Michael Hesemann, Historiker und Autor
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Martin Luther und die Juden – eine verhängnisvolle Feindschaft

 
Von Dr. h.c. Michael Hesemann
 
Wenn demnächst 500 Jahre Reformation gefeiert werden, drängt sich auch die Frage nach Martin Luthers Antisemitismus auf. Zentrales Dokument seines Judenhasses ist die 1543 entstandene Schrift "Von den Juden und ihren Lügen". Welches Erbe hat Luther damit hinterlassen?
Als Julius Streicher, der angeklagte Herausgeber des antisemitischen Schmierblattes "Der Stürmer". während des Nürnberger Prozesses bis zuletzt versucht hatte, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, berief er sich auch auf den Reformator:
"Wenn Martin Luther heute lebte, dann säße er hier an meiner Stelle…"
erklärte er. Und damit lag er wohl gar nicht einmal so falsch. Denn selbst der evangelische Göttinger Kirchengeschichtler Thomas Kaufmann muss in Hinsicht auf Luthers „Judenschriften“ einräumen,
"dass diese Schriften, die jahrhundertelang unbeachtet geblieben sind, eine unheilvolle Wirkung gerade im frühen 20. Jahrhundert und damit in der Vorgeschichte des Holocausts ausgeübt haben und damit so etwas wie Ermöglichungsfaktoren des eliminatorischen Antisemitismus der Nazis geworden sind."[1]
So sahen es auch viele Protestanten während des Dritten Reiches. Etwa der evangelisch-lutherische Landesbischof von Eisenach im Kernland der Reformation, der im Vorwort zu seiner Schrift „Martin Luther und die Juden – Weg mit ihnen!“ schrieb:
 
"Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen. Vom deutschen Volk wird ... die Macht der Juden auf wirtschaftlichem Gebiet im neuen Deutschland endgültig gebrochen und damit der gottgesegnete Kampf des Führers zu völligen Befreiung unseres Volkes gekrönt. In dieser Stunde muss die Stimme des Mannes gehört werden, der als der Deutschen Prophet im 16. Jahrhundert einst als Freund der Juden begann, der getrieben von seinem Gewissen, getrieben von den Erfahrungen und der Wirklichkeit, der größte Antisemit seiner Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Juden."[2]
 
Nun wurden gerade in jüngerer Zeit von protestantischen Theologen immer wieder Versuche unternommen, den Lutherschen Antisemitismus als zeittypischen kirchlichen Antijudaismus zu relativieren.[3]
Der christliche Antijudaismus war sich immer der Tatsache bewusst, dass das Christentum selbst ein Derivat des Judentums, eine aus dem Judentum hervorgegangene messianische Bewegung ist. Gott ist nicht nur Mensch geworden, sondern ganz bewusst auch Jude; ein Ereignis, auf das das „auserwählte Volk“ im Heilsplan Gottes seit den Tagen Abrahams – der seinen Sohn nicht zu opfern brauchte – vorbereitet wurde. Als die Israeliten unter Moses und Aaron das Land Moab durchzogen, im 15. Jahrhundert vor Christus, sah schon Bileam, der Sohn des Beor, voraus, dass eines Tages „ein Stern aus Jakob aufgeht, ein Szepter sich aus Israel erhebt“ (Num 24,17). Mit dem Königsgeschlecht der Davididen schloss Gott einen Bund; aus ihm sollte auch der König Seines künftigen Friedensreiches hervorgehen. So führen die Evangelien nach Matthäus und Lukas lange Genealogien an, um die Abstammung Jesu über seine Mutter Maria aus dem Hause Davids, aber auch seine juristische, patrolineare Thronanwärterschaft über seinen Adoptivvater Joseph, ebenfalls Davidide, nachzuweisen. Jesus war nur darum der legitime Messias, weil er nachweisen konnte, aus dem Hause David, dem jüdischen Königshaus, zu stammen; so wurde er folgerichtig unter dem Schuldtitel mit der Aufschrift „Jesus von Nazareth, König der Juden“, gekreuzigt. Auch seine zwölf Jünger rekrutierte er ausschließlich aus dem Judentum, als symbolische Repräsentanten der ursprünglichen zwölf Stämme. Ganze zwölf Jahre lang konzentrierte die Kirche ihre Mission ganz auf das Heilige Land, dann auf die Diasporajuden; erst Paulus dehnte sie auch auf „Gottesfürchtige“ (Heiden, die das Judentum achteten) aus. Erst das Apostelkonzil von Jerusalem 48 n.Chr. legte fest, dass man auch Christ werden konnte, ohne zunächst Jude geworden zu sein und dass die zahlreichen Speise- und Reinheitsvorschriften ebenso wenig zur Erlösung notwendig sind wie speziell für Männer die damals im Erwachsenenalter nicht nur sehr schmerzhafte, sondern auch gefährliche Beschneidung.

Doch je mehr sich die neue Christenheit, die „Kirche aus den Heiden“, von ihren jüdischen Wurzeln und damit auch aus der „Kirche aus der Beschneidung“ entfernte, desto mehr entfremdete sie sich auch von den Juden. Mit der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion im römischen Reich unter Theodosius 390 wurde plötzlich das Judentum zum großen Außenseiter. 388 brannte im mesopotamischen Kallinikon die erste Synagoge, angezündet durch Christen, die zuvor während einer Prozession von ihrem Bischof aufgehetzt worden waren. Als der empörte Kaiser Theodosius eingreifen wollte, hielt ihn ausgerechnet der hl. Ambrosius von Mailand zurück. Nur ein Jahrzehnt später wetterte der wortgewaltige Patriarch Johannes von Konstantinopel,der auch Chrysostomos, „der Goldmundige“ genannt wurde, gegen die „Christusmörder“ und ihre „gegenwärtige Gottlosigkeit und Verrücktheit“[4].

Der Westen dagegen blieb den Juden gegenüber weitgehend tolerant. Papst Gregor der Große verbot ausdrücklich Zwangsbekehrungen und billigte den Juden Religions- und Kultusfreiheit im Rahmen des bestehenden Rechts zu. Karl der Große schätzte die Juden und garantierte ihnen alle Freiheiten. Speziell in den großen rheinischen Städten Mainz, Worms und Köln entstanden unter seiner Herrschaft blühende jüdische Gemeinden. Als im Umfeld der Kreuzzüge volkstümliche Prediger auch gegen Juden hetzten und es zu regelrechten Pogromen kam, waren es die Bischöfe, die ihnen zunächst Unterschlupf gewährten. Trotzdem kippte damals die Stimmung. Das 4. Laterankonzil 1215 verbot ihnen, Zinsen zu nehmen und öffentliche Ämter zu bekleiden, zudem verlangte man von ihnen, eine Kleidung zu tragen, die sie von den Christen unterschied, was zu ihrer Isolierung beitrug. Während selbst Kirchenlehrer wie der hl. Thomas von Aquin gegen sie predigten, führten die absurdesten Beschuldigungen – von Hostienfreveln bis zu Ritualmorden und Menschenopfern - zu neuen Pogromen. Die spanische Reconquista erzwang zunächst die Bekehrung von Juden, um dann mittels der Inquisition „Scheinbekehrte“ zu überführen und schließlich die „Abtrünnigen“ auf die Scheiterhaufen zu stellen, die Juden selbst aber des Landes zu verweisen. Ausgerechnet der Borgia-Papst Alexander VI. nahm sie gegen Zahlung einer „Steuer“ im Kirchenstaat auf. Auch im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation wurden sie diskriminiert (etwa wurde ihnen die Mitgliedschaft bei Gilden und Zünften verwehrt) und oft absurd beschuldigt. So warf man ihnen etwa vor, als „Brunnenvergifter“ Auslöser der Pestepidemie des 14. Jahrhunderts zu sein. Als Folge kam es bis 1519 zu 90 Ausweisungen aus deutschen Städten, sodass zur Lutherzeit gerade einmal 40.000 Juden in Deutschland lebten. Die päpstliche Toleranz seit Alexander VI. gab ihnen Anlass zur Hoffnung, und tatsächlich brachte das 16. Jahrhundert sogar dezidiert judenfreundliche Herrscher wie Rudolf II. hervor, während die Ausbreitung des Protestantismus die Judenfeindlichkeit wieder förderte, bis schließlich im 19. Jahrhundert der rassistisch begründete Antisemitismus eine neue Welle des Judenhasses bewirkte.

Der Rassenbegriff kam mit dem Zeitalter der Eroberungen auf und diente zunächst dem Ziel, den europäischen Kolonialismus biologistisch, also „wissenschaftlich“, zu legitimieren. Sein Ausgang war das von Carl von Linné 1735 entwickelte Grundschema der modernen Biologie, die Aufteilung der Pflanzen, Tiere und Menschen in Gattungen und Rassen. Dabei unterschied er zwischen den weißen Europäern, den roten Indianern, den gelben Asiaten und den schwarzen Afrikanern, wobei er die Weißen für überlegen, die Schwarzen für unterlegen hielt. Der Brite Edward Long bezeichnete sie schon vor Darwin als „tierhafte Geschöpfe… dem Affen näher“, die man bedenkenlos versklaven könnte. Mit der Romantik bekam der Begriff des „Volkes“ eine naturmystische Bedeutung und Verwurzelung in der „Heimat“, einem anderen nun neuheidnisch-pantheistisch mystifizierten Begriff, während „heimatfremde Völker“, darunter auch die Juden, zu Fremdkörpern erklärt wurden.

Mit Darwins „Entstehung der Arten“ (1859) wurde die Evolution als Überlebenskampf, als „survival of the fittest“ propagiert, der von Darwins Schülern auch auf die Gesellschaft übertragen wurde. So entstanden Sozialdarwinismus und Rassismus; letztere definierte die Geschichte der Menschheit als Geschichte des Rassenkampfes: die überlegene Rasse müsse über die schwächeren Rassen herrschen.
Nahm man zunächst die Juden als „volksfremde Fremdkörper“ wahr, wurden sie fortan (völlig widersinnig) zur „Rasse“ und damit zum „ewigen Widersacher“ des Germanen oder – hier griff man auf die Erkenntnisse der Linguistik zurück und erklärte die indogermanische Sprachenfamilie kurzerhand zur „arischen Rasse“ – Ariers mit den bekannten Unterstellungen. Auch wenn diese abstrusen Theorien also einen ganz anderen geistesgeschichtlichen und weltanschaulichen Hintergrund als der christliche Antijudaismus haben, so trug dieser doch, speziell seit seiner Popularisierung durch Luther, zur Akzeptanz und vermeintlichen „Absegnung“ rassistischer Irrlehren bei, die man durchaus für vereinbar zumindest mit dem lutherischen Christentum hielt. Trotzdem wollen wir im Weiteren von Luthers „Antijudaismus“ sprechen, der freilich den Weg zum späteren Antisemitismus geebnet hat und daher sein Vorläufer war.
 
