Michael Hesemann, Historiker und Autor
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Armenisches Tagebuch

Von Michael Hesemann

Eine Woche lang verbrachte Michael Hesemann im April in Armenien, um an den Feierlichkeiten zum Gedenken an die 1,5 Millionen Opfer des Völkermordes vor hundert Jahren teilzunehmen. Hier sein Bericht.
 
ERSTER TAG (20. April 2015)

Tiefe Finsternis liegt noch über dem Land am Ararat, als meine Maschine, Austrian Airlines Flug 641 aus Wien, um 3.35 Uhr Ortszeit auf dem Flughafen Zvartnots landet. Die meisten Maschinen landen oder starten nachts in Armenien und so wirkt der Airport alles andere als verschlafen. Ich passiere einen Duty Free Shop, und sofort fällt mir ein Tisch auf, auf dem nicht die landesübliche Keramik, der berühmte armenische Cognac oder alberne T-Shirts angeboten werden, sondern Souvenirs an das Ereignis, von dem sich das ganze Land so viel verspricht: Die Gedenkfeier an den Völkermord vor hundert Jahren. Mit Stickern, Pins, Schreibtischwimpeln und Kaffeetassen kann jeder seiner Solidarität mit den Armeniern Ausdruck verleihen, ehe er noch offiziell eingereist ist.

Gleich nach der Passkontrolle begrüßt mich ein langer Tisch, an dem ein halbes Dutzend junger Männer und Frauen sitzen, die alle violette T-Shirts oder Krawatten tragen; sie nehmen die offiziellen Delegierten an dem großen Völkermord-Kongress in Empfang, der den Gedenkfeiern vorausgeht. Ich stehe nicht auf der Liste, denn ich bin als Journalist akkreditiert; meine Unterlagen hole ich mir nachmittags beim Außenministerium ab.

So nehme ich mir ein Taxi, handel den Preis aus (20 Euro bis in die Innenstadt von Jerewan) und sammle erste Eindrücke. Das Land zeigt sich hier von keiner schönen Seite. Die Straße in die Hauptstadt ist gesäumt von Spielcasinos und Sexclubs, um den Besuchern aus der benachbarten Islamischen Republik Iran längere Wege zu ersparen. Auf sie folgen Plattenbauten in morbider postsowjetischer Zerfallsästhetik. Immer wieder überragen Plakatwände die Straße, meist mit einem von zwei Motiven: „Recognize the Armenian Genocide 1915“ und, origineller, „191.5 Million“, ergänzt durch den Untertitel „I remember and demand“, das offizielle Motto der Gedenkfeierlichkeiten. Natürlich violett wie die Blume, die ihr Logo ist: Das Vergissmeinnicht.
Jerewan liegt in einem Talkessel, von drei Seiten von Hügeln umgeben, an den Ufern des Flusses Hrasdan, einem Zufluss des Arax, den Forscher für einen der vier Paradiesströme halten. Es ist älter als Rom, denn es wurde bereits 782 v.Chr. als „Erebuni“ von König Argisti I. gegründet. Doch davon erkenne ich nichts in der grauen Morgendämmerung, die einen Schlechtwettertag ankündigt; nichts an dieser Stadt wirkt wirklich alt. Ihr höchster Hügel wird von einem spitzen Fernsehturm überragt und was wie eine alte Festung wirkt, stellt sich als Cognacfabrik heraus, errichtet in den 1930er Jahren. Lediglich ihr Name ist biblisch: „Noy“, Noah also! Gegenüber, auf der anderen Seite des Flusses, die Konkurrenz, ähnlich bombastisch, ähnlich biblisch, die Spirituosenfabrik „Ararat“. Der Berg, an dessen Hang die Arche Noah strandete, soll von jedem Punkt in Jerewan aus sichtbar sein, heißt es. Ich sehe ihn nicht, zu tief hängen die grauen Wolken. Einmal, so erzählt man mir, kam Stalins Außenminister Molotow nach Jerewan, nur um den Ararat zu sehen. Doch der heilige Berg der Armenier hielt sich verdeckt, bis der verärgerte Russe wieder abreiste. Würde es mir ähnlich gehen?



Ich checke in mein Hotel, das „Metropol“, ein und schlafe mich erst einmal aus. Es ist ein angenehmes Viersternehaus mit einem rund um die Uhr zugänglichen Schwimmbad und trotzdem nach deutschen Standards eher preiswert. Nachmittags dann, nach der Akkreditierung beim Außenministerium, sammle ich erste Eindrücke von der Stadt. Der „Platz der Republik“ beeindruckt durch seine Weite und imposante spätstalinistische Architektur, die sich bemüht, historische Elemente zu integrieren. Ein Tulpenmeer vor dem Historischen Museum umrahmt einen Teich samt künstlicher Wasserspiele und zeugt von der Liebe der Armenier zur Gartenkultur; selbst der Name des Paradiesgartens stammt aus ihrer Sprache. Hinter ihm beginnt ein modernes Geschäftsviertel mit den Läden westlicher Designer und für einen Augenblick frage ich mich, ob nicht Giorgio Armani auch ein Exilarmenier ist. Das Stadtbild ist uneinheitlich, moderne Prachtarchitektur wechselt sich ab mit Stalinbarock und Chruschtschow-Platte. Über allem thront „Mutter Armenien“ mit Sowjet-Pathos über dem Nationalheiligtum ihres Volkes, dem Matenadaram, was nichts anderes als „Bibliothek“ bedeutet. Die Armenier sind Buchmenschen. Nicht den Waffen tapferer Krieger, nicht den Werken von Malern und Bildhauern, weder Gold noch Silber gilt ihre Liebe, sondern ihren Büchern. Die 36 Buchstaben der armenischen Schrift, die der Heilige Meschrop Maschtoz im  5. Jahrhundert entwickelte, um die Heilige Schrift und die Werke der Kirchenväter in die Sprache seines Volkes übersetzen zu können, gelten als Offenbarung. Der prachtvolle Codex Etschmiadsin, ein Evangeliar aus dem 10. Jahrhundert in einem noch älteren Elfenbeinband, ist der Stolz aller Armenier. Er wird in diesem steinernen Schrein,  
atombombensicher in den Fels geschlagen, verwahrt.  Was für ein Volk, dessen größter Schatz seine Bücher sind!
 

