Michael Hesemann, Historiker und Autor
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Nasdrowje sagt man nicht in Russland!

Begegnung mit einem Wunder
Von Michael Hesemann

 
Vielleicht war es Vorsehung.  Der Zeitpunkt meiner Reise nach Russland war so jedenfalls nicht geplant. Schon im Februar 2016 lud mich Mikhail Arteev vom „Zentrum zur Erforschung christlicher Reliquien“ der Russisch-orthodoxen Universität in St. Petersburg und Moskau zu Vorträgen nach Russland ein. Erst wollte ich im Juni kommen, dann im September. Zwei Einladungen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu Tagungen über die Religionsfreiheit und die Verfolgung der Christen in unserer Zeit machten beide Pläne zunichte. Zudem kann man nach Russland nicht einfach ein Flugzeug besteigen, man braucht ein Visum. Und das musste ich, um möglichst wenig auf meinen Pass verzichten zu brauchen, in Berlin persönlich beantragen und eine Woche später dort abholen. Die Alternative, stattdessen das Konsulat in Bonn aufzusuchen, wäre noch unpraktischer gewesen; wer, wie ich, von Düsseldorf kommt, hätte dazu stundenlang im Stau auf dem Kölner Ring stehen müssen – der reinste Horror! So bot sich, bei vollem Terminkalender, erst der Oktober als Reisetermin an, womit klar wurde, dass ich den Fatima-Tag – den 99. Jahrestag des Sonnenwunders – in Russland verbringen würde, eine Idee, die mir sehr verlockend erschien. Dass ausgerechnet an diesem 13. Oktober 2016 auch mein neues Buch „Das letzte Geheimnis von Fatima“ in Druck gehen würde, konnte ich damals noch nicht ahnen – das teilte mir der Verlag einen Tag vorher noch mit.

So steige ich am 10. Oktober, eine traurige Hündin zurücklassend (die bei meiner Mutter aber bestens aufgehoben ist), in eine Maschine der russischen Fluggesellschaft S7 nach Moskau, wo mich Mikhail Arteev am Flughafen Dumodovo erwartet; gemeinsam setzen wir, mit der gleichen Airline, den Flug nach St. Petersburg fort. Es ist mein zweiter Besuch in diesem riesigen Land, und trotzdem scheint es mir, als beträte ich eine andere Welt. Denn das letzte Mal war ich 1990 in Moskau, in der Ära Gorbatschow, der Zeit von Glasnost und Perestroika, als die Sowjetunion buchstäblich in den letzten Atemzügen lag. Und so erschien mir das Land damals als grau und depressiv, wenn auch hinter der desolaten Fassade einstiger Größe herzensgute Menschen auf eine bessere Zukunft hofften. Damals flog ich weiter nach Tblissi in einer uralten Tupolew-Maschine, durch die mürrische Stewardessen blecherne Karren schoben, von denen sie Tee und fettige Fladen ausgaben. Auf dem Rückweg saßen Bäuerinnen mit lebenden Hühnern auf der anderen Seite des Ganges und unser Gepäck, das wir neben der Maschine aufstellen mussten, kam aus unerklärlichen Gründen einen Flug später, sodass ich vier Stunden lang auf dem tief verschneiten und nur halb geräumten Flughafen warten musste.
 
DIE RÜCKKEHR EINER IKONE

Jetzt lande ich auf einem Airport, wie ihn sich Berlin bestenfalls erträumen kann , zudem ohne Nachtflugverbot, und fliege kurz vor Mitternacht mit einer modernen, sicheren Maschine und Stewardessen, denen in Düsseldorf sofort ein Modelvertrag angeboten würde. Die Zeiten ändern sich, manchmal auch zum Besseren. In St. Petersburg angekommen, kann Mikhail mit seinem Smartphone genau verfolgen, wo sich das gerufene Taxi – eine BMW-Limousine – gerade befindet. Der Weg in die Stadt führt über moderne Autobahnen, vorbei an Tankstellen, die den Sprit für 58 Cent/Liter anbieten und rund um die Uhr geöffneten Supermärkten, deren Leuchtreklamen um die Wette strahlen und um unsere Aufmerksamkeit buhlen. „I want to wake up in a city that doesn’t sleep“, summe ich vor mir her und überlege, „New York, New York“ durch „Sankt Pe – tersburg“ zu ersetzen. Und dann sehe ich sie und weiß, ich bin zuhause angekommen. Hell erleuchtet, obwohl es schon 2.15 Uhr ist, erinnern ihre Kolonnaden und die majestätische Kuppel ein wenig an den Petersdom zu Rom und ich weiß gleich, dass sie es sein muss: Die Kazanskaya-Kathedrale, der Ort, an dem die heiligste Ikone der neuen Zarenstadt verehrt wird, deren Schicksal mich ein Leben lang faszinierte, seit mein Vater einst eine antike Kopie nachhause brachte. Ihre Geschichte sei kurz erzählt.
Kazan wurde im 13. Jahrhundert erst von der Goldenen Horde, dann, 1437, von den muslimischen Tataren erobert, bevor es 1552 durch Zar Ivan Grosny, genannt „der Schreckliche“, endgültig befreit wurde (Eine kurzfristige Befreiung fand bereits 1487 statt). 1579 erschien einem kleinen Mädchen namens Matrjona die Gottesmutter im Traum und forderte sie auf, in den Ruinen eines niedergebrannten Hauses zu graben. Dabei stieß sie auf eine Ikone, die gleich begann,  Wunder zu wirken und dadurch viele noch muslimische Tataren zum Christentum zu bekehren. Bis 1612 wurde sie im Theotokos-Kloster von Kazan verehrt, dann holte der Zar sie (oder eine Kopie) nach Moskau; sie sollte seine Truppen beim Kampf gegen die polnischen Invasoren begleiten. Die neue Dynastie der Romanows errichtete ihr zum Dank die Kazan-Kathedrale auf dem Roten Platz, bevor Peter der Große sie (oder eine Kopie) 1712 in die neue Hauptstadt bringen ließ. Auch der Sieg über die Franzosen 1812 wurde ihr zugeschrieben, ihr zum Dank die größte Kirche der Hauptstadt, die St. Petersburger Kazan-Kathedrale erbaut. Das Kazaner Original jedenfalls endete nach einem Diebstahl 1904 auf dem Kunstmarkt, wurde zunächst von einem englischen Lord, dann, in den 1970er Jahren, von der „Blauen Armee“ gekauft und nach Fatima gebracht. 1993 übergab man es Papst Johannes Paul II., der das Gnadenbild zunächst persönlich nach Russland bringen wollte, was am Widerstand des damaligen russischen Patriarchen Alexei II. scheiterte; schließlich ließ er es kurz vor seinem Tod, im Herbst 2004, in seine Heimat überführen.
Ich widmete der Kazanskaya ein eigenes Kapitel in einem meiner größten Bestseller („Das Fatima-Geheimnis“), ich bete täglich vor einer großformatigen Kopie aus dem 19. Jahrhundert, die einst in einer russischen Kirche hing und vertraute ihr alle meine Sorgen und Hoffnungen an. Jetzt scheint sie zum Greifen nahe, nur die Kirche ist verschlossen. Ich weiß, wohin ich auf jeden Fall zurückkehren muss.
 

Die Kazanskaya-Kathedrale und ihre wunderwirkende Ikone


VORTRAG IM HERZEN DER ORTHODOXIE

Doch zunächst steht die Pflicht auf dem Programm. Nach einer ruhigen Nacht im „Hotel Moskau“, das gleich gegenüber der St. Alexander Nevsky-Lavra und damit auch der Russisch-Orthodoxen Akademie liegt, werde ich abgeholt, um die Vorlesung zu halten, für die ich eingeladen worden bin. Ich liebe die Atmosphäre in Priesterseminaren, diese Neugierde junger gläubiger Männer, die alle wissen, dass sie vor der größten und wichtigsten Aufgabe stehen, die es für einen Menschen nur geben kann und zu der sie, jeder auf seine Weise, von Gott persönlich berufen wurden. Bedauernswert ist nur, dass es bei uns immer weniger werden und dass viele Priesterseminare eine gewisse Mischung aus Trotz und Resignation ausstrahlen. Hier in St. Petersburg scheint der Optimismus eher ungebrochen, kein Wunder, denn die Orthodoxe Akademie pulsiert vor Leben. Die Einrichtung ist dabei vom Feinsten – alte Räume liebevoll und gekonnt renoviert und ausgestattet mit modernster Technik und einer Seminarkirche, die eher an eine Palastkapelle erinnert. Tatsächlich ist ihr größter Schatz eine Ikone der „Gottesmutter des Zeichens“, die einst dem Zarenhaus gehörte. Am Eingang des Priesterseminars steht, besonders geschmückt, eine Ikone, die alle „Märtyrer unserer Akademie“ zeigt – jene Bischöfe, Priester und Seminaristen, die von den Kommunisten, speziell unter Stalins Terrorherrschaft, ermordet worden sind. Ihnen fühlt man sich hier besonders verpflichtet, denn auch ihr Blut wurde zur Christensaat, aus der Asche ihrer verbrannten oder verscharrten Leichen erblüht jetzt ein neues, dezidiert christliches Russland.
 
