ im Petersdom ebenfalls durch einen solchen Goldrahmen auffällt. Vielmehr verrät es uns, dass das, was heute den Gläubigen im Petersdom jedes Jahr zur Verehrung dargeboten wird, nur eine frühe, wenn auch stark zerstörte Kopie der Mandylion-Ikone (nicht zu verwechseln mit dem „wahren Mandylion“, dem Grabtuch) von Edessa sein kann. Vielleicht ist sie bereits im 4. Jahrhundert nach Rom gekommen; dem Christusbild in der Katakombe S. Pietro e Marcellino scheint sie jedenfalls als Vorbild gedient zu haben.

Erst 705, so scheint es, wurde ihre Verehrung durch den Kamulia-Schleier/das Volto Santo abgelöst, in dem man, im Gegensatz zu der eindeutig gemalten Ikone, das „wahre Abbild“ des Herrn, die Vera Iconia also, zu erkennen glaubte.

Die Existenz der beiden „Heiligen Bilder“ im Petersdom, die vielleicht bald zu unterschiedlichen Zeitpunkten den Gläubigen gezeigt wurden – die dunkle Mandylion-Ikone in der Fastenzeit, das helle, transparente Schleierbild zu Ostern und in den Heiligen Jahren – führte zu scheinbar widersprüchlichen Darstellungen und Beschreibungen. Heißt es etwa in dem von Papst Innozenz IV. verfassten Hymnus „Ave facies praeclara“, offenbar auf die Mandylion-Kopie bezogen: „So bleich geworden auf dem heiligen Altar des Kreuzes … in Ängsten geschwärzt, mit heiligem Blute bedeckt“, preist Innozenz III. in „Salve sancte Facies“ offenbar das Muschelseidentuch: „Gottes Glanz scheint auf in Dir: in schneeweiß helles Tuch versenkt (…) Sei gegrüßt, schöner Schleier. Edles Spiel zu unserem Trost. Lebendige Erinnerung an den, der uns zur wahren Freude und einem guten Ende ein sterbliches Körperchen annahm. (…) Nicht von Menschenhand gemalt oder geformt; seht dass der höchste Künstler hier am Werke war.“

Doch ist das Volto Santo, das vielleicht über Kamulia, Konstantinopel und Rom nach Manoppello kam, auch eine Reliquie? Könnte es das „Sudarium“ aus Joh 20,38 gewesen sein, wie Paul Badde annimmt? Dagegen spricht allerdings, dass keine Tradition, keine Quelle diese Verbindung herstellt. Daher möchte ich zumindest eine alternative Hypothese anbieten, die es trotzdem mit dem leeren Grab in Verbindung bringt.
Sie hat als Kronzeugen keinen Geringeren als den Bruder des hl. Gregor von Nyssa, der den Kamulia-Schleier so sehr verehrte, nämlich den kappadokischen Kirchenvater Basilius der Große. Laut einer georgischen Handschrift aus dem 6. Jh., die Remi van Haelst publizierte, erklärte dieser in einer Predigt zum Fest der „Entschlafung der Gottesmutter“:

 „Nach der Himmelfahrt (ihres Sohnes Jesus) bewahrte die unbefleckte Jungfrau das Bild auf, das sie aus den Händen Gottes erhalten hatte und das auf (oder über) dem Grabtuch Jesu entstanden war. Sie trug das Bild stets bei sich, um das wunderbare Antlitz ihres Sohnes immer betrachten und verehren zu können. Jedes Mal, wenn sie zu ihrem Sohn beten wollte, platzierte sie das Bild nach Osten hin und betete, den Blick auf das Antlitz gerichtet, mit erhobenen, offenen Händen. Als die Bürde ihres ganzen Lebens von ihr genommen wurde, trugen die Apostel sie auf einer Bahre in eine Grabhöhle. In dieser Höhle legten sie Maria vor das Bild ihres Sohnes.“

Die Legende besagt, dass es der  Apostel Thomas war, der das Grab Mariens leer auffand und eine Reliquie daraus, ihren Gürtel nach Emesa in Syrien brachte. Umso erstaunlicher ist ein Hinweis Klaus Bergers, dass wir in den aus dem 3. Jahrhundert stammenden „Thomasakten“ (3. Jh.) Zeilen finden, als Beschreibung des Volto Santo gedeutet werden könnten:
„Auf chinesischem Stoff (Seide!), mit Rötel geschrieben, mit seinem Aussehen vor mir strahlend, mit der Stimme seiner Führung gab er mir Mut und zog mich mit seiner Liebe.“

Beide Zitate sind freilich Anhaltspunkte, die allenfalls zu Spekulationen einladen, uns auch über die Vorgeschichte dieses geheimnisvollen Schleierbildes Gedanken zu machen. Da ist noch vieles offen und ungeklärt. Doch auch das mag den Christen nicht davon abhalten, nach Manoppello zu pilgern, um Ihn zu suchen, der Mensch und damit Form und Bild geworden ist. Und dann, wie Papst Benedikt XVI., der zum Jahrestag seines Besuches in Manoppello, dieses „Gebet zum Heiligen Antlitz“ verfasste, Ihn anzurufen:

„Zeige uns, so bitten wir Dich, Dein immer neues Antlitz, 
geheimnisvoller Spiegel der unendlichen Barmherzigkeit Gottes. 
Lass es uns mit den Augen des Geistes und des Herzens betrachten: 
Antlitz des Sohnes, Abglanz der Herrlichkeit des Vaters und Abbild seines Wesens,  
menschliches Gesicht Gottes, der in die Geschichte eingetreten ist, 
um die Horizonte des Ewigen zu enthüllen.
Stilles Antlitz des leidenden und auferstandenen Jesus,
geliebt und angenommen verwandelt es Herz und Leben.“