ZWEITER TAG (21. April 2015)

Der Ursprungsort dieses Buches ist mein nächstes Ziel. Etschmiadsin ist der armenische Vatikan: ein ausgedehntes Territorium, in dessen Zentrum die von Gregor dem Erleuchter errichtete Mutterkirche der armenischen Christenheit steht, Sitz des Patriarchen oder Katholikos. Mein Weg führt durch ein modernes Monumentaltor, dessen Relief den zentralen Moment der armenischen Geschichte zeigt: Jenen Tag im Jahre 301, als König Trdat III. nach 13 Jahren endlich den Verkünder des Christentums aus seinem Verließ holen und sich von ihm taufen ließ. Damit wurde das Land zur ersten  christlichen Nation auf Erden. Von diesem Tor aus führt eine breite Promenade direkt zur Kathedrale. Sie erhebt sich direkt über einem einstigen Feuertempel der Anhänger des Zarathustra, zu denen einst auch die Armenier gehört hatten. Gregor der Erleuchter, so heißt es, habe in einer Vision gesehen, wie Christus an dieser Stelle herniederstieg und mit Gold, Feuer, Wolken und Licht Standort und Form dieser ersten Kirche des Landes andeutete. „Herabgestiegen ist der Eingeborene“, auf Armenisch Etschmiadsin, nannte der Glaubensbote fortan das Heiligtum. Hier entstand das zentrale Kloster des Landes, in dem Meschrop sein Alphabet entwickelte und lehrte.
Zurechtgestutzte Bäume und zahllose Kreuzsteine, Chatschkar auf Armenisch, säumen den Weg. Sie zeigen das Kreuz als reich verzierten Lebensbaum. Man findet sie im ganzen Land und überall dort, wo einst Armenier lebten, beteten und arbeiteten. Sie markieren den Weg dieses Volkes durch die Geschichte, einen Weg, der zum kollektiven Kreuzweg wurde, zur bedingungslosen Christusnachfolge, und der an seinem Golgota in der syrischen Wüste endete.


Die Kathedrale von Etschmiadsin (Innenansicht), Reliquien der Arche Noah und der Heiligen Lanze

Die an Ornamenten reiche Ausschmückung der Kathedrale verrät, dass Persien nicht weit ist. Ansonsten aber überrascht ihre Schlichtheit. Kein Prunk, kein Pomp, auch keine orthodoxe Bilderflut lenkt von ihrem hoch aufragenden Altar ab, der das Bild der Gottesmutter trägt. Lediglich ein Podest im Zentrum der Kirche, eingerahmt von dutzenden silbernen Ampeln, trägt, in Stufen angeordnet, die Kerzen und die heiligen Gefäße.

In der Schatzkammer begegne ich den größten Heiligtümern der armenischen Kirche, ihren Reliquien. Ein Stück versteinertes Holz in einem filigran gearbeiteten Silberreliquiar soll von der Arche Noah stammen. Gleich daneben hält ein weiteres Reliquiar die Heilige Lanze, die der Legende nach der Apostel Judas Thaddäus einst nach Armenien brachte. Ein drittes, ebenso prachtvolles Reliquiar enthält Holz vom Kreuze Christi. Dazu kommen Dutzende silberne Nachbildungen menschlicher Arme, die Gebeine der Heiligen enthalten.

Schon Gregor der Erleuchter, so heißt es, habe bei der Gründung des „Heiligen Muttersitzes von Etschmiadsin“ die Heiligen und Märtyrer ehren wollen. So wurden ihm in seiner Vision auch die Gräber der Märtyrerinnen Hripsime, Gajane und ihrer 35 Jungfrauen offenbart. Hripsime, so heißt es, sei eine gottgeweihte Jungfrau und Verwandte des Kaisers Claudius Gothicus gewesen, die vor seinem Nachfolger Diokletian in das benachbarte Armenien floh. Dort habe König Trdat sie zunächst begehrt und dann, als sie ihn zurückwies, hinrichten lassen. Auch ihre Äbtissin Gajane und die anderen 35 Nonnen ihrer Gemeinschaft erlitten damals das Martyrium. Über ihren Gräbern sind heute drei Kirchen errichtet, die aus dem 7. Jahrhundert stammen.

