Das größte Wunder unserer Zeit
Michael Hesemann über Fatima
Fatima ist ein Dorf im bergigen Norden Portugals, benannt nach einer maurischen Prinzessin, die ihren Namen wiederum der Lieblingstochter Muhammads verdankte. Wir schreiben das Jahr 1917, das der Welt die Oktoberrevolution in Russland brachte; zugleich aber auch den 400. Jahrestag der Veröffentlichung von Martin Luthers Thesen und den 200. Geburtstag der Großloge von London und damit der modernen Freimaurerei. In Europa tobte der Erste Weltkrieg, der durch den Kriegseintritt der USA eine Wende nahm. Doch von all diesen Umständen wussten die drei Hirtenkindern Lucia dos Santos (10), Jacinta (7) und Francisco Marto (8) nichts, die für ihre Eltern auf den Weiden bei Fatima die Schafe hüteten. Sie waren alle drei fromm, aber Analphabeten. Dass ihnen in den letzten zwei Jahren drei Mal ein Engel erschienen und sie ein tiefgründiges (und für sie inhaltlich kaum verständliches) Gebet gelehrt hatte, wollten sie für sich behalten. Der Rosenkranz jedenfalls war immer dabei, wenn sie früh morgens die Herden durch das Dorf trieben.
Am Sonntag, dem 13. Mai 1917, hatten sie zunächst die Sonntagsmesse besucht, bevor sich Lucia, begleitet von Jacinta und Francisco, wieder ihrer Aufgabe zuwandte. Ihr Ziel war die Cova da Iria, eine von Hängen umgebene, natürliche Mulde, die ihren Eltern gehörte. Dort angekommen, packten die Kinder ihre Esspakete aus, beteten ihr Tischgebet und bauten kleine Spielhäuser aus Erde und Stein. Jäh unterbrach ein grell aufleuchtendes Licht ihr unbekümmertes Spiel. War das ein Blitz, zog ein Gewitter auf, dann mussten sie sich unverzüglich auf den Heimweg machen. Doch am stahlblauen Himmel war kein Wölkchen zu sehen. Die Luft schien zu stehen, alles war ruhig. Erst ein zweiter Lichtblitz ließ alle drei unverzüglich nach rechts blicken. „Über einer Steineiche schwebte eine Dame, ganz in weiß gekleidet“, erklärte Lucia später. „Sie strahlte heller als die Sonne.“ Von den Händen, die sie vor der Brust gefaltet hielt, hing ein Rosenkranz herab. „Habt keine Angst, ich tue euch nichts zuleide“, sprach sie mit sanfter Stimme zu den Kindern, „ich komme vom Himmel.“ Jetzt wagte Lucia, die Älteste, sie anzusprechen: „Und was willst du hier in der Welt?“ „Ich bin gekommen, euch zu bitten, dass ihr in den folgenden sechs Monaten, jeweils am Dreizehnten, zur selben Stunde hierher kommt“, erklärte ihr die „Dame“, „Dann werde ich euch sagen, wer ich bin und was ich will.“ Sie fragte die Kinder noch, ob sie bereit seien, Sühne zu tun für die Sünder der Welt und schenkte ihnen, als sie begeistert zustimmten, ein Lächeln. Dann öffnete sie ihre Hände und offenbarte ihnen ein Licht, das tief ins Innerste der Kinderseelen eindrang. „Und wir erkannten uns selber in Gott, der dieses Licht war“, schrieb Lucia später. Instinktiv fielen die Kinder auf die Knie und begannen, zu beten, als die „Dame“ sich langsam erhob und in östliche Richtung verschwand. „Betet täglich den Rosenkranz, um den Frieden der Welt und das Ende des Krieges zu erlangen“, waren ihre letzten Worte an die Kinder gewesen. Lucia, Jacinta und Francisco gehorchten. Anders als die kleine Bernadette Soubirous aus Lourdes wussten sie, und bekamen es später von ihren Eltern bestätigt, dass diese wunderschöne Frau nur die Gottesmutter gewesen sein konnte.
