Michael Hesemann, Historiker und Autor
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Mardin

Was die Dokumente aus dem Geheimarchiv des Vatikans über den Völkermord an den aramäischen und assyrischen Christen enthüllen

 
Von Michael Hesemann*
 
Es wird geschrieben und berichtet, dass die Türken die Armenier massakriert haben“, schrieb der syrisch-katholische Patriarch Ignace Ephrem II. Rahmani am 8. Juli 1919 an den Heiligen Stuhl, „die Wahrheit ist, dass die Türken neben den Armeniern auch andere Christen ermordeten: Syrische Katholiken, syrische Monophysiten, Chaldäer, Nestorianer etc.“[i]

Tatsächlich steht der Völkermord an rund 300.000 syrischen Christen in den Jahren 1915-1919 im öffentlichen Bewusstsein ein wenig im Schatten des Armenozids, der sich zeitgleich ereignete. Dafür gibt es, von der größeren Zahl der Opfer einmal abgesehen, mehrere Gründe. Der erste davon ist, dass die Armenier eine Lobby hatten. Angefangen mit dem deutschen Pastor Johannes Lepsius bis hin zu US-Botschafter Henry Morgenthau, die schon früh die Türken wegen ihrer Morde an den Armeniern anklagten. Die Armenier hatten in sich in den Jahrzehnten ihrer Bestrebungen nach mehr Autonomie innerhalb des Osmanischen Reiches eine Lobby aufgebaut, zu der französische und britische Politiker gehörten. Zudem gab es in ganz Europa und auch in den USA eine armenische Diaspora, die viel schneller die Verbrechen an ihren Landsleuten in der neuen Heimat bekannt machte. Auch in der Hauptstadt Konstantinopel waren die Armenier mit rund 350.000 Seelen und zwei Patriarchen (dem armenisch-orthodoxen und dem armenisch-katholischen Patriarchen) vor den Augen westlicher politischer Vertretungen präsent. All das war bei den syrischen Christen, die am anderen Ende des Osmanischen Reiches lebten, nicht der Fall. So ist, obwohl sie das gleiche Schicksal erlitten wie ihre armenischen Glaubensbrüdern, ihr Leid weniger gut dokumentiert.

Kein Zweifel, dass dies auch die Absicht ihrer Mörder war. Den Armeniern konnten die Türken nur deshalb eine Verschwörung unterstellen, weil sie tatsächlich zum damaligen Zeitpunkt nach mehr politischer Selbstbestimmung gestrebt hatten. Da genügte ein wenig geschickte Propaganda, um den westlichen Mächten glaubhaft zu machen, dass sie tatsächlich mit den Russen konspirierten, dass es in Van und Zeitun zu Aufständen gekommen sei. Damit wird noch heute von den Türken die vermeintliche „Umsiedelung“ der Armenier als „kriegsnotwendige Maßnahme“ verkauft, bei der es leider zu Kollateralschäden gekommen sei, während man Massaker, Todesmärsche und bewusstes Aushungern in den Konzentrationslagern in der syrischen Wüste geschickt verschweigt. Immerhin lebten viele der Betroffenen tatsächlich im Nordosten des Osmanischen Reiches, also nahe der Kampfzone, auch wenn Armenier aus West- und Zentralanatolien sowie den Städten am Rande der syrischen Wüste (etwa Urfa und Mardin) ebenfalls auf Todesmärsche geschickt wurden; in letzterem Fall sogar Richtung Norden, weil sie im Bergland unauffälliger massakriert werden konnten.