Mein letztes Ziel ist Swartnoz, die vielleicht faszinierendste Stätte des Landes. Hier soll Gregor der Erleuchter einst den König bekehrt haben, hier stand später die Palastkapelle des Katholikos. Mitte des 7. Jahrhunderts hatte sie Nerses III. errichten lassen, wissen die Chroniken, was ihm für alle Zeiten den Beinamen „der Erbauer“ eintrug. Doch sein Werk war, nach 20 Jahren fertiggestellt, so imposant, dass Zweifel aufkamen, ob Menschen dazu in der Lage waren; es hieß, Engel hätten den dreistufigen Kuppelbau errichtet, damals der höchste Sakralbau der Welt. So erreichte die Kunde von der „Kathedrale der Engel“ im Schatten des Berges Ararat auch das mittelalterliche Europa; sie könnte sogar Karl den Großen zum Bau des Aachener Oktogons inspiriert haben. Doch schon im 10. Jahrhundert wurde sie während eines Erdbebens zerstört. So ragen heute nur noch die Säulen und Bögen ihres Erdgeschosses in den Himmel und scheinen die schweren Wolken zu tragen.

Ich streife durch das Gelände, studiere auch die Ruinen des Patriarchenpalastes, als aus dem Wärterhaus eine Arie aus Puccinis Turandot, das berühmte „Nessun dorma“, ertönt. „Da hat jemand Geschmack“, denke ich mir; ich liebe dieses Stück. Es könnte von der weltbekannten CD der „Drei Tenöre“ stammen, es klingt jedenfalls ganz nach Pavarotti. Jetzt bemerke ich auch zwei spielende Hunde vor dem Gebäude; sie sind zutraulich und begrüßen mich schwanzwedelnd. In diesem Augenblick verlässt ein kleiner, schmaler Mann das Haus, sieht mich und fragt mich, woher ich stamme. „From Germany“, erwiderte ich. Er lächelt, atmet tief ein – und schmettert Beethovens „Hymne an die Freunde“, perfekt wie im Opernhaus. Auch das „Nessun dorma“ war also keine Aufnahme, es entstammte seiner Kehle. Das ist Armenien, denke ich mir. Hier ist jeder Parkwächter ein zweiter Pavarotti! Die Hunde dagegen sind mir bis zum Auto gefolgt und wären am liebsten mitgefahren…
 

DRITTER TAG (22. April 2015)

Zum ersten Mal lässt sich der Ararat erahnen, es ist nur leicht bewölkt, ein warmer Wind kündigt den Frühling an. Ich bin schon früh aufgestanden, denn heute eröffnet das „Globale Forum gegen das Verbrechen des Genozids“, zu dem Politiker, Menschenrechtsaktivisten und Vertreter der Kirchen aus aller Welt angereist sind. Es findet statt im „Zentrum für Kultur und Sport“ oberhalb der Stadt, das wie ein gestrandeter Walfisch inmitten einer Parklandschaft ruht und von dem aus sich kaskadenartige Wasserfälle hinunter ins Tal ergießen. Mich interessiert besonders die Ökumenische Sitzung „Kirchen gegen das Verbrechen des Genozids: Menschliches Leben als Geschenk Gottes“, zu der nicht weniger als die Patriarchen und Erzbischöfe sämtlicher Kirchen der Welt erwartet werden: Der koptische Papst Tawadros II., der syrisch-orthodoxe Patriarch Ignatius Aphrem II., der maronitische Patriarch Bechara Pierre Kardinal Rai, natürlich Armeniens Katholikos Karekin II., der russisch-orthodoxe Erzbischof von Washington D.C., Metropolit Tikhon, ein Repräsentant des griechisch-orthodoxen Patriarchen von Jerusalem, Theophilus III., der griech.-orthodoxe Erzbischof von Zypern und viele andere.



Da ich zu früh gekommen war, besuche ich noch eine Ausstellung mit Büchern zum Völkermord und bin ganz überrascht, auch das Meinige dort zu finden. Offenbar ist man in Armenien bestens vernetzt.
Dann treffen auch schon die Patriarchen ein. Tawadros II. begrüßt mich herzlich, ich folge ihm in den Sitzungssaal. Ich werde dem Katholikos Karekin II. vorgestellt, der von meiner Arbeit bereits gehört hat, überreiche ihm ein Exemplar meines Buches; er spricht fließend Deutsch, hat in Deutschland und Österreich gelebt und gewirkt. Die Beiträge der Kirchenvertreter bezeugen, dass viele von ihnen selbst bereits Opfer von Diskriminierung und Verfolgung geworden sind. Der zypriotische Bischof spricht von den ethnischen Reinigungen im türkisch besetzten Norden seiner Insel, Papst Tawadros von der nach wie vor ernsten Situation in Ägypten, Patriarch Ignatius Aphrem von der dramatischen Lage seiner Gläubigen, deren Heimat gerade vom Islamischen Staat „christenrein“ gemacht wird. Plötzlich geht es nicht mehr um die Ereignisse vor hundert Jahren, sondern um die Gegenwart. Erschreckend, wie sich die Berichte gleichen. Schockierend, dass die Weltöffentlichkeit nach wie vor dazu schweigt.