Gleich bei der nächsten Erscheinung, am 13. Juni 1917, übermittelte Maria den Kindern eine Prophezeiung. Jacinta und Francisco würde sie bald in den Himmel holen, nur Lucia müsse „noch einige Zeit“ auf der Erde bleiben. Tatsächlich starben die beiden Marto-Kinder, die sich nichts sehnlicher gewünscht hatten, als mit der Gottesmutter im Himmel vereint zu sein, 1919 (Francisco) und 1920 (Jacinta) an der Spanischen Grippe, an der sie 1918 erkrankt waren. Lucia dagegen erlebte noch das neue Jahrtausend; sie verstarb am 13. Februar 2005 im Alter von 97 Jahren. Die Seligsprechung ihrer Gefährten durch Papst Johannes Paul II. am 13. Mai 2000 hatte sie noch vor Ort miterleben können; am 13. Februar 2008 erklärte Papst Benedikt XVI. ihren eigenen Seligsprechungsprozess für eröffnet.
Die drei Geheimnisse
Doch diese „kleine“ Prophezeiung war nur ein Vorgeschmack auf die Offenbarung dreier „Geheimnisse“, die von der Gottesmutter für die nächste Begegnung am 13. Juli angekündigt worden war. Keines dieser Geheimnisse durften damals direkt den Menschen mitgeteilt werden, obwohl sich bereits 2000 bis 3000 Schaulustige und Gläubige an der alten Steineiche versammelt hatten, hatte sich doch die Kunde von der Erscheinungen längst im Dorf und seinem Umland herumgesprochen. Erst 1927, nach ihrem Eintritt in ein Kloster, schrieb Lucia die drei Geheimnisse erstmals auf, um sie bald darauf auf Anraten ihres Seelsorgers wieder zu verbrennen. 1941 schließlich forderte sie der Bischof von Leiria zur Niederschrift ihrer Erinnerungen an die Erscheinungen und damit auch des ersten und zweiten Geheimnisses auf. Ein Jahr später, am 13. Mai 1942, wurden sie veröffentlicht. Das dritte Geheimnis dagegen, so glaubte sie, durfte zu diesem Zeitpunkt noch nicht offenbart werden. Erst als sie 1943 schwer erkrankte, drängte man sie von allen Seiten, es doch endlich zu Papier zu bringen. Nach einer Vision der Gottesmutter willigte sie ein und übergab den versiegelten Umschlag ihrem Bischof. Sie wies aber darauf hin, dass er nicht vor dem Jahr 1960 geöffnet werden sollte. Anfang 1957 forderte das Heilige Offizium, die heutige Glaubenslehrekongregation in Rom, die Niederschrift an. Papst Pius XII. hielt sie in einem kleinen, hölzernen Safe auf seinem Schreibtisch verschlossen, doch er erlebte das Jahr 1960 nicht mehr. Johannes XXIII. und Paul VI. lasen das Dritte Geheimnis, entschieden sich aber gegen eine Veröffentlichung. Johannes Paul II. las es nur Wochen nach dem Papstattentat vom 13. Mai 1981, ausgerechnet am 64. Jahrestag der Erscheinungen. Doch erst zum „Heiligen Jahr“ 2000 erlaubte er dem damaligen Präfekten der Glaubenslehrekongregation, Joseph Kardinal Ratzinger, seine Veröffentlichung. Er war überzeugt, dass es in symbolischer Sprache den Weg der Kirche durch das von Kriegen und Diktaturen gepeinigte 20. Jahrhundert beschrieb, gipfelnd in einem teuflischen Anschlag auf das Leben des Papstes.
So geheimnisvoll und apokalyptisch diese Vision auch war, so furchterregend auch das erste Geheimnis, eine Vision der Hölle, so kristallklar erscheinen die Worte des zweiten Geheimnisses. Lucia hat es, wie gesagt, nachweisbar schon 1941 niedergeschrieben:
„Der Krieg wird ein Ende nehmen. Wenn man aber nicht aufhört, Gott zu beleidigen, wird unter dem Pontifikat von Papst Pius XI. ein anderer, schlimmerer beginnen. Wenn ihr eine Nacht von einem unbekannten Licht erhellt seht, dann wisst, dass dies das große Zeichen ist, das Gott euch gibt, dass Er die Welt für ihre Missetaten durch Krieg, Hungersnot, Verfolgungen der Kirche und des Heiligen Vaters bestrafen wird. Um das zu verhüten, werde ich kommen, um die Weihe Russlands an mein unbeflecktes Herz und die Sühnekommunion an den ersten Samstagen des Monats zu verlangen. Wenn man auf meine Wünsche hört, wird Russland sich bekehren und es wird Friede sein. Wenn nicht, wird es seine Irrlehren über die Welt verbreiten, wird Kriege und Kirchenverfolgungen heraufbeschwören. Die Guten werden gemartert werden, der Heilige Vater wird viel zu leiden haben, verschiedene Nationen werden vernichtet werden, am Ende aber wird mein Unbeflecktes Herz triumphieren. Der Heilige Vater wird mir Russland weihen, das sich bekehren wird, und der Welt wird eine Zeit des Friedens geschenkt werden."