Konnte man den orthodoxen Armeniern zumindest halbwegs glaubwürdig politische Ambitionen unterstellen, hatten die politisch völlig desinteressierten armenischen Katholiken zumindest Glaubensbrüder in Frankreich und Italien, entfielen solch scheinbare Legitimationen komplett bei den syrischen Christen. Weder waren sie politisch aktiv noch standen sie mit dem feindlichen Ausland in Kontakt. Trotzdem wurden sie ebenso blutig verfolgt. Weshalb? Weil es eben kein rassisch oder ethnisch ausgerichteter Völkermord war, der sich 1915/16 in der heutigen Türkei ereignete, sondern die systematische Eliminierung aller nichtmuslimisch-sunnitischen Bevölkerungen des einstigen Vielvölkerstaates. Es war, vor allem aber, die größte Christenverfolgung der Geschichte. Ihr Ziel war es, das einstmals multiethnische und multireligiöse Osmanische Reich in einen ethnisch und religiös homogenen Nationalstaat zu verwandeln. „Die Türkei den Türken“, schrieb die damals regierende Ittihat-Partei auf ihre Fahne. Und da es unmöglich war, dieses Mischvolk der Osmanen nach ethnischen Kriterien zu filtern, diente die Religion als Entscheidungsmerkmal, wer „Türke“ war und wer nicht.

In den letzten zwei Jahren habe ich über 2000 Seiten bis dahin unveröffentlichter Dokumente zu den Ereignissen von 1915/16, die dort unter dem Titel „Verfolgung der Armenier“ geführt werden, im Geheimarchiv des Vatikans lokalisiert und ausgewertet. Auch hier stehen also, wie es zu erwarten war, die Armenier im Mittelpunkt, auch wenn in einigen Dokumenten und Ordnern ganz allgemein von „der Situation der orientalischen Christen“ die Rede ist. Dass sich der Großteil der Dokumente ausschließlich mit den Armeniern befasst, liegt auch an den oben erwähnten Faktoren. Der wichtigste Berichterstatter des Heiligen Stuhls zu den Ereignissen von 1915/16 war der Apostolische Delegat, Erzbischof Angelo M. Dolci, der in der Hauptstadt residierte und dort vom Armenisch-Katholischen Patriarchat regelmäßig mit Lageberichten versorgt wurde; Syrer fanden selten den Weg zu ihm. Es gab freilich eine Apostolische Delegation in Mossul, aber ihre Akten sind leider für Historiker derzeit noch nicht zugänglich. „Die Dokumentes dieses Archivs sind völlig ungeordnet und müssen zunächst noch zusammengestellt und katalogisiert werden, bevor sie freigegeben werden können“, teilte mir der Präfekt des Archivio Segreto Vaticano, Bischof Sergio Pagano, auf eine entsprechende Anfrage am 15. Februar 2014 mit. Trotzdem vermitteln uns auch schon die vorliegenden Dokumente einen guten Überblick über das Geschehen.
 
WARUM FAND DER VÖLKERMORD AN DEN SYRISCHEN CHRISTEN STATT?
 
Eine Untersuchung der Ideologie, die hinter dem radikaleren Flügel der ursprünglich eher heterogenen jungtürkischen Bewegung stand, gibt erste Hinweise. Ihre Wurzeln hat die Partei „Einheit und Fortschritt“ (Ittihat ve Terakki, kurz: Ittihat) im Paris des 19. Jahrhunderts, wo eine Reihe junger Türken aus wohlhabenden Familien studierten und mit den damaligen Strömungen der europäischen Philosophie in Kontakt kamen. Einerseits waren sie von den Idealen der französischen Revolution begeistert, andererseits aber auch vom damals aufkommenden Nationalismus. Der „Integrale Nationalismus“, wie ihn Charles Maurras lehrte, überhöhte die Nation zur semi-mythischen Einheit und propagierte einen starken Staat durch eine homogene Volksgemeinschaft mit einer einheitlichen Staatsreligion. Aus ihm ging in Europa der Faschismus hervor.  Die Schwäche des Osmanischen Reiches, das als „kranker Mann am Bosporus“ verspottet wurde, führten die türkischen Anhänger Maurras auf die Heterogenität des Vielvölkerstaates zurück. Der Abfall der Balkan-Provinzen in den nächsten Jahren, deren christliche Minderheiten, vom Ausland unterstützt, sich in Aufständen befreit hatten, bestätigte sie in ihrer Weltsicht: Die Türkei der Zukunft müsse allein den Türken gehören, die der sunnitische Islam als Staatsreligion zusammenschweißt. Für ethnische und religiöse Minderheiten war in dieser Vision kein Platz.