Der Vortragssaal ist gut gefüllt, obwohl es eine Reihe von Parallelveranstaltungen gibt. Pater Ilia Makaroff, der Leiter der Akademie, ein junger, dynamischer und charismatischer Priester, stellt mich viel zu schmeichelhaft vor. Mein Thema, die Verehrung von Reliquien im Westen und die Frage nach ihrer Authentizität – schien die Seminaristen zu faszinieren. Ich plädiere für eine sorgfältige Prüfung, da gerade Russland in den letzten Jahren von einer Reihe skrupelloser Fälscher – leider auch einem Subdiakon aus Novara und einem Monsignore aus Rom, der mittlerweile nach Ferrara „strafversetzt“ wurde – mit dubiosen oder eindeutig gefälschten Reliquien buchstäblich überschwemmt wurde, zum finanziellen Nutzen der „Lieferanten“. Gleichzeitig rufe ich zu einem „wahrhaft ökumenischen Kreuzzug zur Rettung echter Reliquien“ auf, da unzählige authentische Heiligengebeine seit dem Zweiten Vaticanum und den damit einhergehenden „aggiornamento“ der Kirche auf dem Antiquitätenmarkt landeten. Sie vor Missbrauch und Profanisierung zu schützen, ja quasi zu „retten“ und einer neuen Verehrung – ob nun im Westen oder in Russland – zuzuführen sollte unser aller Ziel sein.
 
Nach einem dreistündigen Vortrag – jeder Satz muss übersetzt werden – und tosendem Applaus erwarten mich intelligente Fragen, die auf eine gute Bildung und tiefe Spiritualität der Seminaristen schließen lassen. Man ist erstaunt, ja schockiert über den Grad der Verweltlichung unserer westlichen Gesellschaft und Kirche, die einen solchen „Ausverkauf“ ihrer größten Schätze überhaupt zulässt.  
 


Mit Pater Ilia und Mikhail Arteev vor der Orthodoxen Akademie, beim Vortrag, in der Seminarkapelle, mit Mikhail Arteev vor dem Institut für Reliquienforschung.

ZWEIFEL AN DER ÖKUMENE

Den Abend verbringe ich mit meinen Gastgebern in einem St. Petersburger Restaurant, als mich Fr. Ilja noch einmal auf meine Vorlesung anspricht. „Ihr Vortrag war hervorragend, bis auf einen Satz“. „Welchen?“, will ich wissen. „Eigentlich bis auf ein Wort“, erklärt er zögernd. „Sie riefen zu einem ‚ökumenischen‘ Kreuzzug auf. Das mag für Sie ja wünschenswert sein, aber wir Russen sind gegen Ökumenismus. Dieser Begriff wurde in der Vergangenheit immer nur dann benutzt, wenn es darum ging, die Lehre der Kirche mit sogenannten ‚westlichen Werten‘ zu kontaminieren. Er steht für jeden nur denkbaren Unsinn, von der modernistischen Theologie bis zur Homo-Segnung.“ Ich erwidere ihm, dass es in Deutschland ähnlich sei. „Bei uns bedeutet Ökumene oft, dass die katholische Kirche protestantischer wird, um mit den Protestanten gemeinsam unterzugehen“, pointiere ich bewusst, „aber in Rom versteht man darunter eher den Dialog mit der Orthodoxie, den Brückenbau, die Besinnung auf unsere gemeinsamen Wurzeln. Und diese, nur diese Ökumene befürworte ich.“ „Da stimme ich Ihnen gerne zu“, schließt Pater Ilia das Thema ab, „aber, wie gesagt, in Russland ist dieses Wort einfach kontaminiert, weil es zu oft missbraucht wurde.“ „Das verstehe ich gut“, bestätige ich. Seine zweite Frage betrifft meine Anmerkungen zu Russland. „Sie bezeichneten unser Land als die einzige christliche Supermacht und sprachen von unserer geistlichen Bestimmung als Bewahrer des christlichen Glaubens. So habe ich das von noch keinem Deutschen gehört. War das reine Höflichkeit oder meinen Sie das ernst?“ „Wissen Sie, wir Katholiken glauben nicht nur, wie ihr Orthodoxen auch, an Marienerscheinungen, wir glauben auch an Botschaften der Gottesmutter. Sie kennen sicher die Botschaft von Fatima aus dem Jahre 1917, als Maria drei analphabetischen Hirtenkindern in den Bergen von Portugal drei Monate vor der Oktoberrevolution bereits den Siegeszug des Kommunismus voraussagte, aber auch seinen Fall und die darauffolgende Bekehrung Russlands. Acht Jahrzehnte lang beteten wir für die Bekehrung Russlands, dann durften wir dieses Wunder erleben: vor unseren eigenen Augen wurde diese Verheißung der Gottesmutter wahr. Das, so Maria in Fatima, würde der Welt „eine Zeit des Friedens“ schenken, auf die wir immer noch hoffen, es sei denn, damit waren die letzten 25 Jahre gemeint. Aber das ist nicht alles. 69 Jahre vor Fatima, 1846, erschien Maria zwei Hirtenkindern in La Salette und diktierte jedem von ihnen ein Geheimnis. Die Kinder schrieben es nieder, es wurde von ihrem Bischof versiegelt und an den Vatikan geschickt, wo es „verschwand“. Erst 1999 fand es ein französischer Dominikanerpater, der über La Salette promovierte, im Archiv der Glaubenskongregation im Vatikan. Da stand drin, das Frankreich, ja ganz Europa den Glauben verlieren, dass man auf einen Papst schießen, aber ihn nicht töten würde – was mit Johannes Paul II. Wahrheit wurde – und vieles andere. Am Ende aber würde Europa durch ‚großes Land im Norden‘ bekehrt werden. Ich glaube nicht, dass damit Schweden oder Dänemark gemeint ist, sondern mag, auch im Licht der Botschaft von Fatima, an Russland denken. Dann gab es Pater Pio von Pietrelcina, einen Mystiker und Wundermann, einen Starez, wie Sie ihn nennen würden, und der sagte in den 1960er Jahren: ‚Russland wird bekehrt, wie es die Gottesmutter vorausgesagt hat und es wird Amerika und der Welt eine Lektion in Bekehrung erteilen‘. Und schließlich ist da Medjugorje, wo die Gottesmutter angeblich seit 1981 regelmäßig erscheint, natürlich noch nicht anerkannt von der Kirche, weil die Erscheinungen noch andauern, aber zumindest beachtenswert. Dort, in der Herzegowina, warnte Maria schon vor 35 Jahren, der Westen würde ‚sich von Gott abwenden und handeln als sei der Mensch sein eigener Schöpfer‘, während Russland bald ‚Gott am meisten Ehre erweisen würde‘. Darum glaube ich daran, dass die Wiederauferstehung Ihrer Kirche ein Zeichen der Hoffnung für die ganze Christenheit ist, aber auch mit einer Aufgabe verbunden. Ihr definiert Euch als das Dritte Rom. Rom und Konstantinopel waren Beschützer der Christenheit unter dem Ansturm der Barbaren. Jetzt ist es an Russland, zu beweisen, dass es diesen Titel verdient hat, als Beschützer der Christenheit in unserer Zeit.“ „Ich spüre, dass Sie es ehrlich meinen“, erwidert Pater Ilia, der mir dabei tief in die Augen schaut, als könne er in meiner Seele lesen. Er scheint gerührt, ich kann Tränen erkennen. „Lassen Sie uns auf unsere Freundschaft trinken“, meint er. Dann umarmt er mich, während ich um seinen Segen bitte.

„Ich trinke auf unsere Freundschaft, aber auch auf die deutsch-russische und die katholisch-orthodoxe Freundschaft“, erhebe ich schließlich mein Glas: „Nasdrowje!“ Mikhail grinst. „Es ist witzig, dass Ihr Westler immer glaubt, wir Russen würden ‚Nasdrowje‘ sagen.“ „Tut ihr das nicht?“ „Nein. Aber jeder glaubt es. Es ist die meistverbreitete Legende über Russland.“ Pater Ilia nickt. „Es fällt mir schwer zu glauben, aber ich beuge mich Eurer Autorität. Und trinke auf die Freundschaft: Druschba!“ Jetzt prosten mir meine Gastgeber zustimmend zu.  
 
DER SCHATZ DER MALTESER

Am nächsten Tag bin ich mit Katarina Dzunkova verabredet, einer genialen jungen slowakischen Historikerin und Kunstgeschichtlerin, die zwölf Sprachen spricht, gerade in St. Petersburg promoviert und ganz nebenbei mein Buch „Völkermord an den Armeniern“ ins Slowakische übersetzt hat. Ich hatte sie gebeten, für mich ein Thema zu recherchieren, das mir, neben der Kazanskaya, ebenfalls am Herzen liegt, seit ich für die Malteser tätig bin und von Peter Frhr. von Fürstenberg gebeten wurde, der Geschichte der heiligsten Ikone seines Ordens auf den Grund zu gehen.