Das Himmelszeichen, auf das sich die Botschaft bezog, hat es tatsächlich gegeben. Am Abend des 25. Januars 1938, also im Pontifikat Pius XI., färbte sich der Himmel über Europa blutrot. In vielen großen Städten heulten die Sirenen, weil Bürger glaubten, ein Feuer sei ausgebrochen. In der gesamten Alpenregion schien es, als sei die Morgendämmerung vorverlegt worden, so tiefrot glühte der Horizont. Bis hinunter nach Italien, Spanien und Portugal, ja sogar in Gibraltar, auf Sizilien und in Nordafrika wurde das Phänomen beobachtet, das später von der Wissenschaft als gigantische Aurora borealis erklärt wurde, als Nordlicht von historischen Dimensionen. Zu den unzähligen Zeugen des kosmischen Schauspiels gehörten auch die Nonnen des Klosters von Tuy in Spanien, in das Lucia eingetreten war. Gleich am nächsten Tag setzte sie sich hin und schrieb einen längeren Brief an ihren Bischof, die Provinzoberin und ihren Beichtvater, in denen sie erklärte, Gott habe dieses Zeichen benutzt, „um der Menschheit anzukündigen, dass Seine Gerechtigkeit bald die schuldigen Nationen treffen sollte“; es war ihr 21 Jahre zuvor von der Gottesmutter angekündigt worden. Nur durch diesen Umstand können wir sicher sein, dass auch die Erwähnung des „unbekannten Lichtes“ kein „vaticinium ex eventu“, keine vordatierte Pseudo-Prophezeiung war. Etwa zeitgleich mit dem Himmelszeichen hatte Adolf Hitler in der Reichskanzlei in Berlin beschlossen, alles für den Einmarsch in Österreich vorzubereiten. Am 12. März 1938 überschritten deutsche Truppen zum ersten Mal seit dem Ende des Ersten Weltkriegs wieder eine Grenze. Zweieinhalb Monate später folgte die Besetzung Tschechiens, am 1. September 1939 der Angriff auf Polen, der zur Kriegserklärung der Westmächte führte. Noch 1941, als Lucia das zweite Geheimnis niederschrieb, ja selbst im Mai 1942, zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung, erschienen Hitlers Truppen unbesiegbar. Erst die Niederlage von el-Alamein im Oktober 1942, gefolgt von der Einkesselung der 6. Armee vor Stalingrad im November 1942, wendeten das Blatt. Fortan war Stalin auf dem Vormarsch. Bei Kriegsende hatte die Sowjetunion zwölf vor dem Krieg unabhängige europäische Staaten besetzt: Polen, Ostdeutschland (DDR), Tschechien, Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Albanien, Jugoslawien, Litauen, Lettland und Estland. Eine massive Unterdrückung des kirchlichen Lebens bis hin zur offenen Verfolgung unbequemer Christen war in ihnen allen die Folge. Die baltischen Staaten und die Slowakei verloren darüber hinaus jede staatliche Souveränität und wurden zwangsweise in die Sowjetunion bzw. die Tschechoslowakei eingegliedert.