Mit den Patriarchen zur "Schwalbenfestung" mit dem Völkermorddenkmal

Nach dem Symposium begleite ich die Patriarchen auf ihrem Fußweg zum Völkermordsdenkmal von Zizernakaberd, der „Schwalbenfestung“. Es ist auch für mich das erste Mal, dass ich es sehe. Es gleicht einer sich schließenden Blüte, neben der ein spitzer Obelisk wie ein mahnender Zeigefinger gen Himmel weist. Doch nicht die Ewige Flamme ist unser Ziel, sondern das benachbarte Genozid-Museum, das die wichtigsten Dokumente und Zeugnisse von 1915/16 bewahrt als armenisches Yad Vashem.  Wir besichtigen die erschütternde Sammlung. Während die Patriarchen zum Kongresszentrum zurückkehren, setze ich meinen Weg zum Mahnmal fort, ein Stonehenge aus grauem Beton. Im Innern brennt die ewige Flamme, umgeben von einem konzentrischen Ring aus zehntausenden Blumen, niedergelegt von den Nachkommen der Opfer. Hier schlägt das Herz eines Volkes, leidgeprüft wie neben ihm nur das Jüdische, wie dieses auch auferstanden wie Phönix aus der Asche. Doch anders als in Israel ist hier die tiefe Wunde noch nicht geschlossen, klafft sie, weit geöffnet, und klagt die Täter an, die, anders als wir Deutschen, es nie für nötig gehalten haben, Reue zu zeigen und Wiedergutmachung zu versuchen.  Eine Schulklasse trifft ein, ordentlich gekleidete Jungen und Mädchen, Letztere mit weißen Schleifen im Haar. Jedes der Kinder hält eine Tulpe in der einen und eine aus Seidenpapier gebastelte Blüte in der anderen Hand. Sie stellen sich rund um die Ewige Flamme auf, sprechen ein Gebet, legen die Blumen und Blüten nieder. Ritualisiertes Gedenken, eine Erinnerung, die an die nächste Generation weitergegeben wird, die weiter mit der Bürde einer unverheilten Wunde leben muss. Es kann erst dann Frieden in ihre Herzen einkehren, wenn sich die Mörder ihrer Ahnen zu ihrer Schuld bekennen. „Don’t deny“, lautete das Lied, mit dem Armenien in diesem Jahr am Eurovision Song Contest teilnimmt. Auf Druck der Türkei musste sein Titel geändert werden. Er heißt jetzt, sogar noch treffender: „Face your shadow!“ – Stelle Dich Deiner dunklen Seite!

Ich verlasse das Mahnmal und staune. Unter der längst aufgebrochenen Wolkendecke leuchtet mir zum ersten Mal der Kleine Ararat in der Abendsonne entgegen. Der Große Ararat dagegen ist nach wie vor von Wolken verhüllt.

Abends fahre ich nach Etschmiadsin, um an einer feierlichen Vesper mit dem Katholikos und den Patriarchen teilzunehmen. Die herrlichen Gesänge des Chores klingen in meinem Herzen noch lange nach. Nachts scheint die ganze Stadt auf den Beinen, denn morgen ist hier der große Tag.

 
VIERTER TAG (23. April 2015)

Ich habe in meinem Leben an vielen Heiligen Messen und liturgischen Feiern, an Pontifikalämtern und Heiligsprechungen teilgenommen, aber was ich heute in Armeniens heiliger Stadt Etschmiadsin an Pracht und Feierlichkeit erlebe, raubt mir den Atem. Es ist ein Ereignis, das Kirchengeschichte schreibt: die größte Heiligsprechung der Geschichte. Heute sollten sämtliche 1,5 Millionen Opfer des Völkermordes von 1915/16 zu Heiligen und Märtyrern erklärt werden. Und das im Beisein von Vertretern praktisch aller christlichen Kirchen: Der Kopten (vertreten durch Papst Tawadros II.) und der Syrisch-Orthodoxen (vertreten durch Ignatius Aphrem II. und ), der Maroniten (vertreten durch Kardinal  Rai), der Russisch-Orthodoxen (vertreten durch den Erzbischof von St. Petersburg und Kanzler des Moskauer Patriarchats, Metropolit Warsonofij Sudakow) und Griechisch-Orthodoxen (vertreten durch mehrere Erzbischöfe), der Anglikaner (vertreten durch den Bischof von London, Richard Chartres) und natürlich unserer Römisch-Katholischen Kirche, vertreten durch den Präsidenten des Päpstlichen Rates für die Einheit der Christen, Kurt Kardinal Koch. Hinzu kam die politische Prominenz, allen voran Armeniens Präsident Sersch Sargsjan.



Ich gebe zu, ich bin ein wenig abergläubisch. Ich achte bei solchen Ereignissen immer auch ein wenig auf das Wetter. Ich habe noch nie eine Heiligsprechung im Regen erlebt. Selbst bei der Seligsprechung von Johannes Paul II., als über ganz Italien eine dichte Regendecke lag, riss über Rom der Himmel auf und bildete ein kreisrundes Wolkenloch, durch das die Sonne auf uns Gläubige auf dem Petersplatz schien. Auch am heutigen Tag könnte das Wetter nicht besser sein. Es ist der erste richtige Frühlingstag in Armenien, bei strahlendem Sonnenschein wird es fast zu warm; die Zeremonie findet unter freiem Himmel statt.