Tatsächlich schreibt der türkische Historiker Taner Agcam, dass schon im Juli 1910 auf der Versammlung der Ittihat-Spitze in Thessaloniki als „Alternative die Deportation christlicher Bewohner … oder ein gewaltsames Vorgehen“ diskutiert wurde. Glauben wir Johannes Lepsius, so wurde ein Jahr später, im Oktober 1911, ebenfalls in Thessaloniki, beim Jungtürkischen Kongress postuliert: „Die Türkei muss ein wesentlich muhammedanisches Land sein.“ Im Januar 1914 berichtete bereits die russische Zeitung „Golos Moskvy“ über einen „Plan, Anatolien zu homogenisieren“ und zumindest die Armenier in das Zweistromland zu deportieren, was freilich damals noch von den Jungtürken dementiert wurde. Erst Anfang März 1915 wurde die sofortige Umsetzung dieses Planes beschlossen. Dabei wollte man den Krieg als Vorwand für eine  „allgemeine und endgültige Säuberung“ nutzen, wie Dr. Nazim Bey, Generalsekretär der Ittihat, auf einer Sitzung der Parteispitze erklärte.  Tatsächlich wurde dieser Parteibeschluss nur Tage später, nämlich am 16.3.1915, dem deutschen Konsul Dr. Paul Schwarz durch den Provinzgouverneur Sabit Bey bestätigt.  Das ZK-Mitglied Nefis Bey hatte bereits im Dezember 1914 mit dem Schweizer Missionar Jakob Künzler über einen solchen Plan gesprochen.

Als US-Botschafter Henry Morgenthau am 16.7.1915 nach Washington meldete, dass „es scheint, dass hier eine Programm zur Vernichtung einer Rasse unter dem Vorwand, es seien Maßnahmen gegen eine Rebellion, im Gange ist“, lag er eher falsch; denn es ging nicht um eine „Rasse“, sondern um eine Religion. Eben das betonte der türkische Innenminister Talaat Bey, als er mit dem deutschen Botschaftsmitarbeiter Johann Mordtmann sprach – und zwar „ohne Rückhalt über die Absichten der Regierung, die den Weltkrieg dazu benutze, um mit ihren inneren Feinden – den einheimischen Christen aller Konfessionen (Vorhebung: d.Verf.) – gründlich aufzuräumen, ohne durch diplomatische Interventionen des Auslandes gestört zu werden.

Diese Einschätzung zieht sich auch wie ein roter Faden durch die vatikanischen Dokumente. So berichtete der Superior des Kapuzinerordens in Erzurum, der österreichische Pater Norbert Hofer, im Oktober 1915 an den Vatikan: Die Bestrafung der armenischen Nation (für angebliche Aufstände, d.Verf.) ist bloß ein Vorwand der freimaurerischen türkischen Regierung, um alle christlichen Elemente im Land (Vorhebung: d.Verf.) ungestraft vernichten zu können.“[ii] Konsequenterweise ist sein Memorandum dann auch mit den Worten „Weitere Besonderheiten zur Christenverfolgung (Vorhebung: d.Verf.)  in der Türkei“ überschrieben, während sein erster Bericht noch mit den Worten „Verfolgung der Armenier“ überschrieben war[iii]. Jetzt aber betonte er: „Alle christlichen Kirchen im Land (Vorhebung: d.Verf.) , auch die katholische, und alle damit verbundenen Einrichtungen, werden unterdrückt… Die Tatsache, dass auch der syrisch-katholische Bischof von GEDSIREH (Großschreibung im Original, d.Verf.) mitsamt seinem Klerus und all seinen Gläubigen massakriert wurde, beweist, dass die Invektiven der türkischen Regierung nicht nur gegen die Armenier gerichtet sind, sondern auch gegen die verschiedenen chaldäischen Gemeinschaften(Vorhebung: d.Verf.)  im Lande, die das gleiche erleiden.[iv]  Und sein Landsmann und Ordensbruder, der österreichische Kapuzinermissionar Michael Liebl,  brachte in Samsun in Erfahrung: „Nicht die Armenier, die Christen (Vorhebung: d.Verf.) wurden (zum Tode) verurteilt auf einer geheimen Konferenz der Jungtürken  vor 5 oder 6 Jahren in Thessaloniki.“[v]