Der Fatima-Papst
Erst mit Johannes Paul II., dem Mann der Vorsehung, erfüllte sich der zweite Teil der Prophezeiung. Dass der Türke Mehmet Ali Agca ausgerechnet am Fatima-Tag, dem 13. Mai 1981, zwischen 17.17 und 17.19 Uhr ein Attentat auf den Wojtyla-Papst verübte, war für ihn kein Zufall. Es war ein Wunder der Gottesmutter, dass er überlebt hatte. Von den drei Kugeln, die an diesem Nachmittag abgefeuert wurden, trafen zwei den Polen. Die erste war in seinen Unterleib eingedrungen, hatte den Dickdarm durchbohrt und den Dünndarm an mehreren Stellen verletzte, bevor sie in den Papst-Jeep gefallen war. Die zweite, die offenbar die Halsschlagader treffen sollte, hatte zuerst seinen rechten Ellenbogen gestreift und den Zeigefinger seiner rechten Hand gebrochen, bevor sie zwei amerikanische Pilgerinnen verletzte. Mit schmerzverzerrten Gesicht, mit einem Gebet an die Gottesmutter auf den Lippen („Jesus, Maria, meine Mutter“), brachte ihn sein Fahrer zur nächstgelegenen Ambulanzstation, von wo aus er in die Gemelli-Klinik gefahren wurde. Kaum war er dort eingetroffen, verlor er bereits das Bewusstsein. Die Ärzte, die ihn operierten, gestanden später, dass sie nicht daran geglaubt hätten, dass er überleben würde. Sie baten seinen Sekretär, Msgr. (heute Kardinal) Stanislaus Dziwisz, ihm die Krankensalbung zu spenden. Die Operation dauerte fast fünfeinhalb Stunden. Zwar mussten 25 Zentimeter seines Darms entfernt werden, doch die Ärzte konnten aufatmen. Kein lebenswichtiges Organ oder die Wirbelsäule waren betroffen.
„Warum sind Sie nicht gestorben?“, fragte der Attentäter Ali Agca immer wieder, als Johannes Paul II. ihn am 27. Dezember 1983 in seiner kahlen Zelle im Gefängnis von Rebibbia besuchte: „Ich weiß, dass ich richtig gezielt habe. Ich weiß, dass es ein zerstörerisches, todbringendes Geschoss war. Warum sind Sie denn nicht gestorben?“ Ein Zeuge dieser Begegnung war der heutige Kardinal Stanislaus Dziwisz, damals der persönliche Sekretär des polnischen Papstes. Er notierte später in seinen Erinnerungen: „Mein Eindruck war der (…), dass Ali Agca in Angst war. Er hatte Angst vor der Tatsache, dass da Kräfte am Werk gewesen waren, die stärker waren als er. Ja, er hatte wirklich genau gezielt, aber das Opfer lebte. Er war deshalb wegen der Existenz solcher Kräfte verängstigt, zumal er auch entdeckt hatte, dass es nicht nur eine Fatima gab, die Tochter Mohammeds war, sondern auch jene Frau, die er ‚Göttin von Fatima‘ nannte. Er fürchtete, wie er selbst berichtet hat, dass diese so mächtige Göttin ihm zürnen und ihn vernichten würde. Das ganze Gespräch drehte sich nur um dieses Thema.“
Tatsächlich war Johannes Paul II. zu diesem Zeitpunkt längst zu der Einsicht gelangt, dass es kein Zufall war, dass er noch lebte, und dass sich das Attentat ausgerechnet am 13. Mai ereignet hatte. Immer sicherer galt es ihm, dass es eine Vorsehung gibt, eine „mütterliche Hand“ (mano materna), die einen so treffsicheren Schützen, ja einen professionellen Killer wie Ali Agca, sein Ziel verfehlen ließ, ja die Kugel an ihm vorbei gelenkt hatte.
