Michael Hesemann, Historiker und Autor
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Michael Hesemann schreibt an Bundesaußenminister Dr. Frank Walter Steinmeier


Herrn
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Bundesminister des Auswärtigen
Auswärtiges Amt
 
11013 Berlin
poststelle@auswaertiges-amt.de

27. April 2015
 
 
Sehr geehrter Herr Minister,
 
gerade komme ich von einem Ereignis, auf dem ich Sie eigentlich gerne gesehen hätte, zurück, nämlich der Völkermord-Gedenkfeier in Jerevan/Armenien. Nun, zumindest hat sich Deutschland in der besagten Bundestagsdebatte zu seiner Mitschuld an diesem größten Verbrechen des Ersten Weltkriegs bekannt.
 
Um mich kurz vorzustellen: Ich bin Historiker und habe im Vatikanarchiv zu den Ereignissen von 1915-1918 recherchiert, rund 2500 Seiten bislang unveröffentlichter Dokumente ausgewertet und dazu ein Buch verfasst, das im März unter dem Titel „Völkermord an den Armeniern“ erschien. Ich habe ebenfalls ein Buch zum Nationalsozialismus geschrieben, „Hitlers Religion“, das von der Fachwelt weitgehend positiv aufgenommen und in Deutschland und Polen zum Bestseller wurde. Ich denke, diese wissenschaftliche Tätigkeit befugt mich, mir ein eigenes Urteil in dieser Frage zu erlauben.
 
Umso unverständlicher, ja erschreckender erscheinen mir Ihre Worte in Ihrem Gespräch mit dem „Spiegel“, veröffentlicht in der jüngsten Ausgabe des Nachrichtenmagazins vom 25.4.2015. Darin bezeichnen Sie „die Sprachlosigkeit zwischen Türken und Armeniern“ als das „eigentliche Problem“ und warnen, „dass wir am Ende nicht denen recht geben, die ihre eigentliche politische Agenda verfolgen und sagen: Der Holocaust hat eigentlich vor 1933 begonnen.“
 
In beiden Punkten muss ich Ihnen entschieden widersprechen:

1. Das Problem ist nicht die „Sprachlosigkeit“ zwischen Türken und Armeniern. Das Problem ist, dass die Türkei bis heute beharrlich leugnet, dass ein geplanter Völkermord an den Armeniern stattgefunden hat, während alle historischen Fakten, auch die Dokumente aus Ihrem eigenen Archiv, das Gegenteil belegen. Ich zitiere nur, was der damalige türkische Innenminister Talaat Pascha dem deutschen Generalkonsul Johann Heinrich Mordtmann laut dessen Information an das Auswärtige Amt erklärte. Talaat, so Mordtmann „äußerte sich ohne Rückhalt über die Absichten der Regierung, die den Weltkrieg dazu benutze um mit ihren innern (sic!) Feinden – den einheimischen Christen aller Konfessionen  – gründlich aufzuräumen, ohne durch diplomatische Interventionen des Auslandes gestört zu werden.“[1] Gewöhnlich haben sich die Täter bei ihren Opfern zu entschuldigen. Es ist nicht die Sache Jerevans, mit den Türken zu diskutieren, ob denn 1,5 Millionen Armenier wirklich absichtlich ermordet wurden. Es ist die Sache Ankaras, sich bei den Armeniern zu entschuldigen und Wiedergutmachung für die türkischen Verbrechen zu leisten! Das ist der einzige Weg zur Aussöhnung. Oder hätten Ihrer Ansicht nach auch die Juden höflich darum bitten müssen, dass sich Deutschland endlich dazu bequemt, sich zum Holocaust zu bekennen? Als Christ glaube ich, dass in jedem Fall Versöhnung und Vergebung möglich sind. Sie setzen aber immer eines voraus: Bekenntnis und Reue! Dass die Türkei eben dazu nicht bereit ist, dass sie stattdessen ihre Verbrechen negiert, jede Erinnerung an sie diplomatisch oder mit wilden Schimpftiraden (wie gegen den Papst oder auch den Bundespräsidenten) zu unterdrücken versucht, dass sie damit nach hundert Jahren noch immer die Täter schützt und die Opfer verhöhnt (bis hin zu der perfiden Unterstellung, die Armenier seien selber schuld an ihrem Schicksal gewesen, weil sie doch die Chuzpe hatten, rechtliche Gleichstellung und politische Mitbestimmung zu fordern), das ist das eigentliche Problem und der Grund dafür, dass die Wunden bis heute nicht verheilen konnten. Deutschland hätte gerade als ehemaliger Verbündeter des Osmanischen Reiches, als Mitwisser (wie Ihre eigenen Archivdokumente zu Genüge belegen) und in einzelnen Fällen sogar als Mittäter (der deutsche General Graf Wolf von Wolfskehl etwa kommandierte die Artillerie, die auf die Armenier in Urfa das Feuer eröffnete, Generalleutnant Friedrich Bronsart von Schellendorf als Generalstabschef des osmanischen Feldheeres erteilte sogar Befehle zur Deportation von Armeniern und gilt als einer der Organisatoren des Völkermordes; 1919 verteidigte er seine Verbrechen mit den Worten „Der Armenier ist, wie der Jude, außerhalb seiner Heimat ein Parasit“) die historische Pflicht, die Türkei zu einer Anerkennung ihrer Täterschaft zu drängen. Die Rolle eines „neutralen Vermittlers“, die Sie offenbar gerne für sich proklamieren würden, steht Ihnen dabei nicht zu. Deutschland war 1915/16 nicht neutral und ist es daher heute auch nicht.