Schließlich stellt auch ein Bericht des Armenisch-Katholischen Patriarchats an den Vatikan vom Februar 1916 fest, „dass die Regierung nur das kriminelle Vermächtnis (des ehemaligen Großwesirs, d.Verf.) Midhat Paschas umsetzt, der bereits das christliche Element (Vorhebung: d.Verf.)   in der Türkei vernichten wollte. (…) Alle Christen der sieben Provinzen, auch die Chaldäer, Syrer und Jakobiten (Syrisch-orthodoxe Christen, d. Verf.), erlitten das gleiche Schicksal, was beweist, dass die Verfolgung nicht nur eine politische, sondern auch eine religiöse ist, bewirkt durch den Djihad, den das Kalifat ausgerufen hat.“ Und: „Es ist sicher, dass all diese Ereignisse auf ausdrücklichen Befehl der türkischen Regierung und in Zusammenarbeit mit allen Behörden des osmanischen Reiches stattgefunden haben.[vi] Und am 18. Juni 1916 sprach selbst der armenisch-katholische Patriarch nicht nur von einem „Projekt zur Vernichtung des armenischen Volkes in der Türkei“, sondern führte auch aus: „Es ist sicher, dass die osmanische Regierung beschlossen hat, das Christentum aus der Türkei zu beseitigen (Vorhebung: d.Verf.), bevor der Weltkrieg zu Ende geht. Und das alles geschieht im Angesicht der christlichen Welt.“[vii]

Tatsächlich findet sich in den vatikanischen Akten ein Dokument, das belegt, dass die Pläne der Deportation von Christen in die syrische Wüste schon lange vor den Unruhen in Zeitun und Van im März und April 1915 bestanden, nämlich bereits im Dezember 1914: „Die türkische Regierung plant, Priester und Schwestern, die aus den kriegsführenden Nationen stammen, festzunehmen und in Konzentrationslager im Landesinnern zu bringen“, hatte der Apostolische Delegat für Syrien, Msgr. Giannini, am 6.12.1914 nach Rom gemeldet. [viii]
 
DAS AUSMASS DER VERFOLGUNG
 
Einen ersten Überblick über das Ausmaß der Verfolgung bekam der Heilige Stuhl am 4. Oktober 1915 durch den Bericht des deutschen katholischen Feldgeistlichen Johannes Straubinger aus der Diözese Rottenburg, der sich in Begleitung der deutschen Soldaten im Osmanischen Reich relativ frei bewegt hatte. Darin listet er auf: „Die syrisch-katholische Kirche unter dem Patriarchen Msgr. Efrem Rahmani hat, wie angekündigt, die Deportation der Gläubigen von Diyarbekir und Umgebung zu betrauern. Die chaldäische Kirche, die sich in den letzten Jahren sehr entwickelt hatte, hat viel gelitten. In Diyarbekir hat sie die ganze Gemeinde verloren, und das gleiche muss gesagt werden über Seert, Djeziret und Mardin. (…) Nach dem Zeugnis des Patriarchen, der vor drei Wochen in Konstantinopel eintraf, kam es in der Nähe von Mossul zu blutigen Verlusten. Von den Maroniten weiß ich nichts. Die unierten Griechen bilden eine kleine Gemeinde, und auch sie haben zwei oder drei Pfarreien verloren. Die Melkiten Syriens und Palästinas beklagen die Deportation eines Erzbischofs und eines Priesters. Die schismatischen (gemeint ist: orthodoxen, d.Verf.) Kirchen erlitten das gleiche wie die katholischen Kirchen, nur die Protestanten wurden verschont.[ix]