Als die Malteser, die damals noch Johanniter oder Hospitaliter hießen, von den Moslems aus Jerusalem vertrieben worden waren und auf Rhodos Zuflucht fanden, stießen sie dort auf eine wunderwirkende Ikone, die sich ebenfalls im Exil befand. Der Überlieferung hatte sie der Evangelist Lukas gemalt, jetzt wurde sie von Eremiten auf dem Berg Philermos verehrt. Die Ritter machten sie zu ihrer Beschützerin und nahmen sie mit, als Rhodos 1523 von den Türken überfallen und erobert wurde. Zusammen mit der großen Kreuzreliquie und der rechten Hand Johannes des Täufers wurde sie zum dritten großen Heiligtum des Ordens und folgte ihm auf seiner Odyssee über Rom und Villefranche zur Mer nach Malta, dann bis nach St. Petersburg, wohin sie 1798 kam, als die Insel von Napoleon erobert und Zar Paul I. Protektor und Großmeister des Malteserordens wurde. Zunächst verwahrte er sie in seinem Lieblingspalast in Gatchina, in dessen Nähe er 1799 aus gebrannten Ziegeln die Priorei der Malteser, eine kleine Ordensburg, errichten ließ. Einmal im Jahr wurde sie zur Verehrung durch die Gläubigen in die St. Pauluskirche von Gatchina überführt. Nach seiner Ermordung durch Freimaurer im Dienste der britischen Krone brachte sein Nachfolger sie in den Winterpalast in St. Petersburg, dem neuen Hauptsitz der Zaren bis zur Oktoberrevolution. Damals schmuggelte man sie und die anderen Malteser-Schätze eiligst über Dänemark nach Montenegro, wo sie noch heute in einem Kloster ruhen.

Gatchina befindet sich gut eine Stunde südwestlich von St. Petersburg, was mir erlaubt, einen Blick auf die Peripherie zu werfen. Die Straßen sind exzellent, die Wohnhäuser stammen zwar zumeist aus der Zeit des Kommunismus, sind aber liebevoll renoviert. Auch hier laden farbenfrohe Leuchtreklamen und gut dekorierte Schaufenster zum Besuch der zahlreichen Geschäfte ein. In Russland, so scheint es, ist der Wohlstand ausgebrochen.



Gatchina: Das Schloß, die Schloßkapelle, die Ikone mit dem betenden Zar Paul I., Unterricht in höfischer Etikette

Das Schloss von Gatchina liegt traumhaft inmitten eines ausgedehnten Seen-, Park- und Waldlandschaft. „Hier müsste man mit einem guten Hund spazieren gehen“, meine ich zu Katarina und denke an meine Hündin Lucy, „da könnte man richtig viel Spaß haben!“ Die schöne Fassade täuscht schnell über das dramatische Schicksal des Zarenschlosses hinweg, das im 2. Weltkrieg von den Deutschen besetzt war und bei ihrem Abzug in Brand gesteckt wurde. Noch heute zeugt davon ein Graffito, in einen der Ziegel geritzt, das von dem mutmaßlichen Brandstifter stammt, einem Obergefreiten aus Stettin, und auf den 28.10.1943 datiert ist: „Hier sind wir gewesen, hier kommen wir nicht mehr her. Wenn Ivan kommt ist alles leer.“ Ganze neun Räume des komplett ausgebrannten Schlosses wurden nach historischen Aufnahmen wieder so hergerichtet, wie sie einmal waren, darunter zum Glück auch die Kapelle. Sie wurde mit herrlichen Ikonen ausgestattet samt einer Kopie der „Gottesmutter von Philermos“. Eine Ikone des Erzengels Michael, Beschützer des Zarenhauses, zeigt zu seinen Füßen Zar Paul, wie er auf Knien – ganz unorthodox also – mit gefalteten Händen die von ihm so geliebte Ikone verehrt. Zahlreiche Schulklassen scheinen das Schloss zu besuchen, das eigene Kinderführungen anbietet. Zwei als Hofdamen verkleidete Museumspädagoginnen unterrichten die vielleicht achtjährigen Jungen und Mädchen in höfischer Etikette, bevor jeder Teilnehmer mit einem Orden ausgezeichnet wird.



Gatchina: Meine vierbeinigen Freunde, die Priorei, die Pauluskirche und ihre Philermos-Ikone

Natürlich will ich die Priorei noch sehen, in der heute eine kleine Ausstellung zur Geschichte der Malteser in Russland untergebracht ist. Sie erhebt sich wie eine mittelalterliche Burg über dem malerischem „Schwarzen See“ am Stadtrand von Gatchina. Die herrliche Landschaft lädt zu einem Spaziergang ein und auch Katarina hat Lust, die Natur zu erkunden. Während ich Fotos der Priorei aus allen nur denkbaren Perspektiven schieße, stellte ich fest, dass auch die Russen Hundeliebhaber sind. Ein schwarzer Cockerspaniel erinnert mich an meine Lucy, ein Paar weißgrauer Huskies begrüßt uns so freundlich, dass wir uns beide gegenseitig mit ihnen fotografieren. Wahre Prachtburschen und die idealen Begleiter durch den kalten und viel zu langen russischen Winter, da sie auch als Schlittenhunde einsetzbar sind.
Zur Pauluskirche von Gatchina führt eine pittoreske Fußgängerzone mit hübschen Boutiquen, Konditoreien und Blumengeschäften.  Aus der hoch aufragenden barocken Kirche mit ihren fünf Zwiebelturm-Kuppeln dringen Gesänge, es wird eine Abendandacht gehalten. Im Innern empfängt uns mystisches Halbdunkel, goldglänzende Ikonen werden von flackernden ewigen Lichtern erhellt. Tiefe Stimmen preisen Gott im Wechselgesang mit dem hellen Lobpreis der Frauen. Überall Ikonen, die auch ich mit Kreuzzeichen, Kuss und Verneigung verehre. Zunächst die Gottesmutter von Kazan, mit tausenden Süßwasserperlen geschmückt. Dann endlich sehe ich sie, die Gatchiner Kopie der Gottesmutter vom Berge Philermos, mit einem nicht weniger prachtvollen Oklad (Ikonenauflage) aus Muschelstücken und Süßwasserperlen. Ihr vom Alter geschwärztes Gesicht mit der markanten, langen Nase ist gut getroffen, nur ein Detail hat der Kopist offenbar nicht verstanden: Bildet auf dem Oklad des Originals den Hintergrund des Monopherons (des Marienmantels) ein weißes Malteserkreuz, so sind es hier sechs Zacken, die wie Strahlen anmuten. Wir stellen zwei Kerzen auf, bekreuzigen und verneigen uns erneut; die Andacht war gerade zuende gegangen, eine alte Frau, die Küsterin vielleicht, will ihre Tore schließen.
 
MISSBRAUCH DER FRÖMMIGKEIT

Am nächsten Mittag bin ich noch einmal mit Mikhail Arteev verabredet, der mir das von ihm geleitete „Zentrum zur Erforschung christlicher Reliquien“ zeigen will. Ich bin beeindruckt von den schönen Räumlichkeiten in einem Nachbargebäude der Akademie auf dem Gelände des St. Alexander Nevsky-Klosters, ausgestattet mit modernstem Equipment. Schnell lässt sich entdecken, wenn etwa eine Cedula (Reliquienzettel) eines vermeintlichen Barockreliquiars mit Tintenstrahldrucker produziert wurde. Auch Tierknochen wurden bereits in Schwarzmarkt-Reliquiaren entdeckt. Umso notwendiger ist es, dem Missbrauch der Frömmigkeit Einhalt zu bieten und die Spreu vom Weizen zu trennen. Gerne würden die Russen unsere Malteser-Grabtuchausstellung in ihre Akademie einladen, stolz zeigt man mir die dafür angedachten Ausstellungsräume. Noch einmal gesellt sich Pater Ilia zu uns, wenn auch leider nur kurz. Er entschuldigt sich, da er noch Verpflichtungen als Chorleiter hat. Am Donnerstag würden er und sein Chor seinen Bischof und den Moskauer Patriarchen Kyrill auf einer Reise nach England begleiten und vielleicht sogar vor der Queen singen. Natürlich habe ich volles Verständnis, dass so eine wichtige Mission Vorrang hat.
 
AUF MILITÄRISCHEM SPEERGEBIET

Eine schwarze Limousine holt Katarina, die zwischenzeitlich auch eingetroffen ist, und mich ab. Eine kleine Aufmerksamkeit des Verbandes orthodoxer Kaufleute, wie ich später erfahre; dessen Vorsitzender hatte meinem Vortrag gelauscht und war offenbar von seinem Inhalt angetan. Der Fahrer, der als Luftwaffenmajor auch in der DDR gedient hatte, sprach sogar gebrochenes Deutsch. Unser erstes Ziel ist ebenfalls militärisch. Zar Paul I. hatte in St. Petersburg eine eigene Malteserkapelle eingerichtet, die ich besuchen wollte. „Völlig unmöglich“, hatte Katarina in Erfahrung gebracht. Der Palastkomplex, zu dem die Kirche gehört, sei eine Kadettenschule der Armee, der Zutritt derzeit für Ausländer unmöglich. Pater Ilia hatte aber von meinem Wunsch erfahren und es kostete ihn nur einen Anruf, uns alle Tore zu öffnen. Wir würden pünktlich um 16.00 Uhr erwartet. Tatsächlich läßt man uns nach Kontrolle unserer Pässe passieren. Nach kurzer Wartezeit treffen zwei Soldaten ein – unsere Führer, die uns durch die Anlage geleiten und sie erklären. Der Anblick von kleinen Jungs, vielleicht zehn Jahre alt, in Uniform beim Exerzieren befremdet mich als Deutschen ein wenig. Aber solche Institutionen gibt es in den USA, in England und Frankreich und vielen anderen Staaten ebenfalls – sie bereiten die Jungen eher spielerisch auf eine künftige Offizierslaufbahn vor. Die Fotos von den Aktivitäten der Schule, aber auch die Gesichter der Jungen lassen erahnen, dass es für die meisten eher ein großer Abenteuerspielplatz ist, der sich ihnen hier bietet. Der Stolz auf diese uralte Institution aus der Zarenzeit ist überall greifbar; immerhin geht die Kadettenschule auf eine Pagenschule des Zaren zurück und feiert nächstes Jahr ihr 215jähriges Bestehen.