Pünktlich um 17.00 Uhr macht sich von der Kathedrale aus kommend die Prozession der armenischen Bischöfe, Priester und Würdenträger, allen voran der Katholikos, auf den Weg. Ich staune über die herrlichen, goldbestickten Gewänder, die in so auffälligem Kontrast zum schlichten Schwarz der Kapuzen stehen, die von den zölibatären Mönchspriestern getragen werden. Die Diakone halten Kirchenfahnen und Zeremonialampeln. Ihnen folgen zwölf  Bischöfe mit ihren hohen, gold- und edelsteinbestickten Mitren, von denen jeder eine Reliquie trägt: die Gebeine der Heiligen in armförmigen Reliquiaren, darunter der rechte Arm des Erzmärtyrers Stephanus und des hl. Gregors des Erleuchters. Das Holz des Kreuzes, der Arche Noah und die Heilige Lanze von Etschmiadzin in ihren filigran verzierten, goldenen Staurotheken, aber auch das uralte Evangeliar von Zeitun aus dem 13. Jahrhundert. In einem silbernen Schrein werden schließlich  Gebeine einiger Opfer des Völkermordes getragen. Zuletzt, unter einem pyramidenförmigen Baldachin aus Goldbrokat, schreiten die beiden Katholikoi und Hauptzelebranten, Karekin II. und Aram I., zum Hochaltar, sich dabei auf ihre silbernen Hirtenstäbe stützend. Nach der feierlichen Eröffnung der Heiligsprechungsliturgie treten fünfzehn weißgekleidete Kinder vor den Altar und lassen weiße Tauben fliegen; genau sieben Vögel kehren zurück und landen vor dem Altar.  Höhepunkt ist die Enthüllung und rituelle Salbung zweier Ikonen, die symbolisch die Opfer des Völkermordes zeigen,  mit dem heiligen Myron (Salböl) der armenischen Kirche,  gefolgt von der offiziellen Proklamation ihrer Heiligkeit. Ganze zwei Stunden dauert die Feier, immer wieder begleitet von den erhebenden, ja himmlischen Gesängen der Chöre, die Werke Komitas vortragen, des größten armenischen Sakralkomponisten, der selbst zu den Verbannten des Völkermordes gehörte, den er freilich, wie durch ein Wunder, überlebte. Dann, zum Abschluss, erklingen exakt um 19.15 Uhr die Glocken – nicht nur in Etschmiadsin, nicht nur in ganz Armenien, sondern auf der ganzen Welt: Große Videoleinwände übertragen live, wie auch die Glocken des Kölner Domes, des Stephansdoms zu Wien, des Berliner Domes, der Notre Dame de Paris, der Erlöserkathedrale in Moskau oder der St. Patrick’s-Kathedrale in New York im Gedenken an die 1,5 Millionen Märtyrer läuten. Nicht weniger prachtvoll als der Einzug ist der Auszug der Zelebranten, denen die beiden jetzt gesalbten Ikonen vorangetragen werden, gefolgt von den heiligsten Reliquien eines Volkes und seiner Kirche, die, in das liturgische Geschehen integriert, an diesem größten Ereignis seiner jüngeren Geschichte teilhaben sollten.
Ich verabschiede mich von Papst Tawadros und Kardinal Koch. Auf dem Weg zu meinem Fahrer komme ich noch an einer modernen Kuppelkirche vorbei, werfe einen Blick hinein. Zwei mächtige, vielleicht zehn Meter hohe steinerne Schlangenstäbe zu beiden Seiten des Altars verleihen dem strengen Heiligtum einen fast heidnischen, vorchristlichen Charakter. Hunderte Menschen umringen die rechteckigen Becken voll feuchtem Sand, in den sie schmale Bienenwachskerzen stecken. Das ganze Gotteshaus erfüllt ein engelhafter Gesang; Komitas, wie ich sofort erkenne. Ich wundere mich, wer eine so grandiose Stimme hat und frage mich schon, ob es ein leibhaftiger Engel ist, als ich die Sängerin entdecke: Ein schmales Jeansmädchen, gerade einmal 18 Jahre alt, mit einer glockenklaren Stimme, die Konzertsäle füllen und ein Millionenpublikum begeistern könnte. Doch das interessiert sie nicht; viel wichtiger ist es ihr, sie zur Ehre Gottes ertönen zu lassen.



Etschmiadsin, 23. April 2015 - Heiligsprechung der Märtyrer des Völkermordes

Im Ort sind Hunderte Jugendliche damit beschäftigt, aus Kerzen die Jahreszahl 1915 zu bilden. Doch ich verweile nicht lange. Das Wetter hat sich geändert, seit die Liturgie beendet ist. Ein kühler Wind ist aufgekommen, Wolken sind aufgezogen, es droht zu regnen. Allmählich weicht die freudige Stimmung, die noch auf der Heiligsprechung dominiert hat, dem feierlichen Ernst des Totengedenkens. Auch in meinem Hotel brennt, wie wohl heute abend in allen Häusern des Landes, eine Kerze in Erinnerung am die Opfer des Völkermordes.


FÜNFTER TAG (24. April 2015 – 100. Gedenktag des Völkermordes)
 
Ein eisiger Wind weht von der Türkei her über das Land, die Temperatur ist von 20 (gestern) auf 6 Grad gefallen. Dichte, finstere Wolken verhüllen den heiligen Berg der Armenier, den Ararat. In Westarmenien ("Ostanatolien") fiel sogar Schnee.  