Weitere Details liefert ein Brief des Ordensmeisters der Dominikaner, Pater Gonzalve Gaetan Dumini, an Kardinalstaatssekretär Pietri Gasparri, datiert auf den 11. November 1915. Er zitiert die Zeugnisse dreier Dominikanermissionare, P. Dominique Berré, P. Jacques Rhétoé und P. Hyacinthe Simon, die aus Mardin nach Rom gekommen waren. Er berichtet nicht nur von der Ermordung des armenisch-katholischen Erzbischofs Ignatius Maloyan, sondern auch von den  Angriffen auf Msgr. Addai-Scher, den chaldäischen Erzbischof von Seert und seine Gemeinde.[x]

Wie gut man zu diesem Zeitpunkt bereits in Deutschland über das Ausmaß der Verfolgungen informiert war, beweist ein Memorandum „Zur Lage der Katholischen Armenier in der Türkei“, das der katholische Reichstagsabgeordnete Matthias Erzberger von den Zentrums-Partei im Februar 1916 an die Abgeordneten des Reichstages in Berlin gerichtet hatte und von dem eine Kopie auch an den Vatikan ging. In diesem werden durchaus auch die Massaker an syrischen Christen thematisiert, wenn es heißt:
Vilayet Diabekir: In der Umgegend von Urfa, in Verfen-Chehir, einer kleinen Stadt von ungefähr 1.400 Familien Armenier und 140 Familien Syrer; im ganzen 400 Familien sind ausgewiesen zu Beginn des Sommers; die Männer sind alle ermordet worden. Die reichen Familien sind alle mit Frauen und Kindern ausgerottet worden.“
In Severek: sind alle Männer getötet, Frauen und Kinder, im Ganzen 300 Familien, vertrieben. Die Einwohner einer großen Anzahl jacobitischer Dörfer sind getötet worden. Vier chaldäische Dörfer ebenso in der Umgebung von Diarbekir mit ihren Priestern. (…)
In Djeziret: Alle chaldäischen und syrischen Christen mit all ihren Bischöfen und Priestern sind ermordet oder ausgerottet worden. 17 chaldäische Dörfer, zum Erzbistum dieser Stadt gehörig, sind geplündert und ausgewiesen, die Männer wurden getötet. (…)
Armenien, Kurdistan und ein großer Teil Mesopotamiens sind der Schauplatz der barbarischsten und abscheulichsten Szenen gewesen. Die Zisternen, Täler, Grotten sind mit Leichen gefüllt worden. Die Flußläufe des Euphrat und des Tigris haben wochenlang verstümmelte Leichen fortgespült. Die Reisenden in diesen Gegenden begegnen von Stadt zu Stadt nur nomadisierenden Armeniern und Chaldäern, die aus ihren Städten oder Dörfern vertrieben sind, im Freien nächtigen, der Sommerhitze und der Winterkälte ausgesetzt sind. Sie sind alle zu einem entsetzlichen Tode verurteilt. Das Schicksal der Christen in den anderen Teilen der Türkei ist sehr ungewiß. Sie sind ständig in der Gefahr, ermordet zu werden.“[xi]
http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/6e/Rahmani1.jpg Patriarch Ignace Ephrem II. Rahmani (1848-1929)