Ist nun Luther mit seiner Polemik gegen die Juden lediglich ein Kind seiner Zeit gewesen? Tatsache ist: Es gab eine antijüdische Stimmung. Als viele der aus den erwähnten 90 Städten ausgewiesenen Juden sich in Frankfurt/Main niederlassen wollten, erlaubte der Stadtrat zunächst nur finanzkräftigen Juden die befristete Ansiedelung. 1515 lehnte der Stadtrat eine Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung ab, verhandelte mit dem Kurfürsten und Erzbischof von Mainz, Albrecht II., „der Juden halber, die zu vertreiben seien“. Dabei ging es um die Vertreibung der Juden aus dem ganzen Rhein-Main-Gebiet.  Sonst nämlich hätten die umliegenden Landesherren die Juden wohl gerne aufgenommen und die fällige „Judensteuer“ kassiert. Die Verhandlungen scheiterten am Veto der Stände. Außerdem hatten die Juden sich beim Kaiser beschwert, der die Vertreibung ablehnte. Schließlich scheiterte Albrecht II. auch bei seinem Versuch, die Mainzer Juden zu vertreiben. Dieser Vorfall allein zeigt schon, dass die Juden keineswegs rechtlos waren und auch ihre Sympathisanten und Fürsprecher hatten. Ein Ton, wie ihn später Luther anschlug, kam bei der ganzen Debatte nicht vor.

Vergleichbar in der Schärfe des Tons ist allenfalls Luthers Zeitgenosse, der Konvertit Johannes Pfefferkorn aus Dachau, der sich 1504 taufen ließ und anschließend erfolglos Judenmission betrieb. Er tat sich mit den Kölner Dominikanern zusammen, die damals im ganzen Reich als Inquisitoren tätig waren und lieferte ihnen das Material für ihre Aktionen gegen die Juden. So veröffentlichte er bis 1509 mehrere Schmähschriften, darunter den „Judenspiegel“, die „Judenbeicht“ und den „Judenfeind“. Darin bezeichnete er die Juden als „Bluthunde“, „gefährlicher als der Teufel“, die jeder Christ wie „räudige Hunde zu verjagen“ hätte.  Auf Drängen der Dominikaner erteilte ihm der Kaiser das Privileg, jüdische Schriften zu beschlagnahmen, was zu heftigen Protesten seitens der christlichen Bevölkerung der rheinischen Städte führte, die eine solche Demütigung der Juden ablehnte. Auch der Rat der Stadt Frankfurt und der Erzbischof von Mainz protestierten, sodass der Kaiser das Privileg wieder zurückzog und von Pfefferkorn verlangte, den Juden die bereits einkassierten Schriften zurückzugeben. Zugleich rief der Kaiser auf dem Reichstag zu Worms 1510 eine Kommission unter Leitung des Erzbischofs (damals noch Uriel von Gemmingen) ein, um Pfefferkorns Umtriebe zu untersuchen. Es kam zu einem heftigen Streit zwischen den Gutachtern der Kommission, darunter den Theologen Johannes Reuchlin, der die judenfreundliche Position der Humanisten vertrat, und den Dominikanern, die Pfefferkorn unterstützten. Im Juni 1513 erteilte der Kaiser Pfefferkorn Redeverbot, während Papst Leo X. 1514 Reuchlins Position bestätigte. Doch selbst Pfefferkorn, der die Judenmission mit den Worten „All die Gewalt, die den Juden geschieht, ist aus der Meinung, dass sie dadurch zu dem heiligen christlichen Glauben bewegt werden möchten … zu ihrer besten Besserung und nicht unseres Nutzens wegen“ begründete, bleibt in der Schärfe seines Tones weit hinter Luther zurück.

Sein Widersacher Reuchlin dagegen bewirkte ein Umdenken zugunsten der Juden. Er trat dezidiert dafür ein, zwischen einer theologischen Bewertung des Judentums und der juristischen Stellung der Juden zu unterscheiden. Die Polemik gegen das Christentum in Verteidigung ihres Glaubens sei ihr gutes Recht; es dürfe nicht dazu führen, ihre rechtliche Gleichstellung vor dem weltlichen Gesetz infrage zu stellen, denn „Ungerechtigkeit ist Rohheit, die alle Menschlichkeit verleugnet und den, der ihr nachstrebt, zum wilden Tier macht.“ Als ihn die Dominikaner unter ihrem Großinquisitor Jakob van Hoogstraten der Häresie bezichtigten, stellte sogar das 5. Laterankonzil (1512-17) ausdrücklich fest, dass im Talmud keine gegen das Christentum gerichteten Stellen zu finden seien, ganz wie es Reuchlin in seinem Buch „Augenspiegel“ erklärt hatte. Schließlich delegierte der Papst die Bewertung Reuchlins an die Bischöfe von Speyer und Worms, die zu seinen Gunsten entschieden. Erst die von Reuchlins Anhängern veröffentlichten, gegen die Dominikaner gerichteten, anonymen „Dunkelmännerbriefe“ und die Reformation selbst führten dazu, dass Leo X. schließlich nachgab und zumindest den „Augenspiegel“ als „häretisch“ verbot.

Womit wir zu Luther kommen.

Luther war in seinen frühen Jahren wohl eher selten mit Juden in Kontakt gekommen.
In seiner Heimat, dem Kurfürstentum Sachsen, lebten sehr viel weniger Juden als im Westen und Süden des Reiches. Bereits im 15. Jahrhundert waren die Juden etwa aus Wittenberg vertrieben worden. Seit 1536 bestand für sie dort sogar ein Durchreise- und Aufenthaltsverbot, das auf Luthers Druck 1543 erneuert wurde. Auch in Thüringen wurden nur 25 kleinere jüdische Familien gezählt, die nicht einmal über eine eigene Synagoge verfügten. In keiner der Städte, in denen Luther gewirkt hat, lebten Juden, mit einer Ausnahme: seiner Geburts- und Sterbestadt Eisleben. Dementsprechend unbedeutend sind seine persönlichen Erfahrungen mit Juden. Die Behauptung, er habe 1521 mit Juden auf dem Reichstag zu Worms diskutiert, wird von der Mehrheit der Lutherbiografen als Legende bezeichnet; sie wurde erstmals 1575, also posthum, überliefert. Lediglich von ihm selbst bezeugt ist seine Begegnung mit zwei oder drei Juden im Jahre 1525, die zu seinem Negativurteil beitrug. Im gleichen Jahr behauptete Luther in einem Brief an Nikolaus von Amsdorf, ein aus Polen stammender Arzt wolle ihn im Auftrag seiner Gegner vergiften. Obwohl dem Mann keine Schuld nachgewiesen wurde, glaubte der Reformator auch weiterhin, die Juden trachteten ihm nach dem Leben.

Tatsächlich war Luthers Einstellung den Juden gegenüber einem Wandel unterzogen. Man kann sogar behaupten: Je mehr er sich von der katholischen Kirche entfernte, desto mehr wuchs sein Hass auf die Juden.

Als junger Theologiestudent des Augustinerordens las er auch den masoretischen Text des Tanachs, der in etwa unserem AT entspricht. Dabei benutzte er die Tanach-Ausgaben christlicher Humanisten wie Reuchlin, die bei jüdischen Gelehrten Hebräisch gelernt und ihr Wissen an katholischen Universitäten weitergegeben hatten. Schon Papst Clemens VI. hatte 1311 das Hebräischstudium an katholischen Universitäten erlaubt, was 1434 auf dem Konzil von Basel bestätigt wurde. Trotzdem wurden die Humanisten von den Scholastikern, speziell den Theologen des Dominikanerordens, noch oft als „Judenfreunde“ diffamiert. Zu den Büchern, von denen wir wissen, dass Luther sie benutzte, gehörte Reuchlins hebräische Grammatik, die Luther 1506 erwarb. 1512 schaffte er sich Reichlins kommentierte lateinische Übersetzung der sieben Busspsalmen an. Vier Jahre später begann er, die Psalmen anhang der hebräischen Textausgabe von Konrad Pelikan und der Grammatik von Wolfgang Capito zu übersetzen. 1518 und 1520 überzeugte er die Universität Wittenberg, eine vollständige hebräische Bibel, 1494 in Brescia von Gershom ben Moshe Soncino herausgegeben, anzuschaffen. Während seiner Wirkungszeit entstanden in Wittenberg zwei neue hebräische Grammatiken, verfasst von Johann Böschenstein (1518) und Matthäus Aurogallus (1523). Dem Konvertiten Jakob Gipher verschaffte er in Wittenberg eine Dozentenstelle für Hebräisch, auch wenn er prinzipiell Konvertiten misstraute. Dass der Konvertit Matthäus Adriani seine Bibelübersetzung kritisierte, nahm er ihnen ebenso übel wie er ihnen nie vergab, dass der Konvertit Werner Eichhorn ihn in mehreren Ketzerprozessen denunzierte.

Überhaupt führte die berechtigte jüdische Kritik an Luthers 1534 veröffentlichter Bibelübersetzung zu einem Tiefpunkt der Beziehungen des Reformators zum Judentum. Statt einzugestehen, dass er aufgrund seiner mangelhaften Hebräischkenntnisse einfach Fehler gemacht hatte und aus diesen zu lernen, fühlte sich Luther in seinem Narzissmus gekränkt. Er war nicht bereit, zu lernen, sondern argumentierte geradezu trotzig nur mit Zitaten christlicher Kommentatoren und jüdischer Konvertiten. Es ginge nicht um eine korrekte Grammatik, sondern um den Sinn des Textes, den natürlich nur er, Luther, in seiner Ganzheit erfassen könne.[5] Die sehr viel genauere lateinische Bibelübersetzung des Sebastian Münster, die zeitgleich erschien, lehnte er als „judaisierend“ ab. Sie sei deshalb gefährlich für den christlichen Glauben. Damit argumentierte Luther ebenso polemisch wie die dominikanischen Inquisitoren, die den humanistischen Ansatz, das Bemühen um eine genaue Übersetzung, ebenfalls zurückwiesen. Dass sich ausgerechnet Luther als erklärter Gegner der Scholastik der Argumentation der Scholastiker bediente, entbehrt gewiss nicht einer gewissen Ironie.

Luthers Äußerungen zu den Juden und dem Judentum spiegeln diesen inneren Wandel wider. Zu Luthers „Judenschriften“ werden 16 seiner Veröffentlichungen gerechnet:
1514 Brief an Spalatin zu Johannes Reuchlin WA Briefe 1, Nr. 7, S. 23–30.
1513–1515 Erste Psalmenvorlesung WA 3, S. 11–4, S. 462.
1516 Römerbriefvorlesung WA 56
1519 Sermon zur Betrachtung des heiligen Leidens Christi WA 2, S. 136–142.
1521 Lobgesang der heiligen Jungfrau Maria, genannt das Magnificat WA 7, S. 601 ff.
1523 Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei WA 11, S. 314–336.
1523 Ein Sermon an dem Jahrestag von der Beschneidung der Juden WA 12, S. 400–407.
1525 Ein Sermon von des jüdischen Reichs und der Welt Ende WA 15, S. 741–758.
1526 Vier tröstliche Psalmen an die Königin von Ungarn WA 19, S. 542–615.
1530 Brief zur liturgischen Gestaltung von Judentaufen WA Briefe 5, S. 452,1–28.
1537 An den Juden Josel WA Briefe 8, Nr. 3157, S. 89–91.
1538 Wider die Sabbather an einen guten Freund WA 50, S. 312–337.
Januar 1543 Von den Juden und ihren Lügen WA 53, S. 417–552.
März 1543 Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi WA 53, S. 579–648.
Juli 1543 Von den letzten Worten Davids WA 54, S. 28–100.
1546 Eine Vermahnung wider die Juden WA 51, S. 195f.
 