Als er sich schließlich am 18. Juli 1981 von Franjo Kardinal Seper, dem damaligen Präfekten der Glaubenslehrekongregation (und Amtsvorgänger Joseph Kardinal Ratzingers) die Fatima-Akte aus dem Archiv holen und ins Krankenhaus bringen ließ, wo er sich gerade eines zweiten Eingriffs unterzog, da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Denn als er die beiden versiegelten Umschläge, den Originaltext von Schwester Lucia in portugiesischer Sprache und die italienische Übersetzung, öffnete, da erkannte er sich wieder in der Vision der Kinder:
„Und wir sahen in einem ungeheuren Licht, das Gott ist: ‚etwas, das aussieht wie Personen in einem Spiegel, wenn sie davor vorübergehen‘ und einen in Weiß gekleideten Bischof – ‚wir hatten die Ahnung, dass es der Heilige Vater war‘. Wir sahen verschiedene andere Bischöfe, Priester, Ordensmänner und Ordensfrauen einen steilen Berg hinaufsteigen, auf dessen Gipfel sich ein großes Kreuz befand aus rohen Stämmen wie aus Korkeiche mit Rinde. Bevor er dort ankam, ging der Heilige Vater durch eine große Stadt, die halb zerstört war und halb zitternd mit wankendem Schritt, von Schmerz und Sorge gedrückt, betete er für die Seelen der Leichen, denen er auf seinem Weg begegnete. Am Berg angekommen, kniete er zu Füßen des großen Kreuzes nieder. Da wurde er von einer Gruppe von Soldaten getötet, die mit Feuerwaffen und Pfeilen auf ihn schossen.“
Während die Welt noch rätselte, wer hinter dem Attentat stand – der KGB, ein verrückter Einzeltäter oder islamistische Extremisten – ließ Johannes Paul II. diese Frage völlig gleichgültig: „Das interessiert mich nicht, denn es ist der Teufel gewesen, der das getan hatte“, erklärte er später, „der Teufel kann auf tausend verschiedene Arten Verschwörungen anzetteln, und ich habe an keiner dieser Methoden das geringste Interesse.“ Viel mehr wollte er wissen, was Gott ihm mit diesem Zeichen, mit seiner Rettung vor dem sicheren Tod, denn sagen wollte. Und schließlich fand er seine Antwort. Die Vision der Kinder, so war er sicher, spiegelte auch seinen persönlichen Lebensweg wider, die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und die Greuel des Holocaust, die er erlebt hatte, die Expansion des Kommunismus und den Krieg der gottlosen Ideologien gegen die Kirche und den christlichen Glauben. Doch in der gleichen Botschaft, so deutete er den Text, zeigte die Gottesmutter den Ausweg aus der Krise auf: „Der Heilige Vater wird mir Russland weihen, das sich bekehren wird, und der Welt wird eine Zeit des Friedens geschenkt werden.“
Die Weltweihe
Am Jahrestag des Attentates, dem 13. Mai 1982, reiste der polnische Papst zum ersten Mal nach Fatima, um der Gottesmutter für seine Errettung zu danken. Schon vorher hatte er die Kugel, die seinen Körper durchdrungen hatte, in die Krone der Gnadenstatue des Erscheinungsortes einarbeiten lassen. Als er in einer feierlichen Zeremonie die ganze Welt der Gottesmutter weihen wollte, korrigierte ihn Schwester Lucia, die eigens zu diesem Anlass ihr Klausurkloster in Coimbra verlassen durfte: Das müsse schon in Einklang mit der gesamten Weltkirche geschehen, so hatte es ihr Maria in einer späteren Vision offenbart.
Also bereitete Papst Johannes Paul II. jetzt diesen Weiheakt vor. Am 8. Dezember 1983 schickte er Briefe an alle Bischöfe der Weltkirche, einschließlich jene der orthodoxen Kirchen, in denen er sie dazu einlud, mit ihm gemeinsam am Festtag Mariä Verkündigung, dem 25. März 1984, eine Weihe der Welt an das Unbefleckte Herz Mariens zu vollziehen. Zu diesem Zweck ließ er eigens das Gnadenbild von Fatima nach Rom einfliegen, wo es die Nacht in seiner Privatkapelle verbrachte. Am nächsten Morgen wurde die Statue vor dem Petersdom aufgestellt, wo Johannes Paul II. zum Abschluss eines fast zweistündigen Pontifikalamtes die Weiheformel sprach. Zeitgleich vollzogen Hunderte Bischöfe in aller Welt mit ihren Gemeinden denselben Ritus. „Vom Atomkrieg, von unberechenbarer Selbstzerstörung, von jeder Art des Krieges, bewahre uns!“, betete er anschließend. „Ist Russland jetzt geweiht?“, ließ er über seinen Apostolischen Nuntius bei Schwester Lucia nachfragen. Sie bejahte. „Jetzt warten wir auf das Wunder“, meinte der Nuntius. „Gott wird sein Wort halten“, versprach sie.