Das mit Abstand wichtigste Dokument zum Völkermord an den syrischen Christen im Vatikanarchiv aber ist der anfangs zitierte Bericht des syrisch-katholischen Patriarchen von Antiochia, Ignace Ephrem II. Rahmani, der immerhin 14 Seiten umfasst. Da er recht spät verfasst wurde, nämlich erst im Juli 1919, gibt er zudem einen annähernd vollständigen Überblick über das grauenvolle Geschehen. Da es den Rahmen dieses Textes sprengen würde, ihn vollständig zu zitieren, seien seine wichtigsten Aussagen hier zusammengefasst:

„Was die Syrer betrifft, zeigen die nachfolgend aufgeführten Tatsachen, dass in fast allen Diözesen des Patriarchats Tausende ermordet wurden und dass in jenen Diözesen, in denen es keine Massaker gab, eine große Zahl Opfer von Hunger und Seuchen wurden.“
Diözese Bagdad: Junge Syrer wurden unter dem Verdacht der Spionage gehängt. Zahlreiche Notable und auch einfache Bürger wurden „nur, weil sie Christen sind“, nach Mossul, Diyarbekir und Konia deportiert.
Diözese Mossul: Im September 1915 erschoss ein türkischer Soldat zwölf junge syrisch-katholische Priester aus Mossul. Auch andere Syrer und Chaldäer wurden Opfer der Mißhandlungen und Massaker türkischer Soldaten.
Djezire: Hier lebten Chaldäer, syrische Katholiken und orthodoxe Syrer. Im Juni 1915 wurden die christlichen Notablen in drei Gruppen verhaftet, unter ihnen der syrisch-katholische Bischof Flavien Michel Malke sowie der chaldäische Bischof Msgr. Jakob mitsamt seiner Priester. Nach zweimonatiger Haft wurden sie vor die Stadt geführt und dort erschlagen. Ihre Leichen warf man in den Tigris. In der ganzen Stadt plünderten türkische Soldaten die Häuser, schändeten die Frauen und verkauften viele von ihnen in die Sklaverei. Ähnlich erging es den Bewohnern der Nachbardörfer Esphes, Meddo und Asekh.
Mardin: Neben dem armenisch-katholischen Bischof Msgr. Maloyan wurden auch der syrisch-katholische Bischof Raphael Bardsani und der Abt Peter Issa sowie 550 christliche Notable (darunter 80 „Jakobiter“, also syrisch-orthodoxe Christen) am Fronleichnamsfest (3. Juni) verhaftet und der schmerzhaften Bastonade unterzogen. Am 10. Juni wurden zunächst 470 Armenier, darunter Bischof Maloyan, in mehreren Gruppen Richtung Diyarbekir geführt und in den Bergen von den türkischen Soldaten erschlagen oder füsiliert. Es folgte eine zweite „Todeskarawane“ mit den syrischen Christen, die das gleiche Schicksal ereilte. Dann nahmen die Türken weitere 370 Christen verschiedener Konfessionen fest, die ebenfalls zunächst in den Gefängnissen misshandelt und dann auf dem Weg nach Diyarbekir massakriert wurden. Anschließend wurden die christlichen Frauen auf den Weg nach Norden geschickt. Wer von ihnen nicht massakriert wurde, wurde geschändet und in die Sklaverei verkauft.
Nisibis und Umgebung: Hier wurden Christen aller Konfessionen massakriert.
Djebal Tour und Becheirye: Hier wurden geschätzte 70.000 syrische Christen massakriert.
Diözese Seert: In Seert und den umliegenden Dörfern wurde die Zahl der chaldäischen, armenischen und syrischen Christen vor der Verfolgung auf 50.000 geschätzt. Im Mai 1915 begannen die Behörden auch hier mit der Verhaftung der christlichen Notablen aller Konfessionen, die vor die Stadt geführt und von Soldaten und herbeibefohlenen kurdischen Stämmen massakriert wurden. Danach stürmten die Soldaten die Häuser und Geschäfte der Christen und begannen mit den Verhaftungen. Die Männer wurden vor die Stadt geführt und dort ermordet, die Frauen und Kinder nach Mardin oder Mossul deportiert; nur ein kleiner Teil überlebte den Todesmarsch, die meisten fielen Hunger und Durst oder den Überfällen der Kurden zum Opfer. Die anderen Christen, die in den umliegenden Dörfern lebten, aber auch die Priester und Ordensleute der Diözese, fielen den anschließenden Massakern zum Opfer, darunter auch der chaldäische Bischof Adda Cher. Er hatte sich zunächst im Haus eines Kurdenführers versteckt, wurde dort aber entdeckt und „unter schrecklichen Qualen ermordet“.
Diyarbekir: Hier lebten neben den Armeniern auch armenische und syrische Katholiken, Chaldäer und orthodoxe Syrer, als im April 1915 die Verhaftungen der Notablen aller Riten begannen: „Der Bischof der armenischen Katholiken, Msgr. Celebian, wurde an einen Ort namens GOZLI (Großschreibung im Original, d. Verf.) gebracht und dort ermordet. Auch die anderen Priester aller Konfessionen wurden umgebracht; einige mit den Deportierten, andere in ihren Kirchen oder in ihrem Pfarrhaus... auch alle Christen, die in den zahlreichen Dörfern dieser Region lebten, wurden gleichermaßen umgebracht, darunter auch eine große Anzahl nicht katholischer Armenier und monophysitischer Syrer.“
Swerek:  Auch die 5000 Christen von Swerek gehörten verschiedenen Konfessionen an: orthodoxe Armenier, armenische Protestanten, orthodoxe Syrer und syrische Katholiken. Unter dem Vorwand, nach Waffen zu suchen, wurden die Häuser und Geschäfte der Christen im Mai 1915 durchsucht, die Männer verhaftet und umgebracht. „Auch die Priester der armenischen und syrischen Monophysiten wurden massakriert, die einen im Gefängnis, die anderen in der Wüste“. Die Frauen wurden vergewaltigt, viele von ihnen in die Sklaverei verkauft. Die meisten aber wurden samt ihrer Kinder massakriert oder auf den Weg nach Urfa oder Aleppo geschickt.[xii]