Die Kadettenschule, ihre Malteserkirche, der orthodoxe Kirchenraum mit seiner Kopie der Philermos-Ikone, unsere Eskorte


Die Malteserkirche bezeugt die enge Verbundenheit Pauls I. mit dem Orden, dessen Protektor und Großmeister er war. Über und über ist sie mit Malteserkreuzen geschmückt, die so omnipräsent sind, dass sie auch in das Wappen der Schule Aufnahme fanden. Das Gotteshaus hat zwei Stockwerke, das untere ist eine katholische, das obere eine orthodoxe Kirche, wobei der katholische Kirchenraum – laut Inschrift durch den Erzbischof von Mohilow am 15. Juli 1800 geweiht - heute als Ausstellungsfläche dient. Alte Fotos zeigen noch den Zarenthron, der links vom Hochaltar stand und belegt, dass der fromme „Kaiser aller Reußen“ auch an katholischen Gottesdiensten teilnahm. Mehr Charme hat heute die prachtvolle obere, orthodoxe Kirche, schon weil sie nicht zweckentfremdet ist. Hier finden die Gottesdienste für die Kadetten statt, schließlich bekennt sich auch das Militär in der Ära Putin dezidiert wieder zum christlichen Glauben. Der schwarze Marmor und die goldenen Kapitelle der Säulen verleihen der Kirche etwas Imperiales, die herrlichen Ikonen stellen das spirituelle Gleichgewicht wieder her. Eine davon, an besonders exponierter Stelle zur Verehrung auf ein Podest gelegt, zeigt die Märtyrer aus der Zeit der kommunistischen Terrorherrschaft, allen voran die Zarenfamilie. Auf Randbildern sind die Todesarten der neuen Glaubenszeugen dargestellt. Noch exponierter aber ist eine großformatige, blaugrundige und stark idealisierte Kopie der Philermos-Ikone, die hier als Brückenbauerin in eine große Vergangenheit dient.
 
AM FATIMA-TAG BEI DER GOTTESMUTTER

Nach einem Gruppenbild mit unserer mittlerweile fünfköpfigen Eskorte bringt uns der Fahrer zur St. Isaak-Kathedrale, die seit der Kommunistenzeit ein Museum ist. Heute aber wird das goldstrotzende Gotteshaus mit seinen herrlichen Fresken, seit 1858 die Hauptkirche der Zaren, das sein Design dem ursprünglichen Plan Michelangelos für den Petersdom verlangt, längst auch wieder für Gottesdienste genutzt. Das erscheint wie ein Brückenschlag zwischen der sowjetischen Vergangenheit und der christlichen Gegenwart Russlands. Trotzdem gefällt mir die säkulare Nutzung nicht, ist die Atmosphäre in dem bestens ausgeleuchteten Protzbau eher kalt, nicht nur an einem nebligen Oktobertag wie heute. Ich dränge zur Eile, denn es zieht mich ausgerechnet an diesem 13. Oktober, dem Fatimatag, in die Kazan-Kathedrale.

Hier herrscht echte Andacht im Klang sonorer orthodoxer Chorstimmen, stehen die Gläubigen Schlange, um den Segen eines Priesters zu erhalten. Uralte Ikonen und neue von der heiliggesprochenen Zarenfamilie, Darstellungen der Wunder des Gnadenbildes und die Schlüssel von Städten und Festungen, die russische Soldaten unter der Fahne der Gottesmutter von Kazan im Krieg gegen Napoleon erobert hatten – darunter Avena, Bremen und Gertrudenberg – buhlen um meine Aufmerksamkeit. Über einem Seitenaltar erhebt sich das Kreuz von Golgota. Dahinter, im Halbrund hinter einem leeren Sarkophag, der das Heilige Grab repräsentieren soll, ist eine Kopie des Turiner Grabtuchs aufgestellt. Auf einem Reliquienaltar werden neben wahrscheinlich authentischen Reliquien des Apostels Andreas und einiger „neuer Märtyrer“ auch „Reliquien der Heiligen Familie“ aus der Fälscherwerkstatt in Novara verehrt, samt ihrer bequemerweise auf Russisch ausgestellten Authentiken. Doch all das kann mich nicht dauerhaft von jenem Gnadenbild ablenken, um dessen wegen ich gerade an diesem Tag der Gottesmutter in eben jene Kirche wollte.  Auf der linken Seite der silberbeschlagenen Ikonostase fällt es schon durch seinen Messingrahmen auf, und natürlich ist es von hundert Perlen umrahmt. Goldene und silberne Kreuze an einer goldenen Kette, die es schmücken, zeugen von zahlreichen Gebetserhörungen. Auch ich nutze ihre Präsenz zum Gebet, wenn auch aus einiger Entfernung – nach wie vor dauert die herrliche orthodoxe Liturgie an. „Weißt Du, wie die Russen orthodox wurden?“, würde ich später Katharina fragen. Sie kannte wohl die Antwort, war aber höflich genug, mich erzählen zu lassen: „Großfürst Vladimir von Kiev suchte nach einer neuen Religion für seine Rus und ließ zunächst einen Rabbi aus dem benachbarten Khasarenreich kommen. Der Inhalt seiner Predigt gefiel den Rus, aber als der Rabbi meinte, der Genuss von Schweinefleisch sei einem Juden verboten, wies der Großfürst ihn ab: Meine Männer brauchen ihr Schaschlik! Dann rief er einen Moslem aus dem Reich der Tataren. Der erzählte vom Djihad, ein Konzept, das dem kriegerischen Volk gefiel, doch als er auf das Alkoholverbot zu sprechen kam, schickte Vladimir ihn heim. ‚Meine Rus ohne Vodka? Das geht nicht!‘ Der nächste, den er anhörte, war ein katholischer Missionar. Das Evangelium sagte dem Russen überaus zu und er bat den Lateiner, eine Heilige Messe zu feiern. Fast wäre der Großfürst katholisch geworden, doch da bat noch ein orthodoxer Missionar um Anhörung. Als dieser die göttliche Liturgie feierte, war für Vladimir die Sache klar: Diese Gesänge, diese Gewänder, diese Ikonen – so musste es im Himmel sein! Und deshalb ließ er eine Rus 988 von einem byzantinischen Missionar nach dem griechischen Ritus taufen.“ „Und weißt Du, Katharina“, holte ich nach einer Pause aus, „so sehr ich Katholik bin und unsere Kirche liebe, so sehr verstehe ich diese Faszination für die Orthodoxie. Ich denke, wir können von ihr einiges lernen, einiges wiederentdecken, was bei uns durch den Rationalismus der Neuzeit verloren ging – nämlich das Numinose, eine Atmosphäre des Geheimnisvollen, als Annäherung an das größte aller Geheimnisse, an Gott, zu nutzen.“

Trotzdem sind wir natürlich unserer Kirche treu und haben beide das innere Verlangen, an diesem 13. Oktober, dem 99. Jahrestag des Sonnenwunders von Fatima, eine katholische Heilige Messe mitzufeiern. Zum Glück liegt die älteste katholische Kirche von St. Petersburg gleich schräg gegenüber, und sie ist ausgerechnet Katarinas Namenspatronin, der hl. Katharina von Alexandria, geweiht. Hier sind die Spuren des kommunistischen Missbrauchs noch sichtbar, nicht so gut übertüncht wie in den orthodoxen Kirchen, etwa der Kazanskaya-Kathedrale, die in Sowjetzeiten als „Museum des Atheismus“ dienen musste. Zu meiner großen Freude steht vor dem Altar ein Gnadenbild der Gottesmutter von Fatima, die so eng mit dem Geschehen in Russland verbunden ist, ja als „Befreierin Russlands“ betitelt werden sollte.
 
VOM KONGO NACH ST. PETERSBURG

Die Begegnung mit dem katholischen Russland machte mich neugierig auf mehr, zumal eine Leserin mir den Tipp gegeben hatte, auch die Kirchengemeinde „Mariä Heimsuchung“ zu besuchen, der ein deutscher Pater der Steyler Missionare, Pater Richard Stark (79), vorsteht. So fahren wir gleich am nächsten Mittag in das Industriegebiet, wo sich die gut 150 Jahre alte ehemalige Friedhofskapelle erhebt. Das nasskalte Herbstwetter, der ewig graue Himmel und die heruntergekommene Gegend machen auf den ersten Blick einen ziemlich trostlosen Eindruck. Die Kirche ist von Baugerüsten umgeben und wird offenbar komplett renoviert, was zumindest ein Hoffnungszeichen ist. Aus dem von Baufahrzeugen vollgeparkten Gelände erheben sich ein Kreuz und eine Statue der Lourdes-Madonna, beide liebevoll geschmückt und erste Hinweise auf ein lebendiges katholisches Gemeindeleben. Wir betreten die Kirche, die leer und im Zustand der Renovierung ist. Eine offene Tür weist uns den Weg in einen kalten, zugigen Raum, der offensichtlich als provisorische Kapelle dient. Graue Plastikstühle und grüne Altardecken aus Plastik scheinen sonst für Freiluftmessen Verwendung zu finden, alles macht eher den Eindruck einer Untergrundkirche aus sowjetischer Zeit. Doch das Provisorium hat auch seine Schätze: Ein herrliches altes Kruzifix, ein Gemälde der seligen Schwester Boleslawa Maria Lament (1862-1946), die von 1907 bis 1921 in St. Petersburg wirkte, eine Ikone der polnischen Gottesmutter von Jasna Gora und – unübersehbar, gleich neben dem Tabernakel platziert, die Philermos-Ikone.