2. Geradezu peinlich erscheint mir Ihr Versuch, den Holocaust dafür zu instrumentalisieren, einen Keil zwischen Armenier und Juden zu treiben und Ihre eigenen Versäumnisse in dieser Frage nicht nur zu legitimieren, sondern auch noch zu moralisieren. Es ist ein recht merkwürdiges Geschichtsverständnis, das Sie hier vertreten und das leicht den Eindruck entstehen lässt, die Nazis seien 1933 aus der Hölle hervorgekrochen oder in einem Raumschiff gelandet und hätten 1945 die Erde wieder verlassen. Als Historiker muss ich Sie darüber belehren, dass kein einziges geschichtliches Ereignis isoliert zu betrachten ist. Geschichte ist immer das Ergebnis einer langen Verkettung von Ursachen, Wirkungen und Reaktionen. Die Täter des Holocaust waren keine unbeschriebenen Blätter, es waren Männer mit einer Vergangenheit. Auch ihre verbrecherische Ideologie ist nicht das Ergebnis einer plötzlichen diabolischen Offenbarung, sondern herangewachsen aus dem Sumpf europäischer Irrlehren und Wahnideen des 19. Jahrhunderts, des gleichen Sumpfes übrigens, aus dem auch die protofaschistische Ideologie des Jungtürken-Regimes erwuchs. Dass ausgerechnet Bronsart von Schellendorff 1926 Vorsitzender des NS-nahen Tannenbergbundes wurde, der wiederum auf Hitlers einstigen Mitkämpfer General Erich Ludendorff zurückging, ist ebenso bezeichnend wie die Tatsache, dass die NSDAP, damals noch DAP, auf Rudolf von Sebottendorff  zurückgeht, der zuvor im Dienste der Jungtürken stand. Selbst Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß diente in der Türkei und war Zeuge des Völkermordes. So ist es kein Zufall, dass Hitler mit den Worten „Wer redet denn heute noch von der Vernichtung der Armenier?“ seinen Einmarsch in Polen und die geplante Vernichtung der polnischen Elite vor seinen Generälen zu legitimieren versuchte. Der Völkermord an den Armeniern diente dann auch als Blaupause für die „Endlösung der Judenfrage“. Lediglich in der Industrialisierung des Tötens, der Erfindung regelrechter Menschenvernichtungsfabriken in den Todeslagern, ersetzten die Nazis die barbarische Grausamkeit der Türken durch eiskalte, bürokratisierte Unmenschlichkeit und machten den Holocaust zum unbestreitbaren Tiefpunkt der Menschheitsgeschichte. Er ist uns zur schrecklichen Mahnung geworden, dass sich Geschichte nicht wiederholen darf. Aber er lehrt auch, dass die Hinnahme eines Völkermordes gleichermaßen die Legitimation für den nächsten ist. Denn daraus, dass eine Nation erfolgreich ihre Verbrechen vertuschen kann, folgert die nächste, dass sie ebenfalls nicht zur Rechenschaft gezogen wird.  
Daher darf es keine „Völkermorde erster und zweiter Klasse“ geben, Herr Minister Steinmeier, nicht solche, die man ungestraft leugnen darf und solche, deren Leugnung zurecht zur gesellschaftlichen Ächtung führt. Der Armenozid und der Holocaust sind untrennbar miteinander verbunden. Die Idee, ein ganzes Volk auszurotten, wurde in der Türkei geboren. Wäre es den Türken nicht so erfolgreich gelungen, den Genozid an den Armeniern totzuschweigen und zu leugnen, hätte Hitler es vielleicht nie gewagt, die Gräuel der Vernichtung fast eines ganzen Volkes im Herzen Europas zu wiederholen.
Deutschland ließ nicht nur zu, dass die Türkei ungestraft ihre Morde beging, es nahm sie zum Vorbild für sein eigenes, größtes Verbrechen. Aber Deutschland stand auch zu seiner Verantwortung nach dem Krieg, zeigte Reue, bat um Vergebung und leistete Wiedergutmachung. Dass es darin der Türkei zum Vorbild wird, daran sollte das Auswärtige Amt arbeiten.
Die von Ihnen vertretene Idee von der Singularität der Schoah wies schon der deutsche Historiker Hagen Schulze mit einem klugen Argument zurück: „Das Singuläre lehrt nichts für die Zukunft, denn es ist in seiner Natur nicht wiederholbar.“ So war es geradezu prophetisch, als der deutsche Pazifist Heinrich Vierbücher drei Jahre vor der Machtergreifung der Nazis den Berliner Prozess gegen den armenischen Talaat-Attentäter Salomon Teilirian als „Klage gegen die Schuld des Vergessens“ bezeichnete, „das seinen trügerischen Schleier über Abgründe bereitet, die sich morgen wieder auftun können.“ Das sahen 126 führende Holocaust-Forscher ähnlich, als sie am 9. Juni 2000 in einer Anzeige in der „New York Times“ die Anerkennung des Armenozids als Völkermord forderten. Ausgerechnet der Friedensnobelpreisträger von 1986, der Auschwitz-Überlebende Elie Wiesel, bezeichnete schon vor 65 Jahren in einer auf Jiddisch verfassten Broschüre den Völkermord von 1915/6 ganz bewusst als „Holocaust vor dem Holocaust“ und wies damit als Erster auf den Zusammenhang von Armenozid und Schoah hin. Wollen Sie auch ihm unterstellen, damit den Holocaust relativiert zu haben? Und was sagen Sie dazu, dass breite Kreise in der israelischen Politik längst ganz anderer Ansicht sind und keine Schwierigkeiten damit haben, den Armenozid als „Völkermord“ zu kategorisieren, wie es übrigens auch der „Zentralrat der Juden in Deutschland“ unlängst tat?
Solange das türkische Urverbrechen geleugnet wird, besteht immer wieder die Gefahr seiner Wiederholung, auch in unserer Zeit.
 