Bewegende Gedenkfeier am Völkermorddenkmal von Yerevan. Selbst der Himmel trägt Trauer, vereinzelte Schauer peitschen über das Schwalbennest von Zizernakaberd oberhalb Jerewans, die Völkermord-Gedenkstätte. Delegationen aus  60 Ländern und allen Kirchen der Welt treten hervor, begrüßen den armenischen Präsidenten, werden von jungen Mädchen zum Völkermorddenkmal geleitet, stecken eine Blume in den Kranz, der vor seinem Eingang aufgestellt wurde. Unter ihnen auch Kardinal Kurt Koch, Frankreichs Präsident Hollande und Rußlands Präsident Vladimir Putin, der mit Stehapplaus begrüßt wird. Am Ende tritt Armeniens Präsident Sersch Sargsjan, begleitet von seiner Gattin, nach vorne, während Glocken geschlagen werden. Dann ertönt Armeniens Nationalhymne, alle erheben sich: Das trotzige Bekenntnis zum Überlebenswillen des leidgeprüften armenischen Volkes, das zumindest auf dieser Hochebene des Kaukasus, beschützt vom mächtigen Rußland, eine Zuflucht gefunden hat, um seine uralte Kultur und seinen tiefen Glauben zu bewahren. Es folgt eine Ansprache des Präsidenten, der ausdrücklich Papst Franziskus für seine Anerkennung des Genozids und die würdige Feier im Petersdom dankt, dann Hollandes und Putins, der wieder Stehapplaus erntet. Dann kommt die Stunde Gottes. Unter feierlichem Gesang tragen zwei Diakone die Ikone der Märtyrer des Völkermordes zum Denkmal, die gestern in Etschmiadzan geweiht worden war. Patriarch Karekin II. erinnert an die Opfer des Völkermordes, die um ihres christlichen Glaubens willen von einem unmenschlichen, ja teuflischen Regime ermordet worden sind und spricht das Glaubensbekenntnis. Der Chor stimmt das Halleluja an. Diakone schwenken Weihrauchfässer. Die versammelten Delegierten aus aller Welt, darunter die Patriarchen, Kardinäle und Erzbischöfe als Vertreter der gesamten christlichen Welt, stehen auf, stimmen in das Loblied Gottes ein. Soldaten im Stechschritt treten vor, nehmen Aufstellung zu beiden Seiten des Kranzes, der die Form einer fünfblättrigen, violetten Blüte hat, das Symbol der gesamten Gedenkfeierlichkeiten. Jeder trägt sie am Revers (ich auch), jeder Wagen hat einen solchen Aufkleber, es gibt Krawatten in dieser Farbe. Violett ist die Farbe des Tages. Ein Zeichen der Solidarität. Erneut singt der Chor, als sich alle Delegierten von ihren Plätzen erheben. Sie bekommen von Helferinnen Rosen überreicht. Armeniens Präsident, begleitet von Hollande, gefolgt von Putin und seiner Frau, betreten als Erste das Innere des Völkermorddenkmals, legen ihre Blumen zu denen des trauernden Volkes. Die anderen Gäste folgen ihnen, einige bekreuzigen sich, manche sprechen ein kurzes Gebet. Dann verlassen sie in stiller Anteilnahme schweigend das Denkmal. Zuletzt treten die Patriarchen und Erzbischöfe an die Ewige Flamme. Morgen fliegen die meisten von ihnen in ihre Heimatländer zurück, wo sie uns allen die Lehre aus diesen Tagen verkünden: dass sich Geschichte nicht wiederholen und dass ein Menschheitsverbrechen nicht geleugnet werden darf. NEVER AGAIN! NIEMALS WIEDER!


An der Völkermord-Gedenkstätte

Um 13.00 Uhr ist die Gedenkstätte für die Öffentlichkeit freigegeben und ich nehme die Gelegenheit wahr, mich unter das Volk zu mischen. Ganz Armenien scheint an diesem Tag auf den Beinen, ganz Armenien pilgert zu diesem symbolischen Grab seiner Väter, um Blumen niederzulegen und ein Gebet für die Toten zu sprechen.  Sie und ihr Volk werden erst Frieden finden, wenn ihnen Gerechtigkeit widerfahren ist. Sogar Armenier aus Deutschland treffe ich, sie haben mich gleich erkannt. Dann ist auch der Himmel nicht mehr zu halten und weint anderthalb Millionen Tränen. Ein Wolkenbruch geht über uns nieder. Doch er hält die Armenier nicht davon ab, auch weiterhin geduldig anzustehen, um ihre kurze Zwiesprache mit den Opfern der Unmenschlichkeit zu halten. Jedes Jahr, so berichtet man mir, regnet es am 24. April. Man könnte den Kalender danach stellen.  Der Himmel trägt Trauer. Noch bleibt der Regenbogen, das Zeichen der Versöhnung Gottes mit den Menschen, aus. Er wird erst dann erscheinen, wenn die Türken ihre Morde bereuen!

Abends bin ich eingeladen, im Ersten Programm des staatlichen armenischen Fernsehens über meine Arbeit zu sprechen. Der Moderator trägt die gleiche violette Krawatte, die auch ich aus Solidarität mit den Opfern des Völkermordes angelegt hatte. Das Gedenken an sie vereint nicht nur die Gemeinschaft der Exilarmenier mit der Heimat, es umspannt die Völker!