Die Mariä-Heimsuchungskirche; ihr Provisorium; Kaplan Michal Marhefka, Katarina Dzunkova, Pater Richard Stark; seine Kopie der Philermos-Ikone

Ich möchte mehr über diese Kirche erfahren und ihren Pfarrer sprechen, doch in der Sakristei sitzt nur ein Student aus Indien am Notebook, der offenbar Küsteraufgaben übernommen hat. Er lässt uns eine gute halbe Stunde in der provisorischen Sakristei warten, deren einziger, von Wachstuch-Decken bedeckter Tisch als Schreib- wie als Frühstückstisch zu dienen scheint. Dann kommt ein freundlicher Kaplan namens Michal Marhefka, der sich, zu Katarinas Freude, als Slowake vorstellt. Er führt uns herum, verspricht, den Pfarrer von unserem Besuch zu berichten.

Erst am Abend, wir waren bereits in der Eremitage und zu einem Abendgebet in der Kazanskaya-Kathedrale, auf dem Rückweg in mein Hotel, klingelt mein Telefon. Es ist tatsächlich Pater Stark, der bedauert, uns nicht getroffen zu haben. Obwohl in ein paar Stunden mein Flug nach Moskau startet, disponiere ich spontan um. Unser Fahrer bringt mich auf dem schnellsten Weg zu einer U-Bahn-Station, die der betagte Priester am ehesten von seiner Wohnung erreichen kann, dort treffen wir ihn, fahren zur Kirche. Ich bekomme eine Führung durch das neue Mütter-Kind-Heim der Malteser, dann erzählt er mir seine Geschichte.

Die Mariä-Heimsuchungs-Kirche, so Pater Richard,  wurde von Nicolas Benois gebaut, dem berühmtesten Baumeister von St. Petersburg zu dieser Zeit. Benois Vater, ein Konditormeister, war vor der Revolution in Frankreich nach Russland geflohen und hatte gleich am Zarenhof eine Anstellung gefunden. Er heiratete eine Deutsche namens Groppe, zeugte 16 Kinder, und legte damit den Grundstück zu einer großen Künstlerfamilie, der schließlich auch der wohl bekannteste russischstämmige Schauspieler des 20. Jahrhunderts entstammte, Sir Peter Ustinov – seine Mutter war die Bühnenbildnerin Nadeschda Leontjewna Benois, eine Enkelin von Nicolas Benois.

Pater Richard wurde von den Steyler Missionaren 1999 nach St. Petersburg geschickt. Zuvor hatte er 28 Jahre lang eine Missionsstation im Kongo geleitet, Ebola und den Bürgerkrieg überlebt, Brücken gebaut, den Afrikanern die Landwirtschaft beigebracht. Der Pater wurde zum Kämpfer, auch als er nach Russland kam. Seine Kirche aber, St. Mariä Heimsuchung, war zu diesem Zeitpunkt eine bessere Ruine. Zwei Weltkriege und 74 Jahre Kommunismus hatten sie in einem kläglichen Zustand hinterlassen. Ihr letzter Pfarrer war 1937 erschossen, die Kirche danach geschlossen worden. „Jetzt hatte ich mehr Katholiken unter mir als irgend ein anderer katholischer Priester in Russland“, grinst der 79jährige: „Denn wir befinden uns hier auf einem Friedhof, in dem 40.000 Katholiken begraben wurden, sieben Erzbischöfe und Benois selbst in der Kirche. Nach orthodoxer Vorstellung sind Lebende und Tote eine Gemeinschaft. Schon darum war mir klar, dass ich diese Kirche retten musste.“ Das wurde für ihn zur Verpflichtung – und der letzten großen Herausforderung seines Lebens. Anderthalb Jahrzehnte lang schrieb der streitbare Ordensmann Bettelbriefe an Hilfswerke in Deutschland, ohne Erfolg. Die Gelder, die er für das Bauvorhaben brauchte, wollte niemand bewilligen und Spenden flossen nur dürftig. Immer intensiver wurden seine Gebete, als endlich ein Wunder geschah. Die Stadt St. Petersburg sagte zu, die Kosten für die Renovierung vollständig zu übernehmen. Seitdem laufen die Bauarbeiten auf Hochtouren – Deo gratias!

„Und welche Rolle spielt die Gottesmutter von Philermos dabei?“, frage ich Pater Stark, bevor ich wieder los muss. „Ihre Geschichte ist untrennbar mit der dieser Stadt verbunden“, konstatiert der Steyler Missionar, „denn sie wurde hier 120 Jahre lang verehrt, bis zur Revolution. Daher ließ ich eine schöne Kopie von einem bekannten orthodoxen Moskowiter Ikonenschreiber, Jewgeni Maljagin, anfertigen, den mir ein guter Freund, ein orthodoxer Priester, empfohlen hatte. Sie soll zum Symbol dafür werden, dass wir Katholiken und Orthodoxe zusammenarbeiten und gemeinsam das christliche Leben dieser Stadt gestalten können. Denn diese Ikone verbindet die Konfessionen. Hinzu kommt: Ich möchte aus dieser Kirche einen Wallfahrtsort machen. Auch wenn das keinen Bischof interessiert, die alle lieber nach Lourdes und Fatima und Tschenstochau fahren, auch wenn keiner von denen uns besucht – ich glaube, dass dies meine Berufung, meine Aufgabe ist. Ich bin noch ein Jahr im Dienst, dann werde ich 80 – aber mein Vermächtnis hier in dieser Stadt soll ein Wallfahrtsort für die Gottesmutter von Philermos werden, zu dem Katholiken und Orthodoxe gemeinsam pilgern können.“


Der Kreml bei Nacht

PUTINS BEICHTVATER

Ich bin froh, ihn noch getroffen zu haben, den Mann, der die Philermos-Ikone endgültig zur Brückenbauerin zwischen Ost und West, zwischen katholischer und orthodoxer Welt werden lässt. Doch die Zeit drängt: Schnell zurück ins Hotel, ein herzlicher Abschied von der wunderbaren Katarina und dann in das Taxi, das Mikhail Arteev bestellt hat: durch das nächtliche St. Petersburg, über den prachtvollen Alexander Nevsky-Prospekt, vorbei an der Kathedrale der Gottesmutter von Kazan, zum Pulkovo-Airport. Zwei Stunden später Landung in Moskau-Dumodovo, einer anderen Welt. Ist St. Petersburg klassizistisch geprägt und westlich-elegant, steht Moskau für 600 Jahre russischer Geschichte: majestätisch und bombastisch, großzügig und protzig, tiefgründig und oberflächlich zugleich, eine Stadt der Kathedralen des Konsums, der Politik und des Glaubens. Obwohl es drei Uhr nachts ist, sind die Straßen voll und viele Geschäfte geöffnet, pulsiert das Leben, ist von der vielbeschworenen „Wirtschaftskrise Russlands“ nichts zu spüren. Die meisten Wohnblöcke aus sowjetischer Zeit wurden saniert, barocke Paläste liebevoll restauriert, Neues aus dem Boden gestampft, oft, und das erstaunt, architektonisch erstaunlich gelungen.  Auf den Straßen westliche Autos deutscher und französischer Fabrikation, viele aus Ingolstadt, München und Stuttgart, aber auch das eine oder andere britische oder italienische Luxusmodell, nicht schlechter, eher besser als in den weniger glitzernden Metropolen des Westens. Geradezu inflationär haben sich Filialen von Kentucky Fried Chicken, Burger King und MacDonald überall bereit gemacht. Erst die hell erleuchteten Kreml-Mauern, hinter denen sich die goldenen Zwiebeltürme vierer Kathedralen erheben, nehmen mir alle Zweifel, dass ich tatsächlich in Moskau bin. Stolz zeigt mir Mikhail eine Baustelle, in deren Mitte sich ein meterhoher Holzkubus erhebt. Eine Plakatwand zeigt, was hier gerade entstehen soll: Eine monumentale Statue des heiligen Großfürsten Vladimir, des Bekehrers Russland vor über tausend Jahren. „Die UNESCO hat protestiert, sie würde den Blick auf den Kreml verändern“, erzählt mein Gastgeber. „Putin hat darüber nur gelacht und angeordnet: jetzt erst recht! Schließlich war der Kreml viel zu lang Symbol des Kommunismus, der Sowjetunion. Es wird Zeit, dass sich das alte und neue christliche Russland stolz der Welt offenbart.“ „Aber sag mir, meint Putin das ernst mit dem Christentum? Viele Türme tragen noch den roten Stern und Lenin ist auch noch in seinem Mausoleum.“ „Wir wissen, dass er gläubig ist“, betonte Mikhail, „ich kenne seinen Beichtvater, seinen spirituellen Berater. Ein tief gläubiger Mann, Tichon heißt er. Putin geht regelmäßig zur Liturgie, aber sitzt meist versteckt in einer Nische, damit keiner das mitbekommt. Er muss halt vorsichtig sein. Natürlich sind noch alte Kommunisten in Schlüsselstellungen der Gesellschaft. Auch viele einfache Leute, viele Alte, trauern dem Kommunismus und der einstigen Größe, der Zeit, als die Sowjetunion eine gefürchtete Weltmacht war, nach. Nicht umsonst sind die Kommunisten die zweitstärkste Kraft in der Duma, dem russischen Parlament. Da muss er alles vermeiden, was die Gesellschaft spalten würde. So setzt er auf Integration statt Konfrontation. Der alte Lenin darf bleiben, unter der Wachsschicht weiter vor sich hinrotten. Aber im Kreml wird wieder ein Kloster eingerichtet, sollen Mönche beten. Der Rote Platz ist jetzt von zwei Kathedralen eingerahmt, neben der bekannten Basilios-Kathedrale auch von der wieder aufgebauten Kazanskaya-Kathedrale. Und die Skyline von Moskau wird von der Christerlöser-Kathedrale geprägt, der größten Kirche Russlands in Sichtweite des Kremls. Stalin hat sie einst zerstören lassen, unter Putin wurde sie fertiggestellt und eingeweiht. Es ist die Kirche unseres Patriarchen – und das Symbol für die Wiederaufstehung des christlichen Russlands. Putin macht also seinem Namenspatron, dem Großfürsten Vladimir, alle Ehre!“