In den frühen, katholischen Jahren seiner Wittenberger Lehrtätigkeit stand Luther dem Judentum noch verhältnismäßig tolerant gegenüber und lehnte ihre Verfolgung ab. Das zeigt sich schon darin, dass er 1515 im Pfefferkorn-Streit Partei für den Humanisten Johannes Reuchlin ergriff – und damit gegen die Kölner „Dunkelmänner“ sprich: Dominikaner und Scholastiker, deren Argumentation er, wie gesagt, erst später übernahm.

Georg Spalatin, der Humanist, Theologe und Beichtvater des Kurfürsten Friedrichs des Weisen, hatte Luther um ein Gutachten zu Reuchlins „Augenspiegel“ gebeten. In seinem Antwortschreiben sprach Luther Reuchlin vom Verdacht der Häresie frei und kritisierte dessen Verfolger. Zwar sei der Talmud tatsächlich gotteslästerlich, doch Verbote und Schikanen würden die Juden nur zu weiteren Gotteslästerungen verleiten, was zu verhindern sei. Die Juden seien ohnehin „unverbesserlich“, nur Gott könne ihre Ablehnung Jesu Christi überwinden. Menschen aber sollten dem  Handeln Gottes nicht vorgreifen.[6] Insofern gingen beim jungen Luther eine praktische Toleranz gegenüber den Juden mit einer antijudaistischen Theologie Hand in Hand. Doch trotzdem stellte er sich demonstrativ auf die Seite der Humanisten.

Geradezu tolerant gab sich Luther in seiner Vorlesung zum Römerbrief im Winter 1515/6. Gott behandle die Juden so streng, „damit wir am Beispiel fremden Unglücks lernen, Gott zu fürchten und in keiner Weise vermessen zu sein.“ Dem widerspreche das überhebliche Verhalten der Christen gegenüber den Juden. Statt „lästerliche Schimpfreden“ zu halten und „sich frech gleichsam als die Gesegneten und jene als die Verfluchten“ darzustellen, müssten sie „Mitleid haben“ und „ähnliche Dinge für sich befürchten“. Weil Gott Juden wie Heiden nur aus „reiner Barmherzigkeit“ angenommen habe, hätten „beide Grund, Gott zu loben, aber nicht, miteinander zu streiten.“[7]

Noch 1519 kritisierte Luther in seiner Passionspredigt, dass die Kirche aus dem Betrachten des Gekreuzigten ein Bedenken der Bosheit der Juden gemacht habe. Der Gekreuzigte sei Spiegel der eigenen todeswürdigen Sünde, über die der Einzelne beim Betrachten seines Leidens tödlich erschrecken müsse. Juden und Heiden hätten seinen Tod gleichermaßen und gemeinsam verursacht. Sie seien Werkzeuge der darin verwirklichten Gnade Gottes geworden. Damals erteilte Luther also dem antijudaistischen Vorwurf des Gottesmordes eine Absage.[8] Ein Jahr später verfasste er dazu einen neuen Passionshymnus:  „Unsre große Sünde und schwere Missetat Jesum, den wahren Gottessohn, ans Kreuz geschlagen hat. Drum wir dich, armer Juda, dazu der Juden Schar, nicht feindlich dürfen schelten. Die Schuld ist unser zwar. Kyrie eleison.“[9]
Relativ freundlich ist Luthers Haltung gegenüber den Juden auch noch in seiner Auslegung des Magnificats, die er 1521 auf der Wartburg niederschrieb („Das Magnifikat, verdeutscht und ausgelegt”). Zu den Schlußworten der Maria (Luk 1, 55: „Wie er geredet hat zu unseren Vätern, Abraham und seinem Samen in Ewigkeit”) bemerkt Luther: „Drum sollen wir die Juden nicht so unfreundlich behandeln, denn es sind noch Christen unter ihnen zukünftig und täglich werden, dazu haben sie allein und nicht wir Heiden solche Zusagung, daß allzeit in Abrahams Samen sollen Christen sein, die den gebenedeiten Samen erkennen. ... Wer wollte Christen werden, so er sieht Christen so unchristlich mit Menschen umgehen? Nicht also, liebe Christen: man sage ihnen gütlich die Wahrheit, wollen sie nicht, laß sie fahren!”[10] Ein Jahr später, 1522, hielt Luther in seiner Schrift „Vom ehelichen Leben“ unter der Voraussetzung, dass die Ehe „ein weltlich Ding“ sei, sogar Mischehen von Christen und Juden für möglich, hoffend, dass der christliche Partner den jüdischen bekehren würde.[11]

1523 veröffentlichte Luther seine Schrift „Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei”, auf die meist verwiesen wird, wenn Luthers späterer radikaler Antijudaismus relativiert werden soll.  Sie gilt sogar als sein Versuch, die Juden für die Reformation zu gewinnen. Immerhin hatten einige Juden Luthers Zusammenstoß mit der Kirche als Bruch innerhalb ihrer bislang monolithisch erscheinenden Struktur begrüßt. Andere hofften, dass die Unruhe, die innerhalb der christlichen Welt durch die Verbreitung des Luthertums entstanden war, zu einer neuen Toleranz für alle abweichenden Glaubensweisen führen werde. Es gab sogar einige, die Luther als „Krypto-Juden” betrachteten, –  ein fatales Mißverständnis.[12]

Tatsächlich ist Luthers Schrift „Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei“ zwar verglichen mit seinen späteren Schriften geradezu judenfreundlich, aber das ist relativ. Die wenigen freundlichen Sätze über die Juden finden sich in der kurzen Einleitung und dem Schluss der Abhandlung. Der Hauptteil besteht aus zwei ausführlichen anti-jüdischen Polemiken in der Tradition der altkirchlichen und mittelalterlichen „Adversus Iudaeos”-Literatur, wobei Luther zunächst Schriftbeweise für die christliche Lehre von der Geburt Jesu Christi, insbesondere für die Lehre von der Jungfrauengeburt, ausbreitet, um dann die jüdische Messiaserwartung aus der Schrift zu widerlegen.

In seiner Einleitung legt Luther die Gründe dar, die ihn zur Abfassung dieser Schrift bewegten. Der unmittelbare Anlass seien Gerüchte von römischer Seite, die ihn der Häresie bezichtigten: „Eine neue Lüge ist aber über mich ausgegangen: Ich soll gepredigt und geschrieben haben, daß Maria, die Mutter Gottes, sei nicht Jungfrau gewesen vor und nach der Geburt, sondern sie habe Christum von Joseph und danach mehr Kinder gehabt. Über das alles soll ich auch eine neue Ketzerei gepredigt haben, nämlich, daß Christus Abrahams Samen sei.”

Der apologetische Zweck der Abhandlung ist es also, „aus der Schrift” zu „erzählen die Ursachen, die mich bewegen zu glauben, daß Christus ein Jude sei, von einer Jungfrau geboren”.[13] Seine Adressaten sind also seine Kritiker, sind Christen, nicht Juden. Trotzdem hofft er, dass auch diese Schrift dazu beiträgt, die Juden zu bekehren – wörtlich: „ob ich vielleicht auch der Juden etliche möchte zum Christenglauben reizen”.[14] Und an diesem Punkt fallen einige gern zitierte Sätze. Luther gesteht nämlich ein, daß „unsere Narren, die Päpste, Bischöfe, Sophisten und Mönche, die groben Eselsköpfe, ... bisher also mit den Juden gefahren” seien, „daß, wer ein guter Christ wäre gewesen, hätte wohl mögen ein Jude werden”. Und er fügt hinzu: „Wenn ich ein Jude gewesen wäre und hätte solche Tölpel und Knebel gesehen den Christenglauben regiern und lehren, so wäre ich eher eine Sau geworden denn ein Christen”[15]. Hier wird deutlich, dass sich die Argumentation in erster Linie gegen die römische Kirche richtet.
Doch schon seine Begründung, weshalb Gott, als er Mensch wurde, sich ausgerechnet das jüdische Volk für seine Inkarnation aussuchte, zeugt von deutlichen antijüdischen Vorbehalten und Vorurteilen. Die Juden, so Luther, müssten doch zugeben, dass kein anderer Jude je Respekt und Anhängerschaft unter den Heiden gewonnen habe, wo doch „die Heiden allezeit natürlich keinem Volk feindlicher gewesen sind denn den Juden und nie haben wollen leiden ihre Herrschaft noch Gesetze noch Regiment.“[16] Schließlich betonte Luther die Notwendigkeit der Judenmission: „Darum wäre meine Bitte und Rat, daß man säuberlich mit ihnen umginge und aus der Schrift sie unterrichtete, so möchten ihrer etliche herbei kommen. Aber nun wir sie nur mit Gewalt treiben ..., daß man sie gleich für Hunde hällt, was sollten wir Gutes an ihnen schaffen? ... Will man ihnen helfen, so muß man nicht des Papstes, sondern christlicher Liebe Gesetz an ihnen üben und sie freundlich annehmen.”[17]

Reinhold Lewin antwortete darauf: „Man hat den Charakter der Schrift ... zu wiederholten Malen gröblich verkannt. Man beschränkte sich darauf, die Sätze der Einleitung und des Schlusses, in denen Luther für eine humane Behandlung der Juden eintritt, aus ihrem Zusammenhang herauszureißen, und auf Grund der willkürlich gewählten Zitate die vorurteilsfreie Toleranz des Reformators zu rühmen. Wer so handelt, wer in der Verwerfung der päpstlichen Judenpolitik den Hauptwert des Werkes erblickt, verkennt Luther von Grund aus, unterschiebt ihm Tendenzen, an die er niemals gedacht hat. Ihn interessieren die Juden bloß als Bekehrungsobjekt: das ist der Gesichtswinkel, unter dem er die Judenfrage behandelt. ... Von der Auffassung, er dürfe sich in den göttlichen Ratschluß nicht einmischen, hat er sich abgewandt; er überzeugt sich von der Möglichkeit der Bekehrung und sieht nun den Weg vor sich, der ihn zu dem ersehnten Ziele zu leiten verspricht. ... Für Luther bildet die Bekehrung die Hauptsache, neben der die Methode als gleichgültig und nebensächlich verschwindet. Wir machen darauf nachdrücklich aufmerksam, weil hier ... ein Punkt hervortritt, der die Gefahr eines Umschwungs in bedrohliche Nähe rückt. Verfängt das neue Mittel nicht, versagt die Milde ebenso wie die Härte und Grausamkeit, die man in früheren Zeiten handhabte, so lohnt es nicht weiter, von ihr Gebrauch zu machen ...”[18]
„Die Bekehrung der Juden ... bildet den Schlußstein in dem herrlichen Gebäude, das er aufgerichtet hat. Das Papsttum ist an der Aufgabe gescheitert nicht nur, weil es falsche Mittel anwandte, sondern vor allem, weil sein Fundament (Luthers Ansicht nach) auf Fälschungen und Irrlehren ruht. Hat Luther das wahre Christentum entdeckt ... so ist (wäre, d.Verf.) der endgültige Sieg der Kirche über die Synagoge die glänzendste Bestätigung.“[19]

Was Luther dabei vergaß, war, dass seine „Sola“-Doktrin den Protestantismus weiter vom Judentum entfernte als es der katholische Glaube je war. Steht im praktizierten Judentum die peinlich genaue Einhaltung von Gottes Geboten im Mittelpunkt, wodurch der Mensch zum Gerechten wird, kombiniert die katholische Lehre noch Werke und Glaube, ist es bei Luther der „sola fide“, der Glaube allein, der selig macht, den sich der Mensch freilich nicht erwerben kann, sondern der ihm allein durch Gottes Gnade (sola gratia) gewährt wird. Auch Luthers „sola scriptura“ muss einem gelehrten Juden, der in der Exegese des Tanach in der rabbinischen Tradition vertraut ist, als verwegen, ja absurd erscheinen.