Und das zu verhindern sollte eine Prämisse, ja die Urverantwortung deutscher Außenpolitik sein.
 
Denn nur dann haben wir unsere Lektion aus der Geschichte wirklich gelernt.
 
Mit freundlichen Grüßen
 
 
Michael Hesemann
Historiker und Autor des Buches
„Völkermord an den Armeniern“

[1] Quelle: PA-AA/BoKon/169; A53a, 3451, telegraphischer Bericht vom 6.6.1915
 

Drei Wochen später traf die Antwort ein...



Hesemann erwiderte:


Herrn Staatsminister
Michael Roth, MdB
Auswärtiges Amt
 
11013 Berlin
 
23. Mai 2015
Betr.: Ihr Schreiben vom 19. Mai 2015
 
Sehr geehrter Herr Staatsminister,
 
für Ihr Schreiben vom 19. Mai danke ich Ihnen, wenngleich es, zugegeben, mich ein wenig erschreckt. Denn es hätte wohl nicht viel anders gelautet, wenn es statt aus Berlin aus Ankara gekommen wäre.
 
Natürlich ist es löblich, wenn sich die Bundesrepublik wieder einmal, wie weiland der Herr Reichskanzler auf dem Berliner Kongress, als „ehrlicher Makler“ zur Verfügung stellt, um zwischen den unterschiedlichen Interessen und Mächten zu vermitteln.
 
Doch hier, sehr geehrter Herr Staatsminister, geht es nicht wie damals um die Rechte und Pflichten einer Minderheit, hier geht es um ein Verbrechen – das größte Verbrechen des Ersten Weltkrieges, ein Verbrechen, so himmelschreiend und grausam, dass es in der gesamten blutigen Geschichte der Menschheit nur durch die Schoah allein übertroffen wird. Und dieses Verbrechen soll  neutral, wie eine Grenzstreitigkeit oder irgendeine andere politische Alltäglichkeit, „möglichst vermittelnd und ausgleichend“ durch Kommissionen und gemeinsame Gespräche aufgeklärt werden? Mit Verlaub, so sind es doch immer Gerichte, die sich mit Verbrechen beschäftigen, nicht Kommissionen, es sind Richter, nicht Diplomaten, es wird ge- und verurteilt, nicht vermittelt!
 