Ein Hochhaus aus der Stalin-Zeit, die Christ-Erlöserkathedrale, die goldenen Kuppeln der Kreml-Kathedralen, das im Bau befindliche Standbild des Fürsten Vladimir

Ich soll diese Nacht im Hotel Peking verbringen, einer Nobelherberge aus der Stalinzeit, mit allem Luxus eines Viersterne-Hotels. Als braver Gast nehme ich diesen Ausdruck russischer Wertschätzung dankend an. Am nächsten Mittag bringt Mikhail mich zunächst zum Sretenski-Kloster, wo Putin privat die Liturgie besuchen soll. Schon auf der Fahrt dorthin passieren wir so viele Klöster und Kirchen, meist aufwändig renoviert oder auch neu errichtet, dass ich nur staunen kann. „Leben denn da überall Mönche?“, will ich wissen. „Natürlich leben da Mönche, 20, 30 oder bis zu 50 an der Zahl“, meint Mikhail, „wir haben so viele Berufungen wie noch nie in unserer Geschichte.“ „Bei uns muss ein Kloster nach dem anderen schließen, weil den Orden der Nachwuchs fehlt“, gestehe ich kleinlaut. Die Russen scheinen ein solches Problem nicht zu kennen. Als wir endlich unser Ziel erreicht haben, bin ich erstaunt, wie unspektakulär die „Pfarrkirche“ des Präsidenten ist. Ja, sie hat schöne Ikonen, aber sie unterscheidet sich in nichts von dem guten Dutzend anderer Klosterkirchen, die ich in den nächsten Tagen noch besichtigen würde. Wer hier zur Liturgie geht, möchte ganz offensichtlich nicht auffallen, sondern sich zumindest ein paar Stunden lang als ganz normaler Gläubiger fühlen.
 
EIN EXORZISMUS VOR LENINS MAUSOLEUM

Ebenfalls Aufbruchstimmung in der orthodoxen Universität, durch deren Räume Arteev mich führt. Er hat eine ganze Sammlung falscher Reliquien zusammengetragen, mit denen in den vergangenen Jahren Russland überschwemmt wurde. Wir sind uns einig, dass diesem Missbrauch der neuerwachten russisch-orthodoxen Reliquienfrömmigkeit Einhalt geboten werden muss.

Ironie der Vorsehung? Schräg gegenüber der orthodoxen Universität liegt das bombastische ehemalige Hauptquartier des sowjetischen Geheimdienstes KGB mit seinen berüchtigten Folterzellen. Heute ist dort der Inlandsgeheimdienst FSB untergebracht. „Gefoltert wird schon lange nicht mehr“, versichert mit Mikhail. „Dein Wort in Gottes Ohr“, meine ich lachend. Er zeigt mir den Weg zum Roten Platz, ich habe zwei Stunden für einen Stadtspaziergang auf eigene Faust. Endlich!, denke ich mir und marschiere los. Und staune. Eine elegante Shoppingstrasse, die Nikolskaya Ulitza, erwartet mich mit Luxusboutiquen italienischer Nobeldesigner und französischen Konditoreien, Kaffeehäusern und Parfümerien, schicken Restaurants und exklusiven Wellnesstempeln, eine Mischung aus Königsallee und Via Condotti mit einem Hauch von Bel Air und allemal edler als der Champs Elysee. Schließlich zur Linken die neue Edel-Mall des Luxuskaufhauses Gum, geschmückt mit tausend Glühbirnen, über den Portalen Ikonen der Gottesmutter. Die Russen scheinen Weihnachtsbeleuchtung zu lieben, und das schon im Oktober. Ich gehe hinein – und staune. Für den Geldbeutel eines Schriftstellers gibt es auch etwas, nämlich Maroschnaja – sahnige russische Eiscreme in der Waffel für (ungerechnet) einen Euro. Die „historischen Toiletten“ (Eintritt: 2 Euro) haben fünf Sterne verdient und würden jedem Nobelhotel zur Ehre gereichen. Ich verlasse den glitzernden Konsumtempel und werde von seelenvollen Gesängen angezogen. Gleich gegenüber der Gum-Mall, an einer Ecke des Roten Platzes, liegt die Kazanskaya-Kathedrale, der man nicht anmerkt, dass sie ein Neubau ist. Tatsächlich wurde ihr Vorläuferbau 1636 vollendet, nur 24 Jahre nach der Überführung des Wunderbildes (oder einer Kopie) in die damalige Hauptstadt des Zarenreiches. 1918 wurde aus ihr die alte, wunderwirkende Kopie der Ikone gestohlen, was von den Gläubigen als böses Omen gedeutet wurde. Tatsächlich sollte sie 1925 zunächst in ein Museum umgewandelt, dann, 1936, auf Befehl Stalins abgerissen werden. Es war der letzte große Sieg von Gorbatschows Perestroika, als der Moskowiter Stadtrat im Juni 1990 beschloss, die Kathedrale nach den alten Plänen wiederaufzubauen. „Die Leere an der Stelle, an der sich einst diese majestätische Kirche erhob, wurde zum monströsen Symbol für die Leere in den Herzen der Menschen“, erklärte der damalige russische Patriarch Alexeij II. bei ihrer Einweihungsfeier, „In diesen dunklen Tagen lebte der Glaube nach wie vor in den Herzen vieler Russen, die das geistliche Erbe ihres Landes bewahrten…  Doch dass diese Kirche wieder vor uns steht, muss uns wie ein Wunder erscheinen.“ Ich trete ein und bin überwältigt von den Ikonen, den Fresken, der Liturgie, die hier gerade gefeiert wird. Ich schaue mich um, welche Menschen hier beten. Nicht etwa nur alte Mütterchen (die natürlich auch), sondern auch hübsche, gut gekleidete junge Frauen, außerdem jede Menge Männer aller Altersklassen,  darunter gut gekleidete Geschäftsleute oder Kreml-Beamte. Der Küster, der mir gerade das Fotografieren verbietet, könnte Offizier oder sogar KGBler gewesen sein. Die orthodoxe Kirche glaubt halt auch hier an die Kraft der Bekehrung! Doch noch mehr als das prachtvolle Innere der Kathedrale beeindrucken mich ihre Lautsprecher, die mit allen Gebeten und Gesängen aus ihrem Innern den Roten Platz beschallen, bis hin zum Lenin-Mausoleum, dieser neuheidnischen Stufenpyramide, die noch immer den Leichnam eines der großen Verbrecher des 20. Jahrhunderts beherbergt. Es ist, als würde mehrfach täglich ein Exorzismus durchgeführt und sicher würde sich Lenin, wenn er könnte, im Grabe umdrehen angesichts dieses offensichtlichen Triumphes des Glaubens im Schatten des Kreml, mit offensichtlicher Billigung der Regierung und des Präsidenten.




Die Kazanskaya-Kathedrale am Roten Platz, ihr Inneres, die Nikolskaya, eine Kirche vor Funktionärswohnungen aus der Stalin-Zeit - hier wohnt noch immer Stalins Tochter!

Nach einem Rundgang über den Roten Platz kehre ich erneut in die Kazanskaya-Kathedrale zurück, wie jeden Tag, den ich noch in Moskau bin. Sie ist zu meinem Lieblingsheiligtum in der russischen Hauptstadt geworden, zum sichtbarsten Zeichen für den Sieg der Gottesmutter und die Bekehrung Russlands.
Abends bin ich mit Mikhail und zweien seiner Mitarbeiterinnen zum Essen verabredet und erlebe russischen Humor. Wir gehen ins Rasbedka, das gleich neben der orthodoxen Universität liegt, das einstige Stammlokal des KGB und heute eine Art Spionagemuseum. Zwei Kalaschnikows aus Messing bilden die Türgriffe, an den Wänden hängen Fotos, Wimpel, Orden und Waffen, auch eine Abhörvorrichtung ist nachgebaut. Man geht sehr unverkrampft, ja spielerisch mit der Vergangenheit, dem kommunistischen Überwachungs- und Unrechtsstaat, um. Doch man ist auch froh, dass diese Zeit längst vorbei ist und scheint mir ihr abgeschlossen zu haben.