Allerdings ist auch Luthers Bemühung um die Bekehrung der Juden durch antijüdische Vorurteile getrübt. Denn er mißtraute jüdischen Konvertiten. Dem jüdischen Konvertiten Jakob Gipher verschaffte er, wie gesagt, zwar eine Stelle als Hebräischdozent in Wittenberg, aber keine Pastorenstelle.1530 wies er einen evangelischen Pastor brieflich an, bei der Taufe eines jüdischen Mädchens streng zu beachten, dass es den christlichen Glauben nicht vortäusche, da dies bei Juden zu erwarten sei. In einer späteren Tischrede, die Justus Menius aufgezeichnet hat, wollte Luther einen „frommen“, seine Religion ernstnehmenden Juden, der sich die Taufe mit Schmeichelei zu verschaffen suche, lieber mit einem Stein um den Hals von einer Brücke in die Elbe stoßen.[20] In anderen Tischgesprächen brachte Luther mehrfach seine Überzeugung zum Ausdruck, dass Juden nicht wirklich zum Christentum konvertieren könnten. Eine innere Bekehrung sei unmöglich, während eine nur äußerliche Bekehrung nur zu Heuchelei und Lüge führen werde.[21] Wo aber der Verdacht der Heuchelei und Lüge die Juden als solche trifft, ist bereits eine Vorstufe zum modernen Antisemitismus erreicht, die nicht mehr auf theologischen Antijudaismus allein reduziert werden kann. In anderen Tischgesprächen ließ sich Luther sogar zu Äußerungen hinreißen, die eine regelrechte Mordlust gegenüber Juden dokumentieren. Zitat: „Ein anderer erzählte viel von den Gotteslästerungen der Juden und fragte, ob es einem Privatmann erlaubt sei, einem gotteslästerlichen Juden einen Faustschlag zu versetzen. Er antwortete: Ganz gewiß! Ich wollte einem solchen eine Maulschelle geben. Wenn ich könnte, würde ich ihn zu Boden werfen und in meinem Zorn mit dem Schwert durchbohren. Da es nämlich nach menschlichem und göttlichem Recht erlaubt ist, einen Straßenräuber zu töten, viel mehr einen Gotteslästerer” [22]

Offenbar hatten insbesondere die Erfahrung des Bauernkrieges von 1525 und seine allgemein depressive Stimmung zu diesem Zeitpunkt zur Verhärtung seiner Position beigetragen. Nur ein Jahr später, 1526, legitimiert er in seiner Schrift „Vier tröstliche Psalmen an die Königin von Ungarn“ die öffentliche Diskriminierung von Juden: „Also sie den Fluch im Geist anziehen als ein täglich Kleid, so lass sie auch ein öffentlich Schandkleid äußerlich tragen, damit sie vor aller Welt als meine Feinde erkannt und veracht werden".[23]

Aus dem Jahr 1537 ist dann von einer gescheiterten Begegnung Luthers mit einem prominenten Juden zu berichten: Durch Vermittlung des Straßburger Reformators Capito wandte sich Josel von Rosheim im Elsaß, der Sprecher der deutschen Judenheit, an Luther mit der Bitte, sich für die Erlaubnis zur Durchreise für Juden durch Sachsen beim Kurfürsten zu verwenden; Johann Friedrich „der Großmütige“ hatte 1536 ein rabiates Ausweisungsedikt gegen die Juden erlassen. Luther wies Josel von Rosheims zurück, im Ton zwar freundlich, doch in der Sache hart: Sein Herz sei nach wie vor für freundliche Behandlung der Juden, aber nur, um sie zu ihrem Messias zu bringen, nicht um sie in ihrem Irrtum zu bestärken. Möge sein „guter Freund” Josel seine Briefe an den Landesfürsten doch bitte „durch andere vorbringen”.[24] Seine Schrift von 1523, so begründete er seine Entscheidung, habe allen Juden „gar viel gedient“. Aber weil sie seinen Dienst für unerträgliche Dinge „schändlich missbraucht“ hätten, sehe er sich jetzt außerstande, noch bei den Fürsten für sie einzutreten. Obwohl Jesus auch Jude sei und den Juden „kein Leid getan“ habe, lästerten und verfluchten sie ihn ständig. Darum vermute er: Könnten sie tun, was sie wollten, so würden sie alle Christen um Leben und Besitz bringen. Diese absurde Unterstellung belegt Luthers tiefe Frustration darüber, dass die Reformation kaum Juden zur Konversion bewogen hatte, und seine veränderte Sicht der jüdischen Religionsausübung: Diese sah er nun als latente Bedrohung des Christentums an. Daher bejahte er erstmals die Nichtduldung von Juden in einem evangelischen Gebiet.[25]

Zu dieser regelrechten Paranoisierung von Luthers Denken mag seine völlig unrealistische Einschätzung der Sabbater-Bewegung beigetragen haben, von der er erstmals 1532 aus Mähren erfuhr. Die Sabbater waren reformatorisch gesinnte Christen, eine Täuferbewegung, die das AT wörtlich auslegten und zur Heiligung des Samstags statt des Sonntags aufriefen. Das NT, so waren sie überzeugt, hebe die Gebote des AT nicht auf. Luther aber hielt die Bewegung für einen Versuch von Juden, Christen zu missionieren, also für „jüdische Proselytenmacherei“. Eine solche aber hatten kaiserliche und fürstliche Gesetze streng verboten. Zudem stand Luther unter Rechtfertigungsdruck. Seine Gegner warfen dem Reformator vor, für eine jüdische „Unterwanderung“ des Christentums Tür und Tor geöffnet zu haben. In der Tat hatte die Reformation tatsächlich bei vielen Juden die Hoffnung erweckt, sie würde zur Schwächung oder gar zum Zusammenbruch der christlichen Welt führen. So fühlten sich Luther und seine Mitstreiter schon 1530 in der Confessio Augustana veranlasst, „jüdisch Lehren“[26] und einer (fiktiven) jüdischen Gegenmission eine klare Absage zu erteilen. Die judaisierende Reformatoren-Bewegung aus Böhmen schien diese Vorwürfe zu bestätigen. So verfasste er 1538 die Schrift „Wider die Sabbather“, die als Privatbrief „an einen guten Freund“ ausgegeben wurde, um eine Hinterfragung von Luthers Informationen zu verhindern. Völlig wahrheitswidrig behauptete der Reformator darin, in Mähren hätten die Juden „mit ihrem Geschmeiß ...  etliche Christen schon verführet … dass sie sich beschneiden lassen“[27] und glaubten, der Messias sei noch nicht gekommen. Die Konvertiten hätten sich verpflichtet, „die ganze Tora einzuhalten“[28]. Das sei aber gar nicht möglich, weil der Tempel im Jahre 70 zerstört worden sei, und so müssten diese Juden zunächst Palästina erobern und einen neuen Tempel bauen; würde ihnen das nicht gelingen, wären sie der Lächerlichkeit preisgegeben in ihrem Versuch, Christen zum Einhalten der seit 1500 Jahren „verfaulten“ Tora zu bringen.[29]
Damit machte Luther entweder die Juden für die Zersplitterung der Christenheit infolge der Reformation verantwortlich, um von seiner eigenen Verantwortung abzulenken, oder er war Anhänger einer antisemitischen Verschwörungstheorie. Jedenfalls forderte er in bester antijudaistischer Tradition mit dieser völlig frei erfundenen Beschuldigung der Proselytenmacherei letztendlich sogar erfolgreich die Vertreibung der Juden aus Mähren.[30] Dabei ist sich Luther seiner anti-judaistischen Geschichtskonstruktion von der Verwerfung Israels so sicher, dass er im Spott seine Bereitschaft erklärt, selbst Jude zu werden, sobald die Juden ins Gelobte Land zurückkehrten.[31] Die Gründung des Staates Israel, die ihn so gründlich widerlegt hätte, hat er leider nicht mehr miterlebt.

Die Polemik, mit der Juden auf seinen aberwitzigen Brief „Wider die Sabbather“ reagierten, musste Luther als erneute narzisstische Kränkung empfunden haben. Jedenfalls brach er fortan alle Brücken zum Judentum an und verfasste die vielleicht hasserfüllteste Schrift über die Juden, bevor Adolf Hitler in der Festungshaft in Landsberg an der Lech „Mein Kampf“ diktierte. Die Rede ist von seinem antijudaistischen und protoantisemitischen Pamphlet „Von den Juden und ihren Lügen“ aus dem Jahre 1543. Sein Ziel war nicht weniger, als das Judentum theologisch gänzlich zu verteufeln, um anschließend die Vertreibung der Juden aus allen protestantischen Gebieten zu fordern.

Luther erteilt gleich zu Beginn seinem einstigen Plan, die Juden zu bekehren, eine Absage: das sei ebenso wenig möglich wie die Bekehrung des Teufels. Auch Disputationen mit Juden und das Erlernen ihrer Bibelexegese lehnte er jetzt ab, weil das sie erfahrungsgemäß nur in ihrem Glauben bestärke und ermutige, Christen „an sich zu locken“.[32] Er wolle nur noch „unseren Glauben stärken und die schwachen Christen vor den Juden warnen“[33]. Die Juden hätten den wahren Messias verkannt und sich, um von ihrer Schuld abzulenken, ein Wahngebilde zum Glauben gemacht, dass nur aus Lügen und Hass auf Christus selbst basiere. Seitenlang stellt Luther die jüdischen „Irrtümer“ dar und argumentiert zunächst exegetisch-theologisch anhand der Propheten, weshalb nur Christus der verheißene Messias gewesen sein konnte. Diese Glaubensaussage wäre ja auch völlig legitim, wenn sie nicht immer wieder durch üble Diffamierungen und Polemiken unterbrochen würde.