Gemeinsam mit einer armenischen Historikerin, Anna Hunayan, mache ich mich danach auf die Suche nach einem Restaurant. Die Innenstadt ist überfüllt, der Regen hat aufgehört. Zehntausende Jugendliche machen sich, mit Fackeln in den Händen in einer endlosen Prozession, einer feurigen Schlange gleich, auf den Weg zur Gedenkstätte, der Schwalbenfestung. Einige skandieren patriotische Slogans. Irgendwo brennt eine türkische Flagge. Emotionen entladen sich, Empörung über das Leugnen.

Ein Restaurant am Straßenrand sieht einladend aus. Die witzige Dekoration ist Kontrastprogramm zum Ernst der Stunde. Sie hat eine russische Filmkomödie zum Thema, „Dschentelmeni udatschi“, „Gentlemen des Glücks“, den Anna aus ihrer Jugend kannte. „Die Russen haben damals meist Komödien gedreht“, verrät sie mir. „Armenische Filme sind dagegen immer ein wenig traurig“. Wie könnte es auch anders sein in einem Land, das seit hundert Jahren Trauerflor trägt. Noch immer liegt eine gewisse Melancholie über Annas herrlicher Heimat, über ihren Menschen, in ihrer Musik. Doch der Ausflug in die sowjetische Vergangenheit hat sich gelohnt: Im „Dschentelmeni“-Restaurant esse ich das beste Schaschlik meines Lebens.
 

SECHSTER TAG (25. April 2015)
 
Die große Überraschung: Gestern weinte der Himmel seine 1,5 Millionen Tränen,  heute erstrahlt das ganze Land in sanftem Sonnenlicht.  Majestätisch erhebt sich, zum ersten Mal fast völlig unverhüllt, der Ararat über der armenischen Hochebene. Nach dem Tag der Trauer werden wir reich belohnt, sind wir jetzt würdig, den heiligen Berg der Armenier zu schauen. Die Luft ist so klar, dass man weit in das türkisch besetzte Westarmenien blicken kann. Es ist jetzt von einer Schneedecke bedeckt, die wie ein weißes Leichentuch über den Gebeinen der Millionen Ermordeten liegt.


Chor Virap und der Ararat

Meine Fahrt führt mich zum uralten Kloster von Chor Virap, errichtet über dem Verließ, in das König Trdat den heiligen Gregor für 12 Jahre werfen ließ. Es liegt direkt an der türkischen Grenze, von hier aus hat man den besten Blick auf den Ararat. Ich frage mich, ob tatsächlich unter seiner schweren Schneedecke noch die Arche Noah verborgen liegt. Die Armenier sind davon überzeugt.

Ich steige auf einen Hügel, der das Kloster überragt und genieße die Landschaft. Es wundert mich gar nicht, dass einige Forscher hier den ursprünglichen Garten Eden lokalisieren, so schön und rein ist dieses Land. Im Norden ragen die schneebedeckten Hänge des Kaukasus in den Himmel. An sie schmiedeten die Götter einst Prometheus, weil er den Menschen das Feuer brachte – eine andere Version der Geschichte vom Sündenfall.
Im Kloster lasse ich es mir nicht nehmen, in das Verließ des heiligen Gregors zu steigen. Es liegt sieben Meter tief, ist klein, dunkel, eng – bedrückend. Früher soll es eine Schlangengrube gewesen sein. Welch eine Glaubensstärke muss der Mann besessen haben, um all die Jahre hier auszuhalten um dann doch, nicht etwa als gebrochener Mann, sondern vom Heiligen Geist gefestigt, doch noch zu triumphieren und das Land zu bekehren!

Eine Reisegruppe trifft ein, studiert ausgiebig die türkische Grenze. Anna, die mich begleitet, erkennt ihre Sprache, es sind Türken. Sie stammen aus Deutschland. Einer von ihnen erkennt mich, will mich dem Reiseleiter vorstellen, ich winke ab. Angeblich sind sie hier, um ihre Solidarität mit den Armeniern auszudrücken. Ich traue ihnen nicht, zu gekünzelt scheint ihre Freundlichkeit. Der Türke lädt mich ein, ich solle doch mit ihnen kommen, sie fahren noch nach Berg Karabach. Das wäre eine zehnstündige Fahrt, völlig unrealistisch, das an diesem Tag noch zu schaffen. Mein Misstrauen wächst. Ich bedanke mich höflich und lasse sie stehen.


Swartnoz, die "Kirche der Engel" und der Ararat

Ich muss noch einmal nach Swartnoz, zur Kirche der Engel, will sie bei schönem Wetter, mit dem Ararat im Hintergrund, fotografieren.  Wieder lockt mich himmlischer Gesang. Ich erkenne den Tenor vom Dienstag, jetzt inmitten einer Gruppe, die sich das „Swartnoz-Quartett“ nennt: Zwei Männer, zwei Frauen, jeder von ihnen hat eine Opernausbildung. Sie singen hier für Hochzeitspaare, die gerne hier ihr frisches Ehebündnis von den Engeln segnen und sich vor der malerischen Kulisse fotografieren lassen. Armenische Volksweisen und Komitas, der große armenische Sakralkomponist, gehören zu ihrem Repertoire. Ich lausche ihren Liedern und hoffe, dass sie eines Tages auch ein deutsches Publikum beglücken können.