ZWISCHEN SPIRITUALITÄT UND HEDONISMUS

Am nächsten Mittag bin ich mit Mascha verabredet, einer sympathischen Fotografin, die mich schon in Mikhails Büro für einen Magazinbeitrag ablichten sollte und mir eine Führung durch die Tretjakov-Gallerie angeboten hatte. Da ich unbedingt die wohl bedeutendste Sammlung russischer Ikonen weltweit sehen wollte, sagte ich gerne zu – und komme jetzt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Dann muss Mascha gehen, ihr zwölfjähriger Sohn wartet, es ist Sonntagnachmittag. Ich nutze die Zeit für einen Spaziergang Richtung Roter Platz, überquere die Moskwa. Eine Brücke ist mit Herzen geschmückt, an Bäumen hängen Hunderte bunter Schlösser, die Verliebte hier aufgehängt haben. In Köln gibt es Ähnliches, aber hier wirkt alles bunter, liebevoller, dekorativer. Die jungen Paare, die hier flanieren, sind unbeschwert wie überall und haben keine Hemmungen, ihre Zärtlichkeit offen zu zeigen. Die Stadt ist in den 26 Jahren seit meinem letzten Besuch eine ganz andere geworden. Bunt statt grau, sauber statt verrust, frei statt verängstigt oder zumindest verunsichert. Moskau ist durch und durch eine selbstbewusste, strahlende Metropole. Auf der letzten Kreml-Brücke, die zum Roten Platz führt, stehen eimerweise Blumen, davor und daneben Fotos von Boris Nemzow, einem wirtschaftsliberalen Putingegner, der hier am 27. Februar 2015 von muslimischen Tschetschenen ermordet worden war. Grund für das Attentat mag Nemzows Unterstützung für die islamkritische Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ gewesen sein, vor allem aber war es ein Versuch, Russland gezielt zu destabilisieren:  alles sollte so aussehen, als habe Putin einen unliebsamen Kritiker beseitigt. Doch wäre der russische Präsident tatsächlich so dumm, aus einem erfolglosen Oppositionspolitiker einen Märtyrer zu machen? Bei den meisten Russen galt Nemzow schon als „Verräter“, als er sich mit den antirussischen ukrainischen Putschisten solidarisierte.


Die Brücke der Verliebten, der "Nemzov-Schrein" auf der Moskwa-Brücke zum Roten Platz

Der Rote Platz ist gesperrt wegen eines Staatsbesuches, nur der Zugang zur Kazanskaya-Kathedrale ist frei. Wieder eine herrliche orthodoxe Liturgie. Ich verlasse den Platz durch das Tor zum angrenzenden Theaterplatz, dem eine Kapelle vorsteht, der Eingang flankiert von goldenen Reliefs der Apostel Petrus und Paulus. Auf ihrer Kuppel thront, ebenfalls in Gold, der Erzengel Michael. Auch aus ihrem Innern dringen die Gesänge einer göttlichen Liturgie. Ach, Heiliges Russland, Du bist allgegenwärtig! Der Platz selbst ist mit drei Stockwerken untertunnelt, die ein riesiges Einkaufszentrum bilden. Auch hier drängen sich die Moskowiter in den Boutiquen westlicher Marken (Lacoste, Massimo Dutti, Zara, Intimissimo, Sunglas Hut & Co.). Spiritualität und Hedonismus scheinen in ständigem Wettstreit zu liegen. Wird Russland sich treu bleiben oder den Versuchungen des westlichen Materialismus folgen?

Da ich mich in Moskau mittlerweile sicher wie sonst nur in Rom fühle (und sicherer als seit einem Jahr in Düsseldorf), mache ich mich in meiner letzten Nacht zur Entspannung vor dem Schlafengehen noch auf einen Fußmarsch durch die Stadt. Es ist 2.00 Uhr früh, die Luft ist deutlich wärmer und weniger feucht als in den Nächten zuvor und ich will die nachts hell erleuchtete Christ-Erlöser-Kathedrale sehen, DAS Sinnbild der Auferstehung der Orthodoxie. So führt mein Weg durch saubere Straßen, in denen es keine Abfälle, keine Betrunkenen oder Obdachlose gibt, an die Moskwa und über ihre Uferstraße zu der neuen, monumentalen Fußgängerbrücke, die nur einen Zweck hat: Möglichst viele Gläubige in die Kirche zu locken. Mit ihren fünf goldenen Kuppeln, die an die fünf Wunden Jesu erinnern, und ihrer weißen Fassade hat die Christ-Erlöser-Kathedrale etwas Ikonisches, wie geschaffen zum Wahrzeichen des neuen, christlichen Russlands. Die moderne Brücke mit dem klassizistischen Geländer, von doppelten (elektrifizierten) Gaslaternen gesäumt, verbindet gewissermaßen Moderne und Tradition.  Der Blick von der Brücke auf den ebenfalls angestrahlten Kreml, dessen Lichter sich in der Moskwa spiegeln, ist traumhaft.



Die Christ-Erlöser-Kathedrale bei Nacht und bei Tag; ihr Inneres

Geboren wurde die Christ-Erlöser-Kathedrale aus dem Verlangen der Russen, Gott für den Sieg über Napoleons Heere am Weihnachtstag 1812 zu danken. Für die Russen war es ein Heiliger Krieg, denn es ging um mehr als die Vertreibung der Invasoren, die sich Russlands Erde zu Eigen machen wollten. Die Armee des Korsen hatte sich zum Ziel gesetzt, die „Werte“ der Französischen Revolution und damit der Freimaurerei gewaltsam in ganz Europa durchzusetzen. Dass sich die Aufklärung, der Materialismus, die Verbannung Gottes aus der Geschichte in Russland erst ein Jahrhundert später (mit den Kommunisten) durchgesetzt haben, war der heldenhaften Verteidigung des christlichen Zarenreiches im ersten „Vaterländischen Krieg“ zu verdanken. Fünf Jahre später, am 12. Oktober 1817 (also genau hundert Jahre und einen Tag vor dem Sonnenwunder von Fatima), fand die Grundsteinlegung statt. Doch die Unerfahrenheit des Architekten und ein Erdrutsch führten zum Aufschub des Bauvorhabens, das erst 1839 auf dem Gelände eines Nonnenklosters fortgesetzt wurde. Jetzt sollten die größten Künstler ihrer Zeit, darunter der geniale Wassili Werestschagin, den Kirchenbau gestalten, der 1883 endlich eingeweiht werden konnte. 1912 feierte man hier den 100. Jahrestag des Sieges, am 5. November 1917 wurde in ihm erstmals der russische Patriarch gewählt. So blieb die Christ-Erlöser-Kathedrale das Zentrum der Orthodoxie auch in den ersten Jahren bolschewistischer Herrschaft, als die anderen drei Kathedralen auf dem Kreml geschlossen waren. Den neuen, gottlosen Machthabern war sie deshalb ein Dorn im Auge. Sie beauftragten den Architekten Boris Iofan mit der Planung eines gigantischen „Sowjetpalastes“, gekrönt von einer riesigen Lenin-Statue als modernen Turmbau zu Babel an ihrer Stelle. Mit geplanten 500 Metern Höhe wäre diese symbolische Antithese zur Christ-Erlöser Kathedrale, ein Symbol für den Sieg des Menschen über Gott, das höchste Bauwerk der Welt geworden. Am 5. Dezember 1931 wurde das Gotteshaus im Auftrag Stalins gesprengt – und blieb trotz zweier Explosionen unbeschädigt. „Gott wird die Bolschewiken bestrafen“, murmelten alte, gläubige Moskowiterinnen, die das Geschehen vom Ufer der Moskwa aus verfolgten und sich erschreckt bekreuzigten: „Er wird nicht zulassen, dass etwas anderes als eine Kirche an dieser Stelle stehen wird.“

DAS BOLLWERK DES HEILIGEN RUSSLANDS

Tatsächlich wurde ihre Prophezeiung wahr. Hitlers Einmarsch in Russland stoppte die Bauarbeiten, die Stahlträger, die zur Errichtung des Sowjetpalastes hergestellt worden waren, mussten jetzt als Panzersperren dienen. Nach dem Krieg nutzte man das gigantische Bauloch für ein Freibad. Gorbatschows Prestroika machte dem orthodoxen Patriarchen Mut, für den 150 Jahrestag der Grundsteinlegung 1989 die Neuerrichtung der Kathedrale ins Gespräch zu bringen. Am 5. Dezember 1990 genehmigte die Regierung den Bau einer hölzernen Kapelle neben dem Freibad, das 1994 endlich abgerissen wurde. Damit war der Weg zum Neubau frei, dessen Grundstein Alexei II. am 7. Januar 1995 legen konnte. Für die orthodoxen Christen, die erlebten, wie ihre Gebete erhört worden waren, musste das wie ein Wunder erscheinen. Fünf Jahre lang machte man sich auf Hochtouren ans Werk. „(Der Bau) wurde zu einem Gottesdienst der Buße, einem Symbol für die Wende von der gottverneinenden Lüge des Marxismus und der Idee der Errichtung eines utopischen Paradieses auf Erden hin zum Gottesgesetz, zu der christlichen Lehre von der Ewigkeit und der himmlischen Heimat, zu den historischen Wurzeln Russlands als orthodox geprägte Zivilisation“, heißt es in der offiziellen Broschüre des Heiligtums. Ausgerechnet am 19. August 2000, dem 83. Jahrestag der vierten Erscheinung von Fatima wurde die Christ-Erlöser-Kathedrale im Beisein des neuen Präsidenten Vladimir Putin geweiht: „Gemeinsam mit ihr trat Russland in das Dritte Jahrtausend ein“.