Wie weit Luthers geistiger Horizont dabei bereits gesunken war, zeigt sich darin, dass er plötzlich alle altbekannten Klischees des mittelalterlichen Judenhasses kolportiert und sich zu eigen macht: Die Juden seien tatsächlich Brunnenvergifter und Kindesentführer, und selbst wenn ein Vorwurf nicht zuträfe, so seien sie doch zumindest „bereit dazu“.[34] Juden seien „verzweifelte, verstockte Lügner“[35], „der verlorene Haufen eines hurenhaften und mörderischen Volkes“[36], „voller Bosheit, Habgier, Neid und Hass untereinander, voll Hochmut, Raffgier, Hochnäsigkeit und Flüchen“[37], das habgierigste Volk[38], „Meuchelmörder und Teufelskinder“[39], ja „leibhaftige Teufel“[40], „verstockt[41], man solle sich vor ihnen hüten[42]. Ihre „verdammten Rabbiner“[43] verführten die Jugend wider besseres Wissen, sich vom wahren Glauben abzuwenden. Wenn sie doch etwas Gutes täten, dann nicht aus Liebe, sondern aus Eigennutz, weil sie bei den Christen wohnen müssten.[44] Sie hielten nicht einmal die Zehn Gebote[45], machten sich zu Herren der Christen, beuteten sie aus und verhöhnten sie, obwohl es ihnen jetzt besser ginge als im alten Israel.[46]

Luther verurteilt dabei nicht nur den Glauben der Juden, er hetzt auch gegen das jüdische Volk. Wörtlich:
„Durch das ganze Regiment des Volkes Israel und Juda ist nichts anderes gegangen als Gottes Wort zu lästern, zu verfolgen, zu spotten und Profeten zu würgen“[47] „Sie sind aller Bosheit voll, voll Geizes, Neides, Hasses untereinander, voll Hochmut, Wucher, Stolz, Fluchen wider uns Heiden“[48]  „Ebenso mögen die Mörder, Huren, Diebe und Schälke und alle bösen Menschen sich rühmen, dass sie Gottes heilig, auserwähltes Volk sind.“[49] : „Sie sind die rechten Lügner und Bluthunde, die nicht allein die ganze Schrift mit ihren  erlogenen Glossen, von Anfang bis noch daher, ohne aufzuhören verkehrt und verfälscht haben… Kein blutdürstigeres und rachgierigeres Volk hat die Sonne je beschienen, als die sich dünken lassen, sie seien darum Gottes Volk, das sie sollen und müssen die Heiden morden und würgen.“[50]

Er spricht ihnen sogar jede Menschlichkeit ab, wenn er schreibt:
„Darum, wo du einen rechten Juden siehst, magst du mit gutem Gewissen ein Kreuz für dich schlagen und frei und sicher sprechen: Da geht ein leibhaftiger Teufel.“[51]
„Ein solch verzweifeltes, durchböstes, durchgiftetes, durchteufeltes Ding ist`s um diese Juden, so diese 1400 Jahre unser Plage, Pestilenz und alles Unglück gewesen sind und noch sind. Summa, wir haben rechte Teufel an ihnen. Das ist nichts anderes. Da ist kein menschliches Herz gegen uns Heiden. Solches lernen sie von ihren Rabbinern in den Teufelsnestern ihrer Schulen.“[52]
„Sie fluchen uns Gojim und wünschen uns in ihren Schulen und Gebeten alles Unglück. Sie rauben uns unser Geld und Gut durch Wucher, und, wo sie können, beweisen sie uns alle böse Tücke. Wollen (das noch das Ärgste ist) hierin recht und wohl getan, dass ist Gott gedienet haben, und lehren solches zu tun. Solches haben keine Heiden getan. Tat auch niemand denn der Teufel selbst oder die er besessen hat, wie er die Juden besessen hat.“[53]
Und: „Ein solch verzweifelt, durchböset, durchgiftet, durchteufelt Ding ists um diese Juden, so diese 1400 Jahre unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück gewesen und auch noch sind. Summa: Wir haben rechte Teufel an ihnen, das ist nicht anders. Da ist kein menschlich Herz…“[54]
Nicht nur, dass er damit das antisemitische Klischee vom „teuflischen Juden“ als Urheber alles Bösen propagierte, Luther erweist sich auch als Stammvater der Wahnidee einer „jüdischen Weltverschwörung“:
„Die Juden begehren nicht mehr von ihrem Messias, als dass er ein weltlicher König sein solle, der uns Christen totschlage, die Welt unter den Juden austeile und sie zu Herren mache.“[55]
„Jawohl, sie halten uns in unserem eigenen Land gefangen, sie lassen uns arbeiten in Nasenschweiß, Geld und Gut gewinnen, sitzen dieweil hinter dem Ofen, faulenzen, pompen und braten Birnen, fressen, sauffen, leben sanft und wohl von unserm erarbeiteten Gut, haben uns und unsere Güter gefangen durch ihren verfluchten Wucher, spotten dazu und speien uns an, das wir arbeiten und sie faule Juncker lassen sein […] sind also unsere Herren, wir ihre Knechte.“[56]
„Ja, wenn sie uns das könnten tun, das wir ihnen tun können, würde unsereiner keine Stunde mehr leben. Weil sie es aber öffentlich nicht vermögen zu tun, bleiben sie gleich mal im Herzen unsere täglichen Mörder und blutrünstigen Feinde. Solches beweist ihr Beten und Fluchen, und so viele historische Berichte, da sie Kinder gemartert und allerlei Laster geübt, darüber sie oft verbrannt und verjagt sind. Darum ich wohl glaube, dass sie viel Ärgeres heimlich tun…“ [57]
Da wird schon der Besuch eines jüdischen Arztes zur Gotteslästerung nach Luther:
„Die Juden, die sich für Ärzte ausgeben, bringen die Christen, welche ihre Arznei gebrauchen, um Leib und Gut. Denn sie meinen, sie tun Gott einen Dienst, wenn sie die Christen nur weidlich plagen und heimlich umbringen. Und wir tollen Narren haben noch Zuflucht zu unseren Feinden und Widerwärtigen in Gefahr unseres Lebens, versuchen also Gott.“[58]
Überhaupt sei Juden nicht zu trauen:
„Wenn du siehst oder denkst an einen Juden, so sprich bei dir selbst also: Siehe, das Maul, das ich da sehe, hat alle Sonnabend meinen lieben Herrn Jesu Christ, der mich mit seinem teuren Blut erlöst hat, verflucht und vermaledeit und verspeit; dazu gebeten und geflucht vor Gott, dass ich, mein Weib und Kind und alle Christen erstochen und aufs jämmerlichste untergegangen wären, wollst selber gerne tun, wo er könnte, dass er unsere Güter besitzen möchte. Hat auch vielleicht heute dieses Tages vielmal auf die Erde gespeit über dem Namen Jesu (wie sie pflegen), dass ihm der Speichel noch in Maul und Bart hängt, wo er Raum hätte zu speien. Und ich sollte mit solchem verteufelten Maul, essen, trinken und reden, so möchte ich aus der Schüssel oder Kanne mich voller Teufel fressen und saufen als der ich mich gewiss damit teilhaftig machte aller Teufel, so in den Juden wohnen, und das teure Blut Christi verspeien. Da behüte mich Gott vor.“[59]

Wie also soll man mit den Juden verfahren? Auch darauf liefert Luthers Buch eine Antwort. Nicht die „Endlösung der Judenfrage“ proklamiert er, sehr wohl aber dass „wir alle der unleidlichen, teuflischen Last der Juden entladen werden“[60] durch ein 7-Punkte-Programm:
  1. Niederbrennen aller Synagogen: „Erstlich, dass man ihre Synagoga oder Schule mit Feuer ansteckt und was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und beschütte, dass kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich. Und solches soll man tun unserem Herrn und der Christenheit zu Ehren, damit Gott sehe, dass wir Christen seien ...“[61] Und an anderer Stelle: „Das man ihre Synagoga mit Feuer verbrenne. Und werfe hiezu, wer da kann, Schwefel und Pech; wer auch höllisch Feuer könnte zu werfen, wäre auch gut.“[62]
  2. Zerstörung ihrer Häuser, Einpferchung in Baracken: „Zum anderen, dass man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre. Denn sie treiben dasselbige drinnen, was sie in ihren Schulen treiben. Dafür mag man sie etwa unter ein Dach oder einen Stall tun, wie die Zigeuner, sodass sie wissen, sie seien nicht Herren in unserem Land, wie sie sich derzeit rühmen, sondern im Elend und gefangen...“[63]
  3. Beschlagnahmung jüdischer Schriften: „Zum dritten, dass man ihnen nehme alle ihre Betbüchlein und Talmude ...“[64]
  4. Todesstrafen für Rabbiner: „Zum vierten, dass man ihren Rabbinern bei Leib und Leben verbiete, hinfort zu lehren ...“[65]
  5. Internierung: „Zum fünften, dass man den Juden das Geleit und Straße ganz und gar aufhebe. Denn sie haben nichts auf dem Lande zu schaffen, weil sie nicht Herrn noch Amtleute noch Händler oder desgleichen sind. Sie sollen daheim bleiben ...“[66]
  6. Enteignung: „Zum sechsten, dass man ... nehme ihnen alle Barschaft und Kleinod an Silber und Gold und lege es beiseite zum Verwahren. Und ist dies die Ursache, alles was sie haben (wie droben gesagt) haben sie uns gestohlen und geraubt durch ihren Wucher.“[67]
  7. Zwangsarbeit: „Zum siebten, dass man den jungen starken Juden und Jüdinnen in die Hand gebe Flegel, Axt, Karst, Spaten, Rocken, Spindel und lasse sie ihr Brot verdienen im Schweiß der Nasen ... Denn es es taugt nicht, dass sie uns verfluchten Gojim wollen lassen im Schweiss unsers angesichts arbeiten und sie, die heiligen Leute, das Ergebnis unserer Arbeit hinter dem Ofen im Müßiggang mit Rülpsen und Pompen verzehren… Man müsste ihnen das faule Schelmenbein aus dem Rücken vertreiben.“[68]
 