Quer durch Jerewan, über die „Säuferbrücke,“ wie ich die Überführung vor meinem Hotel längst nenne, da sie doch zwei Cognacfabriken miteinander verbindet, geht die Fahrt weiter nach Norden. Mein Fahrer, der längst begriffen hat, dass ich auch ein leidenschaftlicher Fotograf bin, hält an einem Torbogen an, von dem aus man einen herrlichen Blick über die urwüchsige Landschaft Armeniens bis hin zum Ararat hat. Die Landschaft hat etwas Jungfräuliches an sich, so rein wirkt das frische Grün, als seien im Herbst erst die Fluten der Sintflut gewichen, als breite sich gerade erst wieder das Leben auf dem feuchten Schlamm aus. Eine weiße Hündin begrüßt mich schwanzwedelnd, wohl die Meinige riechend, sie kommt näher, ist zutraulich, legt ihren Kopf an mein Bein. Ich streichel sie. Zutrauliche Straßenhunde sind ein gutes Zeichen. Man erkennt die Qualität eines Volkes auch daran, wie es mit seinen Tieren umgeht. In zu vielen Ländern sind Straßenhunde menschenscheu und verängstigt, Opfer zu vieler Fußtritte geworden. In Armenien, so scheint es, werden sie gut behandelt. In Etschmiadzin etwa sah ich, wie Frauen einem dreibeinigen Straßenhund, der wohl Opfer eines Autounfalls geworden war, einen Napf mit frischem Futter hinstellten. Kinder kraulten und streichelten ihn. Ich mag dieses Volk immer mehr.



Die Hübsche will mir ins Auto folgen, doch ich muss sie zurücklassen. Stolz zeigt mit mein Taxifahrer Fotos seines Hundes.  


Garni und sein Tempel

Wir kommen in Garni an, im Tal des Azat-Flusses, an den Hängen der umliegenden Hügel und oberhalb der Felswände errichtet, einst die Sommerresidenz der armenischen Könige zur Römerzeit. Wein, Obst und Walnüsse werden hier angebaut. Doch mein Ziel ist nicht das pittoreske Dorf mit seinen weißblütigen Obstbäumen, sondern ein wahres Wunderwerk der Antike, das freilich hier, im Kaukasusvorland, ein wenig deplatziert wirkt. Denn in Garni steht ein vollständig erhaltener römischer Tempel, einst dem Lichtgott Mithras geweiht, den König Trdat I. im 1. Jahrhundert errichten ließ. Er überstand die Christianisierung des Landes nur deshalb unbeschadet, weil ihn Armeniens Könige kurzerhand zur Audienzhalle umfunktionierten.
Dann führt mein Weg noch tiefer in das Reich der Schluchten und Felsen, die Heimat der „Drachenschlangen“ aus der armenischen Mythologie. Ich hatte die Heilige Lanze von Etschmiadzin gesehen und verehrt und will jetzt ihr Kloster besuchen. Geghard heißt es, „Kloster der Heiligen Lanze“, und gehört längst zum Weltkulturerbe. Der heilige Gregor selbst soll es im 4. Jh. an der Stelle eines heidnischen Quellenheiligtums gegründet haben. Die Araber zerstörten es im 9. Jh., 1215 wurde es wieder errichtet. Die Landschaft, die es umgibt, ist einfach grandios. Jetzt, in der Abenddämmerung, umschmeichelt das warme Abendlicht die Gipfel steinerner Klippen.  Überall finden sich in den Fels geschlagene Eremitagen, heilige Höhlen und Kreuzsteine (Chatschkars). In die Felswände selbst sind unzählige, reich verzierte Kreuze geschlagen, die an Lebensbäume erinnern. Ich trete in die Hauptkirche ein, die, wie fast alle armenischen Kirchen, in ein mystisches Halbdunkel gehüllt ist. Nur ein Kandelaber erhellt den Altar, der Gottesmutter geweiht. Eine Ikone zeigt den hl. Judas Thaddäus mit der Heiligen Lanze in der Hand, die er hier einst versteckt haben soll. Die Seitenkapellen der Klosterkirche sind in den Fels geschlagen und mit zahlreichen Kreuzen, aber auch archaischen Tierdarstellungen geschmückt, die durchaus noch aus heidnischer Zeit stammen könnten. Ich sehe Adler, zwei sich gegenüberstehende Löwen und Schlangen – Motive, die schon in der Kunst der Hethiter eine Rolle spielten. Es ist, als würde die viertausendjährige Geschichte Armeniens an diesem einen Ort zusammenkommen. Durch den felsigen Grund schlängeln sich Kanäle mit dem Wasser der heiligen Quelle; es soll Wunder wirken und Krankheiten heilen. Beherzt knie ich mich nieder und trinke daraus.


Das Felsenkloster Geghard

In andächtiger Stille, noch erfüllt vom Segen dieses heiligen Ortes, lasse ich mich zurück nach Jerewan bringen. Ich habe tief in das Herz dieses uralten Volkes geblickt. Der Himmel ist jetzt klar, keine Wolke verhüllt mehr den Ararat, der in das warme Licht der untergehenden Sonne gehüllt ist. Der Schnee über Westarmenien leuchtet wie Gold und lässt die nahe und doch so unerreichbare Heimat der Armenier noch begehrenswerter, noch verlockender erscheinen. Wird ihnen je Gerechtigkeit widerfahren, erhalten sie dieses ihnen so brutal gestohlene Land eines Tages zurück? Nur der Himmel kennt die Antwort.
Zum letzten Mal erlebe ich den Sonnenuntergang in Armenien. Doch ich werde, so Gott will, in dieses herrliche Land zurückkehren!