Gott hielt sein Wort. Nicht einmal ein Jahr nach der Weltweihe, am 11. März 1985, wurde Michail Gorbatschow neuer Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU). Er kündigte an, dass fortan ein neuer Wund in Rußland wehen würde, sprach von „Glasnost“, Offenheit, und „Perestroika“, Umgestaltung. Bereits im Dezember 1985 traf er US-Präsident Ronald Reagan, der noch zwei Jahre zuvor die UdSSR als „Reich des Bösen“ bezeichnet hatte, in Genf. Es sollte das erste von insgesamt acht Gipfeltreffen sein, auf denen eine breit angelegte nukleare und konventionelle Abrüstung beschlossen wurde. Plötzlich war von „Entspannung“ im bislang so angespannten Verhältnis der beiden Machtblöcke zueinander die Rede, kündigte ein Tauwetter das Ende der politischen Eiszeit und den nahenden Frühling an.
Jetzt schöpften auch die Landsleute des polnischen Papstes, deren Gewerkschaftsbewegung „Solidarnosc“ bislang unterdrückt worden war, neue Hoffnung. Die dritte Polenreise Johannes Pauls II. 1987 stand im Zeichen des wieder gewonnenen Optimismus. Und noch einmal setzte der Papst auf Maria, als er das Jahr 1987/88, angesetzt als 2000-Jahrfeier der Geburt der Gottesmutter, zum „Marianischen Jahr“ erklärte. Durch Satellitenschaltungen mit Hunderttausenden von Pilgern in 16 Marienheiligtümern der Welt verbunden, live übertragen in 22 Länder, eröffnete Johannes Paul II. die Feierlichkeiten mit einem Rosenkranzgebet in der römischen Basilika S. Maria Maggiore. Dann vertraute er der „Mutter der Christen“ „in besonderer Weise die Völker an, die ihren … tausendsten Jahrestag ihrer Bindung an das Evangelium feiern“ – gemeint waren Russland und die Ukraine, deren Christen in diesem Jahr der Taufe der Kiewer Rus im Jahre 988 gedachten. Auch der neue Generalsekretär würdigte dieses Jubiläum. So bat Michail Gorbatschow den russisch-orthodoxen Patriarchen von Moskau und fünf Metropoliten (Erzbischöfe) zu sich in den Kreml, um ihnen die Verabschiedung eines neuen Gesetzes anzukündigen, das erstmals in der Sowjetunion die Religionsfreiheit garantierte. Endlich durften im ganzen Land wieder Kirchenglocken läuten, was unter den Kommunisten bislang verboten war. Über 4000 bislang zwangsweise geschlossene Kirchen durften wieder zu religiösen Zwecken genutzt werden. Auch das berühmte Kiewer Höhlenkloster und andere bedeutende Klöster im ganzen Land gab Gorbatschow der Kirche zurück. Zur Tausendjahrfeier der Bekehrung Russlands wurde sogar eine hochrangige Vatikan-Delegation eingeladen. Als ein Jahr später die Menschen erst in Polen, dann in Ungarn, der DDR, der Tschechoslowakei, Bulgarien und Rumänien auf die Straße gingen, um gegen die kommunistischen Machthaber zu demonstrieren, war es Gorbatschow, der entschied, sie gewähren zu lassen. Die Folge war, dass die Mauer fiel, die bislang nicht nur die beiden deutschen Staaten, sondern ganz Europa geteilt hatte. Am 1. Dezember 1989 besuchte der Russe als erster Generalsekretär der KPdSU den Papst. „Ich bin fest davon überzeugt, dass unsere Begegnung von der göttlichen Vorsehung vorbereitet wurde“, begrüßte ihn Johannes Paul II. So pilgerte er noch einmal am 13. Mai 1991 nach Fatima, um der Madonna zu danken, „dass Du Völker in die Freiheit geführt hast“. Dieses Mal nahm auch der russische Botschafter an der Zeremonie teil, als der Papst seine Weltweihe, „die söhnliche Anvertrauung der menschlichen Rasse an Dich“, wiederholte. Noch ehe das Jahr zuende ging, war die Sowjetunion Geschichte.