Man muss also Karl Jaspers zustimmen, der feststellte: „Was Hitler getan, hat Luther geraten, mit Ausnahme der direkten Tötung durch Gaskammern.“[69] Bis auf die Gaskammern hat er die Endlösung, den Weg nach Auschwitz, schon vorgezeichnet. Er deutet sogar die Möglichkeit von Massakern an, wenn er zusammenfasst:
 „Unseren Oberherren, so Juden unter sich haben, wünsche ich und bitte, dass sie eine scharfe Barmherzigkeit wollten gegen diese elenden Leute üben, wie droben gesagt, ob´s doch etwas (wiewohl es misslich ist) helfen wollte. Wie die treuen Ärzte tun, wenn das heilige Feuer in die Beine gekommen ist, fahren sie mit Unbarmherzigkeit und schneiden, sägen, brennen Fleisch, Adern, Bein und Mark ab. Also tue man hier auch, verbrenne ihre Synagogen, verbiete alles, was ich droben erzählt habe, zwinge sie zur Arbeit und gehe mit ihnen um nach aller Unbarmherzigkeit wie Mose tat in der Wüste und schlug dreitausend tot, dass nicht der ganze Haufen verderben musste. Sie wissen wahrlich nicht, was sie tun, wollen´s dazu wie die besessenen Leute nicht wissen, hören noch lernen. Darum kann man hier keine Barmherzigkeit üben, sie in ihrem Wesen zu stärken. Will das nicht helfen, so müssen wir sie wie tolle Hunde ausjagen, damit wir nicht ihrer gräulichen Lästerung und aller Laster teilhaftig mit ihnen Gottes +Zorn verdienen und verdammt werden. Ich habe das Meine getan, ein jeglicher sehe, wie er das Seine tue. Ich bin entschuldigt.“[70]

Es bleibt also nicht bei Schikanen wie dieser:
„Darum der Juden Maul soll nicht wert gehalten werden bei uns Christen, dass es Gott sollte vor unseren Ohren nennen. Sondern wer es vom Juden hört, dass er´s der Obrigkeit anzeige oder mit Saudreck auf ihn werfe, sofern er ihn sieht und von sich jage. Und sei hierin niemand barmherzig noch gütig, denn es trifft Gottes Ehre und unser aller (der Juden auch) Seligkeit an.“[71]
Nein, Luther fordert nicht weniger als den Tod gläubiger Juden:
 „… dass man ihnen verbiete, bei uns und in dem Unsern öffentlich Gott zu loben, zu danken, zu beten, zu lehren bei Verlust Leibes und Lebens. In ihrem Land mögen sie das tun oder wo sie können, da wir´s Christen nicht hören noch wissen mögen.“[72]
Als einzige langfristige Alternative sieht er die Vertreibung, denn Juden haben für Luther kein Existenzrecht im Reich:
„Dazu wissen wir noch heutigen Tages nicht, welcher Teufel sie hier in unser Land gebracht hat. Wir haben sie zu Jerusalem nicht geholet. Zudem hält sie noch jetzt niemand, Land und Straßen stehen ihnen offen, mögen ziehen in ihr Land, wenn sie wollen, wir wollten gern Geschenk dazu geben, dass wir ihrer los wären.“[73]
Das beendet Luther mit den Worten:
„Summa, liebe Fürsten und Herren, so Juden unter sich haben, ist euch solcher mein Rat nicht eben, so trefft einen besseren, dass ihr und wir alle der unleidlichen, teuflischen Last der Juden entladen werden ...“[74]
Wer dagegen Juden hilft, rettet oder sie versteckt, dem droht laut Luther die ewige Verdammnis: „Wer nun Lust hat, solche giftigen Schlangen und jungen Teufel, das ist die ärgsten Feinde Christi, unseres Herrn, und unser aller zu beherbergen, ... der lasse ihm [= sich] diese Juden treulich anbefohlen sein ... So ist der denn ein vollkommener Christ, voller Werk der Barmherzigkeit, die ihm Christus belohnen wird am Jüngsten Tag mit den Juden im ewigen, höllischen Feuer.“[75]

In welche intellektuellen und geschmacklichen Niederungen Luthers Hass auf die Juden ihn führten, offenbaren schließlich seine unflätigsten Ausführungen:
„Pfu euch hie, pfu euch dort, und wo ihr seid, ihr verdammten Juden, daß ihr die ernste, herrliche, tröstliche Wort Gottes so schändlich auf euern sterblichen, madigen Geizwanst ziehen düret, und schämet euch nicht, euern Geiz so gröblich an den Tag zu geben! Seid ihr doch nicht wert, daß ihr die Biblia von außen sollet ansehen, schweige daß ihr drinnen lesen sollet! Ihr solltet allein die Biblia lesen, die der Sau unter dem Schwanz stehet, und die Buchstaben, die daselbs heraus fallen, fressen und saufen.“[76]
Erinnert man sich daran, dass das Schwein im Judentum als unrein gilt, bekommt Luthers peinliche Geschmacklosigkeit noch eine ganz besondere Note. Sie erinnert an ein Motiv des mittelalterlichen Judenhasses, die sog. „Judensau”, die auch an der Stadtkirche zu Wittenberg zu finden ist.

Oliver Gussmann schreibt dazu:
"Die Beleidigung von Juden und ihrer Religion durch das ´Judensau`-Motiv geschieht auf mehrfache Weise: Das Schwein ist für Juden ein unreines (unkoscheres) Tier (3. Mose 11, 7). Jeglicher Kontakt mit ihm wird vermieden. Der Genuss von Schweinefleisch und -fett oder gar von Schweinemilch ist Juden ein Abscheu. Die religiösen Gefühle von Juden werden dadurch in besonderer Weise verletzt. Schon in der Antike hat man bei Judenverfolgungen Juden zwingen wollen, Schweinefleisch zu essen (2. Makkabäer 7, 1). Eine intime Beziehung zu einem Tier (Sodomie) ist für Juden wie Christen in gleicher Weise eine Verhöhnung. Das beinahe familiäre Miteinander von Schwein und Juden lässt den Betrachter an eine verwandtschaftliche Beziehung der Juden mit dem Schwein denken, die Juden seien von ganz anderer Art als die Christen. Es ist sicher nicht zu weit gedacht, wenn man im ´Judensau`-Motiv schon einen Vorläufer des Rassenantisemitismus sieht"[77]

Auch in seinem Pamphlet „Vom Schem Hamphorasch” kommt Luther ausdrücklich auf die Wittenberger „Judensau” zu sprechen und erlaubt sich eine ungeheuerliche und widerwärtige Entgleisung. Dabei erwähnt er zunächst die mystische Tradition frommer Juden vom unaussprechlichen Gottesnamen JHWH, der im Judentum als „Ha-Shem Ha-Mephorasch“, „der allerheiligste, ausgeführte Name“ umschrieben wird. Zunächst fragt er noch ganz harmlos, Unschuld heuchelnd: „Woher haben die Juden diese hohe Weisheit, das man Moses Text, die heiligen unschuldigen Buchstaben, so sols teilen in drei Verse und arithmetische oder Zahlbuchstaben draus machen, auch 72 Engel nennen und Summa, das ganze Schem Hamphoras dergestalt stellen?”[78] Dann jedoch kündigt er seine eigene Erklärung an, die an Geschmacklosigkeit, ja Perfidität kaum zu übertreffen ist und in der er den Bogen vom unaussprechlichen heiligen Namen Gottes zur Wittenberger „Judensau“ schlägt. Luther wörtlich: „Es ist hier zu Wittenberg an unserer Pfarrkirchen eine Sau in Stein gehauen, da liegen junge Ferkel und Juden drunter, die saugen. Hinter der Sau stehet ein Rabbiner, der hebt der Sau das rechte Bein empor, und mit seiner linken Hand zeucht er den Bürzel über sich, bückt und kuckt mit großem Fleiß der Sau unter dem Bürzel in den Talmud hinein, als wollt er etwas Scharfes und Sonderliches lesen und ersehen. Daselbst her haben sie gewißlich ihr Schem Hamphoras. Denn es sind vorzeiten sehr viele Juden in diesen Landen gewesen. ... Daß etwa ein gelehrter, ehrlicher Mann solch Bild hat angeben und abreißen lassen, der den unflätigen Lügen der Juden feind gewesen ist. Denn also redet man bei den Deutschen von einem, der groeß Klugheit ohn Grund vorgibt: Wo hat er’s gelesen? Der Sau im (grob gesagt) Hintern!”[79]
 
Luther fügt zu dieser geschmacklosen Interpretation die Behauptung hinzu, dass die Wittenberger „Judensau” den Talmud oder die jüdische Lehre im allgemeinen darstelle, wobei der „Kulminationspunkt” von Luthers „Erklärung” in der Verhöhnung des mystischen Gottesnamens liegt: „Hiezu möchte man leicht das Wort Schem Hamphoras ziehen und kehren, nämlich ‚Peres schama‘, oder, wie sie tun, kühnlich meistern und machen ‚Schamha Peres‘, so lautet‘s nahe zusammen. ... Also spottet der leidige böse Geist seinen gefangenen Juden, läßt sie lassen sagen Schem Hamphoras und große Dinge drin glauben und hoffen. Er aber meinet ‚Scham Haperes‘, das heißt: Hie Dreck, nicht der auf der Gassen liegt, sondern aus dem Bauch kommt ...”[80]
Damit zieht er das Allerheiligste des Judentums, den Namen Gottes, buchstäblich in den Dreck, indem er ihn mit dem „unreinen“ Schwein, ja schlimmer noch, seinen Exkrementen assoziiert.
Dieser absolute Tiefpunkt des lutherschen Fäkalantisemitismus führte dazu, dass sich andere Reformatoren wie Heinrich Bullinger aus Zürich, Martin Butzer aus Straßburg und Andreas Osiander aus Nürnberg angewidert von diesem Pamphlet distanzierten.
Das „Wahrhafte Bekenntniss der Diener der Kirchen zu Zürich”
von 1545 stellte etwa fest: „So ist vorhanden Luthers schweinisches, kotiges Schemhamphorasch, welches, so es geschrieben wäre von einem Schweinhirten, nicht von einem berühmten Seelhirten, etwas, doch auch wenig Entschuldigung hätte.”[81] Bullinger nannte Luthers Schrift „sehr schmutzig geschrieben“ und meinte, er habe sein Thema „entstellt und geschändet durch seine schmutzigen Ausfälle und durch die Scurrilität, die Niemanden, am wenigsten einem bejahrten Theologen, ansteht.“[82]
Auch Luthers gelehrter Mitstreiter Melanchthon zeigte sich (nach Oberman) peinlich berührt von Luthers Entgleisung.[83]
Josel von Rosheim schließlich, der zwei Jahrzehnte zuvor Luther noch um Hilfe gebeten hatte, war nur noch angewidert. Immerhin gelang es ihm, beim Magistrat der Stadt Straßburg ein Verbot von Luthers Pamphleten für das Gebiet der Stadt zu erwirken.[84] Er nannte Luther jetzt „Lo-Thahor” (= der Unreine)[85] Doch mit sieben Auflagen wurde die volksverhetzende Schmähschrift zum Bestseller ihrer Zeit.
Dabei blieb es nicht bei der genannten Geschmacklosigkeit. In der gleichen Schrift formuliert Luther auch eine Theorie über den Ursprung der jüdischen Rasse, die ihn ein weiteres Mal zum Urheber des Rassenantisemitismus samt der Wahnidee von einer jüdischen Weltverschwörung werden ließ. Die Juden, so Luther,  seien eine „Grundsuppe aller losen, bösen Buben, aus aller Welt zusammengeflossen“ und hätten sich „wie die Tattern (Tataren) und Zigeuner“  zusammengerottet, um die christlichen Länder auszukundschaften und zu verraten, Wasser zu vergiften, Kinder zu stehlen und hinterhältig allerlei Schaden anzurichten. Sie begängen wie die Assassinen Meuchelmorde an christlichen Regenten, um dann deren Gebiete einzunehmen.[86]