Es wirkt geradezu zynisch, wenn von Armenien erwartet wird, nicht nur die kollektive Erinnerung an die Schrecken von 1915/16, sondern auch den in einem Jahrhundert von zahlreichen Historikern und Kommissionen erarbeiteten Kenntnisstand zu relativieren, ja praktisch zu negieren und sich dem Urteil einer zuerst von Ankara und jetzt auch von Ihnen geforderten „neutralen“ Historikerkommission zu unterwerfen, die praktisch das Rad neu erfinden soll.
 
Sollen denn die gründlichen Arbeiten so vieler hochqualifizierter Kollegen, die gründliche Auswertung und Publikation der Archive des Auswärtigen Amtes, des österreichischen Hof- und Staatsarchivs, des National Archives in Washington, der französischen und britischen Aktenbestände, der, soweit geöffnet und noch vorhanden, osmanischen Archivalien und, last but not least, der Dokumente aus den Archiven des Vatikans alle vergebens gewesen sein? Waren die Istanbuler Prozesse von 1919, die mit der Verurteilung von siebzehn Verantwortlichen für den Völkermord zum Tode endeten, eine Farce? Der türkische Historiker Taner Akcam jedenfalls urteilte: „Die Prozessprotokolle und alle Dokumente belegen, dass der Völkermord eine zentral geplante, bürokratisch organisierte und durchgeführte Tat war, bei der staatliche Organe und Teile der regierenden Partei Ittihat ve Terakki zusammengearbeitet haben.“ Glauben Sie wirklich, dass eine kompetente Historikerkommission heute, fast hundert Jahre später, zu einem anderen Urteil kommen würde? Ganz gewiss nicht - und das sage ich Ihnen in Kenntnis der vatikanischen Dokumente, die ich in den letzten fünf Jahren ausgewertet habe - wenn sie auf der Grundlage aller bis heute bekannten Fakten urteilt. Tatsächlich kam auch 1985 das „Permanente Völkertribunal“, das die Ereignisse von 1915/16 unter Hinzuziehung namhafter Historiker, Juristen und Augenzeugen untersuchte, mehrheitlich zu dem Urteil, dass es sich um einen sorgfältig geplanten Völkermord handelte, für den die heutige Türkei als Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reiches zur Verantwortung zu ziehen ist. 1997 kam due „Internationale Vereinigung von Völkermordforschern“ in einer Resolution zu dem gleichen Ergebnis. Das Ergebnis einer objektiv arbeitenden Historikerkommission ist also vorauszusehen. Ebenso aber auch, dass die türkischen Vertreter in einer solchen Kommission, wenn sie von Erdogans Gnaden sind, dieses Ergebnis nie anerkennen werden.
 
Sie sprechen von der Notwendigkeit einer „Aussöhnung zwischen Türken und Armeniern“. Wie aber ist eine Aussöhnung zwischen einem Täter und einem Opfer möglich, wenn der Täter hartnäckig seine Tat bestreitet? Versöhnung kann immer und in jedem Fall nur unter zwei Bedingungen stattfinden: Bekenntnis und Reue. Und es sollte die Pflicht einer gerechtigkeitsliebenden Nation wie der Bundesrepublik sein, sich auf die Seite des Opfers zu stellen und den Täter aufzufordern, sich, so unbequem es auch sein mag, endlich, nach jetzt hundert Jahren, seiner historischen Verantwortung zu stellen. Nur so hätten wir unsere eigene Mitschuld an den Ereignissen von 1915/16, die schon damals in konsequentem Wegschauen und Duldung der türkischen Gräueltaten unter der Bethmann-Hollweg-Doktrin „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht“ bestand, glaubwürdig gesühnt.
 
Wenn die Bundesregierung ernsthaft die Versöhnung zwischen Armeniern und Türken zum Ziel hat, sollte sie sich dafür einsetzen, dass die Türkei ihre Schuld bekennt, Reue zeigt und auf welche Weise auch immer Wiedergutmachung leistet. Das wäre die einzige Lösung, die den 1,5 Millionen Opfern gerecht wird und die von Armenien akzeptiert würde. Jeder andere Vorschlag wie der, auf einer am besten noch von der Türkei einberufenen Historikerkonferenz noch einmal alles in Frage zu stellen und quasi „bei Null“ anzufangen, muss auf die leidgeprüften Armenier wie nackter Hohn wirken. Es bedarf auch keiner Historikerkommission mehr, um die deutsche Schuld am Holocaust festzustellen. Sie ist hinreichend dokumentiert. Wir Deutschen könnten den Türken dagegen sehr wohl zeigen, wie wir mit unserer eigenen Schuld umgegangen sind, wie wir sie akzeptiert, gesühnt und aus ihr gelernt haben. Denn das wäre ein wahrhaft wirksamer Weg zur Versöhnung der Völker!  
 
 
Mit freundlichen Grüßen

Michael Hesemann