Jeder einzelne von ihnen starb um seines Glaubens willen und ist ein Märtyrer.
 

 
*Michael Hesemann ist Historiker und Autor. Er ist Dozent für kirchengeschichtliche Themen an der Gustav-Siewerth Akademie. Seit 2008 hat er Zugang zum Vatikanischen Geheimarchiv. Sein Buch „Völkermord an den Armeniern“ erschien im Februar 2015 im Herbig-Verlag München.

 
 
[i] A.S.V., Seg. Stato, Guerra (1914-18), rubr. 244, fasc. 112, S. 84
[ii] A.S.V., Segr. Stato, Guerra (1914-18), rubr. 244, fasc. 110, S. 260-262
[iii] A.S.V., Segr. Stato, Guerra (1914-18), rubr. 244, fasc. 110, S. 245
[iv] A.S.V., Segr. Stato, Guerra (1914-18), rubr. 244, fasc. 110, S. 260-262
[v] A.S.V., Arch. Deleg. Turchia, busta 101, fasc. 527, S. 88-89
[vi] A.S.V., Arch. Deleg. Turchia, busta 101, fasc. 528, S. 2-4
[vii] A.S.V., Arch. Deleg. Turchia, busta 101, fasc. 527, S. 120
[viii] A.S.V., Segr. Stato, Guerra (1914-18), rubr. 244, fasc. 110, S. 57 -58
[ix] A.S.V., Arch. Deleg. Turchia, busta 97, fasc. 503, S. 268-302
[x] A.S.V., Arch. Deleg. Turchia, busta 113, fasc. 601, S. 320-321
[xi] S.S.R.R.S.S., AA.EE.SS., Austria-Ungheria (Turchia), III period 1916, pos. 1075 e 1077, fasc. 466, Nr. 15412, S. 10-25
[xii] A.S.V., Seg. Stato Guerra (1914-18), rubr. 244, fasc.111, S. 84-97