Selbst Luthers letzte Mission befasste sich mit den Juden. Im Januar 1546 reiste der bereits schwer kranke Luther zu Graf Albrecht VII. von Mansfeld, um mit Predigten die Vertreibung der Juden seiner Heimatstadt zu bewirken. Sie hatten nach ihrer Vertreibung aus Magdeburg in Eisleben eine neue Heimat gefunden. Die Mansfelder Grafen waren sich uneinig, wie sie mit dieser Situation umgehen sollten. In seiner letzten Predigt am 15. Februar, nur drei Tage vor seinem Tod, verlas Luther praktisch sein geistiges Vermächtnis in der Judenfrage, wörtlich: „Vermahnung wider die Juden“, nachdem er wegen eines Schwächeanfalls seine Predigt vorzeitig abbrechen musste. Luther darin:
„Wollen sich die Juden zu uns bekehren und von ihrer Lästerung und, was sie sonst getan haben, ablassen, so wollen wir es ihnen gerne vergeben: wo aber nicht, so wollen wir sie auch bei uns
nicht dulden noch leiden.”[87] Dabei sagte er voraus, die Juden würden das Angebot ausschlagen und „unseren Herrn Jesum Christum täglich lästern und schänden[88]“, den Christen nach „Leib, Leben, Ehre und Gut“[89] trachten, sie mit Wucherzinsen schädigen, „und wenn sie uns könnten alle töten, so täten sie es gerne und tuns auch oft, sonderlich, die sich für Ärzte ausgeben“[90]. Auch wenn sie die Krankheit scheinbar zunächst heilten, würden sie nur kunstfertig „versiegeln“, so dass man später daran sterbe.[91] Würden die Christen die Juden wissentlich weiter dulden, würden sie sich mitschuldig an ihren Verbrechen machen: Darum „sollt ihr Herren sie nicht leiden, sondern wegtreiben.“[92] Fazit: „Sie (die Juden) sind unsere öffentlichen Feinde.“[93]
 
Die Folgen von Luthers antisemitischen Fanatismus sind immens. Immerhin prägten sie für die nächsten 400 Jahre das Judenbild des Protestantismus und damit von Millionen Gläubigen. Es ist wohl unbestreitbar, dass der Reformator über Generationen hinweg den Judenhass gesellschaftsfähig machte. Das evangelische Lutherbild, das den Wittenberger Querulanten bald zum einzigen Heiligen des Protestantismus, zum neuen Paulus und Propheten der Deutschen hochstilisierte und dabei jede kritische Reflektion zum Sakrileg erklärte, ließ keine Kritik und Distanzierung von ihm zu.

Auch praktische Folgen gab es. Hatten die deutschen Fürsten zunächst gezögert, auf Luthers Rat hin die Juden zu vertreiben, wuchs mit seinen Schriften der Druck auf sie. Das Kurfürstentum Sachsen erneuerte und verschärfte 1543 sein Durchreise- und Aufenthaltsverbot für Juden. 1543 vertrieb die Stadt Braunschweig, 1547 der Graf von Mansfeld, wie von Luther gefordert, „seine „Juden“. Luthers Mißtrauen gegenüber jüdischen Ärzten führten zur Verbannung jüdischer Mediziner von den Hochschulen der evangelischen Länder. Der Augsburger Religionsfrieden, das cuius regio, eius religio gab den Fürtsen die Möglichkeit, ihre Gebiete religiös zu homogenisieren und hob den bisherigen Schutz der Juden durch den Kaiser auf. Sie konnten jetzt willkürlich vertrieben werden, ohne die Möglichkeit, an eine höhere Instanz zu appellieren. Zur Abwehr protestantischer Vorwürfe führten auch katholische Regionen die Kennzeichnung und Ghettoisierung der Juden, die zu Anfang des 16. Jahrhunderts längst überwunden schienen, wieder ein.
 Noch im 19. Jahrhundert trug der luthersche Antijudaismus dazu bei, dass antisemitische Rassentheorien speziell im protestantischen Millieu schnell ihr Publikum fanden.

Als Beispiel möchte ich Heinrich von Treitschke (1834-96) nennen, einen der bekanntesten deutschen Historiker und politischen Publizisten des 19. Jahrhunderts, der 1879 den „Berliner Antisemitismusstreit“ auslöste. Von Treitschke entstammte einer protestantischen sächsischen Beamten- und Offiziersfamilie. Nach der Reichsgründung 1871 unterstützte er als Nationalliberaler Abgeordneter Bismarck. In Sozialdemokraten und Juden sah er die Gegner des Reiches. 1886 wurde er offiziell Hofhistoriograph des preußischen Staates. Objektive Geschichtsschreibung lehnte er ab; er wurde zum Inbegriff des politisierenden Historikers mit einer stark personenorientierten Perspektive („Männer machen Geschichte“ lautete das bekannteste Zitat aus seiner „Deutschen Geschichte“). Von Treitschke stammt aber auch der Satz „Die Juden sind unser Unglück“, der später zur Parole des NS-Hetzblattes „Der Stürmer“ wurde. Treitschke formulierte ihn in seiner Denkschrift „Unsere Aussichten“ (1879), die durch antisemitische Aussagen für Aufsehen sorgte. Darin behauptete er, diese Überzeugung entspreche dem breiten, parteiübergreifenden Konsens und werde von allen Zeitgenossen „wie aus einem Munde“ geteilt, aber aufgrund des „weichlichen“ und „philanthropischen“ Zeitgeistes und liberaler „Tabuisierung“ in der Presse nicht offen ausgesprochen.
Die Schrift, in der Treitschke die Zurückdrängung des gesellschaftlichen Einflusses der Juden fordert, führte zu dem erwähnten Berliner Antisemitismusstreit, der letztlich den Antisemitismus in Deutschland (wieder) gesellschaftsfähig machte.
Treischkes verhängnisvoller Satz aber geht auf Luther zurück, der 1543 schrieb: „Denn sie uns eine schwere Last, wie eine Plage, Pestilenz und eitel Unglück in unserm Land sind“.[94] Auf Luther gehen auch die von Antisemiten häufig verwendeten Begriffe „Wirtsvolk“ für nichtjüdische und „Gastvolk“ für jüdische Deutsche zurück. Der nämlich schrieb: „Ebenso tun uns die Juden, unsere Gäste, auch; wir sind ihre Hauswirte.“[95]

Ab 1879 vertraten Antisemiten eine rassistische Lutherdeutung, die sie ausschließlich auf seine Spätschriften stützten. Islebiensis (Pseudonym) behauptete 1879, Luther habe 1543 erkannt, dass die „Judenfrage“ nicht mit der Taufe zu lösen sei, und daraus die Notwendigkeit ihrer Vertreibung gefolgert: „‚Hinaus mit ihnen‘ soll auch unser Ruf sein, den wir an alle echten Deutschen richten.“[96] Theodor Fritsch erklärte 1883: Der „deutsche Luther“ sei 1543 mit den „schärfsten Waffen“ gegen den „jüdischen Weltfeind“, die „ehrlosen Fremdlinge“, die weltweit kooperierende „Verbrecher-Genossenschaft“, die „Nation der Menschheitsverräter“ vorgegangen. Fritsch erklärte wie später Hitler Jesus zum Arier, der den Gott des AT besiegt habe.[97] Der wichtigste Vordenker Hitlers, der Wagner-Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain, sah Luther als nationalistischen Helden, der die deutsche Nation gegen das „verjudete“ Kirchensystem Roms geschaffen habe. Seine Theologie sah er als Schwachpunkt. Der Endkampf der erwählten göttlichen Arier bzw. Germanen gegen die teuflischen Juden stehe noch bevor und könne nur mit der Vernichtung der einen durch die anderen enden.[98] Selbst der evangelische Pfarrer Eduard Lamparter, der den „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ leitete, musste 1928 einräumen, Luther sei, wenn auch unfreiwillig, zum „Kronzeugen des Antisemitismus“[99] geworden.
„Die NSDAP verdankte ihren Sieg evangelischen Wählern“, stellte der Kriminologe und ehemalige niedersächsische Justizminister Christian Pfeiffer (SPD) in seinem 2014 in der Zeitschrift „Cicero“ veröffentlichten Beitrag „Judenfeind Luther. Die dunkle Seite des Reformators“ völlig zutreffend fest. Pfeiffer weiter:
„Dies zeigt beispielhaft eine Analyse der Religionszugehörigkeit von 48 deutschen Autoren judenfeindlicher Texte, die in den Schriften von ­Graetz, Steinlein, Ginzel und Brumlik zitiert werden. Nur drei gehörten der katholischen Kirche an. Zu sechs weiteren ließ sich die Religion nicht ermitteln. 39 waren evangelisch, 18 von ihnen hatten evangelische Theologie studiert. Die Verbindung der evangelischen Kirche zum Antisemitismus dürfte einen wichtigen Beitrag dazu geleistet haben, dass die NSDAP bei den Reichstagswahlen vom Juli 1932 zum ersten Mal mit 37,2 Prozent stärkste Partei wurde. Wie der Wahlforscher Jürgen Falter ermittelt hat, verdankte sie ihren Sieg den evangelischen Wählern. Von ihnen hatte sich jeder Zweite für Hitler entschieden, von den Katholiken dagegen nur jeder Fünfte. Letzteres kann nicht überraschen. Die katholische Kirche hatte im Jahr 1930 ihren Mitgliedern verboten, der NSDAP beizutreten, und den Nationalsozialisten die Sakramente, zum Beispiel Taufe und Hochzeit, verweigert.“
Pfeiffers Fazit: „Martin Luthers Hass auf die Juden machten sich die Nationalsozialisten zunutze. Es waren mehr Protestanten als Katholiken, die Adolf Hitler zur Macht verhalfen. Die evangelische Kirche sollte im Rahmen des Reformationsjubiläums ihre eigene Geschichte selbstkritisch aufarbeiten.“[100]
Eine historisch überprüfbare These. Immerhin sagte Adolf Hitler schon 1923 in einem Dialogbuch, das er mit seinem Lehrer Dietrich Eckart veröffentlichte: „Luther war ein großer Mann, ein Riese. Mit einem Ruck durchbrach er die Dämmerung, sah den Juden, wie wir ihn erst heute zu sehen beginnen.”[101]