Wolkenformation über Fatima, 30.12.2012
Das größte Wunder unserer Zeit
In den folgenden beiden Jahrzehnten, ja bis auf den heutigen Tag, erlebte Russland eine beispiellose Renaissance des Glaubens, eine Wiedererweckung seiner Kirche, eine Rechristianisierung in unglaublichen Dimensionen. Schon 1990 zog die erste Prozession seit der Machtergreifung der Kommunisten durch Moskaus Straßen. Seitdem finden Taufen und kirchliche Hochzeitsfeiern wieder in aller Öffentlichkeit statt, Ostern und Weihnachten wurden zu arbeitsfreien Feiertagen erklärt, nationale Heilige aus der Vergessenheit geholt und in vom landesweiten Fernsehen übertragenen Festgottesdiensten geehrt. Vertreter der Kirche nahmen wieder am öffentlichen Leben teil. Auch eigene Kindergärten und Schulen durfte die russisch-orthodoxe Kirche wieder unterhalten.
Was dann auf den Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 folgte, ist vielleicht das größte Wunder unserer Zeit. Die Zahlen jedenfalls sprechen eine deutliche Sprache. Während die Zahl der praktizierenden Christen im Westen abnahm (die der Katholiken im wiedervereinigten Deutschland etwa schrumpfte von 28,2 Millionen in 1991 auf 24,4 Millionen in 2011), verdoppelte sie sich in Russland von unter 50 Millionen (1990) auf über 113 Millionen (2012). Bei einer Umfrage im Jahr 2000 bezeichneten sich 82 % der Russen als „orthodoxe Christen“. Die Zahl der Gemeinden stieg (von 1990 bis 2011) von 3451 auf 30.142, die der Diözesen von 38 auf 160, die der Klöster von 18 auf 788, die der theologischen Lehrstühle von 5 auf 200. Die orthodoxe Kirche hat im neuen Russland eine unüberhörbare Stimme, ja sie formte die neue Identität des Landes und verlieh ihm die Kraft, seinen eigenen Weg zu gehen und nicht allen Versuchungen des materialistischen Westens zu erliegen. Gewiss kann man von einer „Bekehrung Russlands“ sprechen, ganz wie es die Gottesmutter in Fatima prophezeit hatte. Der Welt wurde, trotz regionaler Konflikte, eine „Zeit des Friedens“ geschenkt. Seit der Ära Gorbatschow gehört das Schreckensszenario eines Atomkrieges zwischen West und Ost der Vergangenheit an, ebenso das Wettrüsten der Blöcke. In Europa herrscht Frieden, sind nahezu alle Grenzen offen, lässt sich fast in die meisten Länder ungehindert reisen. Das Versprechen von Fatima hat sich erfüllt.
Keiner sah das so klar wie der Mann der Vorsehung, Papst Johannes Paul II. So vertraute er dem italienischen Journalisten Vittorio Messori, der das Interviewbuch „Die Schwelle der Hoffnung überschreiten“ herausgab, als sein ganz persönliches Resümee der Ereignisse an:
„Und was ist über die drei portugiesischen Kinder aus Fatima zu sagen, die unerwartet und kurz vor dem Ausbruch der Oktoberrevolution hörten: ‚Russland wird umkehren’ und ‚Am Ende wird mein Herz triumphieren’...? Sie könnten derartige Aussagen unmöglich erfunden haben. Sie kannten sich weder in der Geschichte noch in der Geographie aus, und noch weniger wussten sie über Sozialbewegungen oder Ideologieentwicklung. Und doch ist genau das eingetreten, was sie angekündigt hatten. Vielleicht ist der Papst auch aus diesem Grund aus einem ‚fernen Land’ gerufen worden; vielleicht hat das Attentat auf dem Petersplatz gerade am 13. Mai 1981, dem Jahrestag der ersten Erscheinung von Fatima, stattfinden müssen, damit alles durchsichtiger und verständlicher würde, damit die Stimme Gottes, die in die Menschengeschichte in ‚Zeichen der Zeit’ spricht, einfacher zu hören und zu verstehen sein würde.“
Warten wir ab, welches Wunder geschieht, wenn Papst Franziskus am heutigen Sonntag erneut die sturmumpeitschte Welt dem Unbefleckten Herzen Mariens weiht.
Michael Hesemann in Fatima