Am Mittag nach meinem nächtlichen Ausflug bin ich mit Nadezhda verabredet, die das Sekretariat des Zentrums für Reliquienforschung leitet. Sie führt mich zum Kreml, wir besichtigen die herrlichen Kirchen aus dem 15. und 16. Jahrhundert, die Mariä-Entschlafungskathedrale, die Mariä-Verkündigungskathedrale, die Mariä-Gewandniederlegungskirche sowie die Erzengelkathedrale mit den Gräbern Iwans Grosny („des Schrecklichen“) und der anderen frühen großen Zaren der Romanoff-Dynastie. Ihre herrlichen Fresken und großartigen Ikonen erinnern auch an den Glanz der Kaiserstadt Konstantinopel, des „zweiten Roms“, deren heilsgeschichtliche Stellung Moskau seit ihrem Fall 1453 für sich beansprucht. Ihre Kirchen konnten nicht prachtvoller gewesen sein. Doch diese drei Kathedralen sind nach wie vor Museen, nur ganz selten finden hier Gottesdienste statt. Ein Kloster soll auf dem Kreml entstehen, so wünscht es Putin, aber noch ist es nicht so weit, noch müssen die Gebete aus der Kazanskaya-Kathedrale und der vom Kreml aus gut sichtbaren Christ-Erlöserkathedrale zum Machtzentrum vordringen. Letztere zieht mich auch heute wieder geradezu magisch an. So gehen Nadezhda und ich zu Fuß hinüber, ein Weg, der keine halbe Stunde dauert. Ich trete ein, mache das Kreuzzeichen, verneige mich – und bin überwältigt. Hätte Fürst Vladmir diese Kirche gesehen, er wäre noch einmal orthodox geworden, denn die Paläste des Himmels können nicht herrlicher sein. Ich bewundere ein Land, das eine solche Kathedrale zur Ehre Gottes an der Schwelle zum Dritten Jahrtausend errichtet hat. „Unsere modernen Kirchen sehen aus wie bessere Kongresshallen“, meine ich zu Nadezhda, die es kaum glauben kann: „Wir haben alles Gefühl für Schönheit verloren. In Euren Kirchen aber spiegelt sich das himmlische Jerusalem wieder, bekommt der Gläubige Sehnsucht nach Gott.“
„Diese Sehnsucht liegt tief in unserer Seele. Sie ist, was uns Russen ausmacht“, erwidert Nadezhda, deren Namen „Hoffnung“ bedeutet, „Nur so konnte sich der Glauben in unseren Herzen erhalten, auch wenn der Kommunismus ihn auszulöschen versuchte. Er musste unweigerlich damit scheitern.“
„Also hältst Du die Bekehrung Russlands für echt“, wollte ich wissen, „nicht für ein politisches Manöver Putins?“
„Was habt ihr Westler nur mit Putin. Glaubt ihr, er könnte sich einen Tag lang halten, wenn er nicht die Unterstützung der Menschen hätte?“
„Na, die Kommunisten haben sich 74 Jahre lang gehalten.“
„Ja, aber wie? Mit Gewalt, mit Spitzelei, mit Angst und Terror. Aber das ist, Gott sei Dank, vorbei. Jetzt hoffen wir nur noch darauf, dass man uns im Ausland respektiert und uns das Recht zubilligt, so zu leben, wie wir es für richtig halten.“


Michael Hesemann in der Tretjakov-Galerie (Foto: Maria Temnova)

HABEN WIR FÜR DIESES RUSSLAND GEBETET?

Ihre Worte machen mich nachdenklich. Ich muss gestehen, dass alles, was ich in diesen sieben Tagen in Russland erlebt habe, nur bestätigt, dass hier tatsächlich die größte Bekehrung in der Menschheitsgeschichte stattgefunden hat – ein Wunder vor unseren Augen, ganz wie es die Gottesmutter in Fatima versprochen hatte. Doch statt Gott dafür zu danken, mäkeln wir an Seinem Geschenk herum. Es stimmt, dass Russland keine westliche Demokratie ist. Aber was sagt uns, dass unsere Lebensform, unser Staatsmodell, unsere Werte das non plus ultra sind? Jahrzehntelang haben wir für die Bekehrung Russlands gebetet. Aber die Bekehrung wozu? Zum Materialismus des Westens, zu einer pluralistischen Gesellschaft mit ihrem Werterelativismus, zu Hedonismus und Homo-„Ehe“? Oder zum Christentum? Das eine ist nicht mit dem anderen zu verwechseln. Jesus hat gelehrt, dass Sein Reich nicht von dieser Welt ist. Die einzig biblisch legitimierte Staatsform ist die Monarchie. Gott hat Saul, David und Salomon zu Königen berufen, nicht zu Ministerpräsidenten. Jesus hat seine Jünger erwählt aber nicht wählen lassen. Es ist schön und gut, dass aus dem christlichen Menschenbild die Idee einer Demokratie geboren wurde, eine Staatsform, die eben deshalb auch nur in christlichen Staaten funktioniert. Aber das heißt nicht, dass das westliche Modell mit seinem Laizismus und Werterelativismus automatisch gottgewollt ist. Es ist fraglich, ob sich ein idealer Staat überhaupt auf Erden realisieren lässt, denn was immer fehlbare Menschen erdenken ist ein Spiegel ihrer selbst und damit ebenfalls fehlbar. Wir sollten daher den Russen das Recht zubilligen, so zu leben und regiert zu werden, wie es ihrer Mentalität entspricht, selbst dann, wenn eine Mischform aus Autokratie und Demokratie dabei herauskommt.

Putin ist clever. Er hat begriffen, dass jenes ideologische Vakuum, das auf den Zusammenbruch des Kommunismus folgte, Russland zerstören würde. Unter Boris Jelzin, der Marionette des Westens, wurden die Schätze des Landes unter skrupellosen Oligarchen aufgeteilt, begann der Ausverkauf Russlands. Ein Land, dessen Präsident sich auf Staatsempfängen wodkaselig blamierte und als Tanzbär auftrat, konnte nicht mehr ernstgenommen werden. Putin ist zugute zu halten, dass er die Würde Russlands wiederherstellte. Und dass er das geistige Vakuum, das der Kommunismus hinterließ, durch eine neue Staatsdoktrin füllte, einen dezidiert christlichen Patriotismus mit den Werten des heiligen Russlands. Nur so konnte das Land seine geistige und politische Eigenständigkeit bewahren und zu neuer Größe aufsteigen. Obwohl ich seine persönliche Bekehrung für gut bezeugt halte, spielt sie letztendlich keine Rolle. Sicher ist, dass Russland sich bekehrt, ja zur einzigen christlichen Großmacht geworden ist. Die neue Christ-Erlöser-Kathedrale ist kein potemkinsches Dorf, kein Täuschungsmanöver für den Westen, sondern das Gegenteil: eine christliche Trutzburg gegen das, was den Russen als „westliche Werte“ verkauft werden sollte. Kein Wunder, dass die Punkband mit dem obszönen Namen „Pussy Riot“ sich ausgerechnet ihr Allerheiligstes als Schauplatz für ihr blasphemisches und sakrilegisches Spektakel wählte.

Kann dieses neue Russland einem Christen gleichgültig sein? Mitnichten, denn es zeigt, dass Gott noch immer in der Geschichte wirkt. Das Versprechen der Gottesmutter ist wahr geworden. Jetzt ist abzuwarten, wie weit dieses Land seiner heilsgeschichtlichen Mission nachkommt, ob es den Segen verdient, der offensichtlich auf ihm liegt.

So fahre ich nachdenklich durch die Nacht an jenem 17. Oktober 2016, meinem letzten Tag in Russland. Kurz vor Mitternacht würde meine Maschine nach Armenien abheben. In meinem Taxi dudelt Schlagermusik, so herzzerreißend sentimental, wie nur Russen sie komponieren können. Die Internetgekoppelte Navigation meines Fahrers zeigt zuverlässig an, wo uns ein Stau erwartet. Gigantische Hochhäuser und bunt leuchtende Einkaufszentren säumen die Straßen. Es ist noch nicht alles auf Hochglanz geputzt, aber vieles. Den Menschen scheint es, trotz aller wirtschaftlichen Rückschläge, gut zu gehen. Trotzig vereinen sie sich in einer geistigen Wagenburg und scharen sich um ihren Präsidenten, den vor allem jene hassen, die sich ein kleinlautes, angepasstes Russland wünschen. Doch warum soll ein Land, das der Welt so viel zu geben hat, schweigen, statt seinen Glauben mit den Menschen zu teilen?

Plötzlich bemerke ich eine türkisfarbene Heftzwecke gleich vor der Windschutzscheibe meines Taxis. Sie hält eine kleine Ikone fest, die ein messingfarbener Rahmen umgibt. Als ich genauer hinsehe, erkenne ich, dass es die Gottesmutter von Kazan ist, die mir hier einen letzten Gruß und ihren Segen sendet.