 
[1] http://www.deutschlandradiokultur.de/martin-luthers-judenschriften-die-dunkle-seite-der.1079.de.html?dram:article_id=341916
[2] Sasse, Martin: Martin Luther und die Juden - Weg mit ihnen!, Freiburg 1938
[3] Einige wenige Literaturangaben: Die bislang genaueste stammt von Peter von der Osten-Sacken, Martin Luther und die Juden. Neu untersucht anhand von Anton Margarithas „Der gantz Jüdisch glaub” (1530/31), Stuttgart 2002. –
Weitere Beiträge von lutherischer Seite sind Heiko A. Oberman, Wurzeln des Antisemitismus. Christenangst und Judenplage im Zeitalter von Humanismus und Reformation, Berlin 1981. – Vgl. auch: ders., „Three Sixteenth-Century Attitudes toward Judaism: Reuchlin, Erasmus, and Luther”, in: ders., The Impact of the Reformation, Grand Rapids 1994, 81ff. – Vorbildlich ist die gründliche Studie eines Rabbiners zum Thema: Reinhold Lewin, „Luthers Stellung zu den Juden. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Deutschland während des Reformationszeitalters” (Neue Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche, hg. v. N. Bonwetsch u. R. Seeberg), Berlin 1911. Lewin ist 1942 zusammen mit seiner Familie von den Nazis ermordet worden (vgl. Oberman, „Three Sixteenth-Century Attitudes”, 111, Anm. 108). – Nützlich als Quellensammlung ist: Walter Bienert, Martin Luther und die Juden. Ein Quellenbuch mit zeitgenössischen Illustrationen, mit Einführungen und Erläuterungen, Frankfurt am Main 1982.
Als weiteres Beispiel für die apologetische Tendenz der lutherischen Theologie sei noch genannt: Helmar Junghans, „Martin Luther und die Juden”, in: Die Zeichen der Zeit, H. 5/1996, 162ff. – Zum finstersten Moment von Luthers Antisemitismus vgl.: Isaiah Shachar, The Judensau. A Medieval Anti-Jewish
Motif and its History (Warburg Institute Surveys, ed. by E. H. Gombrich and J. B. Trapp, V), London 1974.
[4] Zit. n. Hesemann, Michael: Hitlers Religion, Augsburg 2012, S. 77
[5] Luther wörtlich: „Darumb ficht mich solch der Juden gespotte nichts an, und ubs ihres urteilens willen wolt ich nicht einen Buchstaben kennen lernen in der Ebreischen sprache. Ursache ist die ,wir Christen haben den sinn und verstand der Biblia, weil wir das Newe Testament, das ist Jhesum Christum haben.“ WA 54, 29 Im selben Kommentar „Von den letzten Worten Davids“ räumt er ein: „Hie mit will ich die letzten wort Davids verdeudscht und ausgelegt haben nach meinem eigen sinn (sic!). Gott gebe, das unser Theoligen getrost Ebreisch studirn und die Bibel uns wider heim holen von den mutwilligen dieben und alles besser machen, denn ichs gemacht habe, das ist, das sie den Rabinen sich nicht gefangen geben in ire gemarterte Grammatica und falsche auslegung…“ WA 54, 100
[6] Peter von der Osten-Sacken: Martin Luther und die Juden: neu untersucht anhand von Anton Margarithas „Der gantz Jüdisch glaub“ (1530/31). Stuttgart 2002, S. 75.
[7] WA 56/436, S. 13 ff.; zitiert bei Karl Heinrich Rengstorf, Siegfried von Kortzfleisch (Hrsg.): Kirche und Synagoge: Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden. Darstellung mit Quellen, Band 1. 1968, S. 383.
[8] Johann Anselm Steiger: Christus pictor. In: Johann Anselm Steiger, Ulrich Heinen (Hrsg.): Golgatha in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit, Berlin 2010, S. 101 f.
[9] WA V, S. 427 ff.
[10] WA 7, 600; zit. nach Bienert, 67; vgl. Lewin, 22f.
[11] WA 10.II, 283: „Wie ich nun mag mit einem Heiden, Juden, Türken, Ketzer essen, trinken, schlafen, gehen, reiten, kaufen, reden und handeln, also mag ich auch mit ihm ehelich werden und bleiben, und kehre dich nichts an der Narren Gesetze, die solches verbieten...”(zit. nach Bienert, 70).
[13] WA 11, 314
[14] Ebd.
[15] WA 11, 314 f.
[16] WA 11, 331
[17] WA 11, 336
[18] R. Lewin, „Luthers Stellung zu den Juden. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Deutschland während des Reformationszeitalters” (Neue Studien zur Geschichte der Theologie und der
Kirche, hg. v. N. Bonwetsch u. R. Seeberg), Berlin 1911, S. 30
[19] Ebd., S. 36
[20] Thomas Kaufmann: Konfession und Kultur. Tübingen 2006, S. 144 ff.
[21] Tischrede vom Sommer 1540, WA TR 5, 83: „Ich weiß, daß ihr uns hinters Licht zu führen pflegt” (zit. nach Bienert, 126f; vgl. auch 95). – Diese Argumentation scheint verwandt mit den Verdächtigungen der spanischen Inquisition gegenüber den als „Marranen” diffamierten zwangsgetauften Juden.
[22] Tischrede Frühjahr 1543; WA TR 5, 257; zit. nach Bienert 172
[23] zit. nach Arndt Meinhold: Psalm 109 in Luthers ´Vier tröstliche Psalmen an die Königin von Ungarn`. In: Christoph Bultmann, Walter Dietrich, Christoph Levin (Hrsg.): Vergegenwärtigung des Alten Testaments. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002
[24] Brief Luthers vom 11. Juni 1537 an Josel von Rosheim; WA BR 8, 89; vgl. Bienert, 110ff.
[25] Ebd. und Max J. Suda: Die Ethik Martin Luthers. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, S. 111f.
[26] CA 17
[27] WA 50, 312
[28] Kaufmann 2006, S. 123
[29] WA 50, 324
[30] Kaufmann 2006, S. 87 ff.
[31] WA 50, 323f.: „So lasst sie noch hinfaren ins Land und gen Jerusalem, Tempel bawen, Priesterthum, Fürstenthum und Mosen mit seinem gesetze auffrichten und also sie selbs widerumb Juden werden und das Land besitzen. Wenn das geschehen ist, so sollen sie uns bald auff den Ferssen nach sehen daher komen und auch Juden werden. Thun sie das nicht, so ists aus der Maßen lächerlich, das sie uns Heiden wollen bereden zu irem verfallen gesetze, welches nu wol Funffzehenhundert jar verfaulet und kein gesetze mehr gewest ist.“
[32] WA 53, 417
[33] Ebd.
[34] WA  53, 520
[35] WA 53, 434
[36] WA 53, 442
[37] WA 53, 442
[38] WA 53, S. 477: „Der Odem stinckt inen nach der Heiden Gold und Silber, Denn kein Volck unter der Sonnen geitziger, denn sie sind, gewest ist, noch sind und immer fort bleiben, wie man sihet an irem verfluchten Wucher.“
[39] WA 53, 530
[40] WA 53, 447: „Der Teufel hat dis Volck mit allen seinen Engeln besessen.“
[41] WA 53, 434: „die verzweivelten, verstockten Lügener“
[42] WA 53, 446: „Darumb hütt dich fur den Juden und wisse, wo sie ir Schulen haben, das daselbst nichts anderes ist, denn ein Teufels nest, darin eitel eigen Rhum, Hohmut, liegen und lestern, Gott und Menschen schenden, getrieben wird, auffs aller giftigst und bitterst, wie die Teufel selb thun.“
[43] WA 53, 449
[44] WA 53, 482
[45] WA 53, 444
[46] WA 53, 521
[47] WA 53, 436
[48] WA 53, 442
[49] WA 53, 443
[50] WA 53, 433
[51] WA 53, 479
[52] WA 53, 528
[53] WA 53, 491
[54] WA 53, 528
[55] WA 53, 542
[56] WA 53, 521
[57] WA 53, 538
[58] Erlanger Ausgabe LXII, S. 367, zit. nach Landesbischof Martin Sasse, Martin Luther über die Juden: Weg mit ihnen!, a.a.O., S. 14
[59] WA 53, 528
[60] WA 53, 527
[61] WA 53, 523
[62] WA 53, 536
[63] WA 53, 523
[64] Ebd.
[65] WA 53, 524
[66] Ebd.
[67] Ebd.
[68] WA 53, 525.
[69] Karl Jaspers: Philosophie und Welt, München 1958, S. 162
[70] WA 53, 541 f.
[71] WA 53, 537
[72] WA 53, 536
[73] WA 53, 520
[74] WA 53, 527
[75] WA 53, 530 f.
[76] WA 53, 478
[77] Oliver Gussmann in: Begegnungen. Zeitschrift für Kirche und Judentum Nr. 84 (2001), S. 26-28
[78] WA 53, 600
[79] WA 53, 600 f.
[80] WA 53, 601
[81] Zit. nach Lewin, a.a.O., 98f.
[82] Johannes Brosseder: Luthers Stellung zu den Juden im Spiegel seiner Interpreten: Interpretation und Rezeption von Luthers Schriften und Äußerungen zum Judentum im 19. und 20. Jahrhundert vor allem im deutschsprachigen Raum. München 1972, S. 80.
[83] Vgl. H. A. Oberman, „Three Sixteenth-Century Attitudes”, in: ders., The Impact of the Reformation, S. 114.
[84] Zu Josels Aktivitäten im einzelnen vgl. Lewin, a.a.O., 100f.
[85] Vgl. Art. Luther, in: Encyclopaedia Judaica, Vol 11.
[86] WA 53, 613
[87] WA 51, 195
[88] Ebd.
[89] Ebd.
[90] Ebd.
[91] Ebd.
[92] Ebd.
[93] Ebd.
[94] Zit. n. Peter von der Osten-Sacken: Martin Luther und die Juden: neu untersucht anhand von Anton Margarithas „Der gantz Jüdisch glaub“ (1530/31). Stuttgart 2002, S. 134.
[95] Zit. n. Alex Bein: Die Judenfrage: Biographie eines Weltproblems, Band 1. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1980, S. 128
[96] Islebiensis: Doktor Martin Luther und das Judenthum. Oscar Lorentz, 2. Auflage. 1882, S. 16
[97] Theodor Fritsch: Der falsche Gott. Beweismaterial gegen Jahwe. 9. Auflage. 1910 ff., Zitate S. 133, 186, 190, 193. Referiert nach Günther B. Ginzel: Martin Luther: „Kronzeuge des Antisemitismus“. In: Heinz Kremers (Hrsg.): Die Juden und Martin Luther. Neukirchen-Vluyn 1987, S. 194 f
[98] Houston Stewart Chamberlain: Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts. (1899) 10. Auflage. F. Bruckmann a.-g., 1922, S. 626.
[99] Günther B. Ginzel: Martin Luther: „Kronzeuge des Antisemitismus“. In: Heinz Kremers (Hrsg.): Die Juden und Martin Luther. Neukirchen-Vluyn 1987, S. 199–202
[100] http://www.cicero.de/berliner-republik/luther-judenfeind-die-dunkle-seite-des-reformators/57603
[101] Adolf Hitler, zit. nach Dietrich Eckart, Der Bolschewismus von Moses bis Lenin, Zwiegespräche zwischen Adolf Hitler und mir, München 1924, S. 35