Michael Hesemann, Historiker und Autor
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Die christlichen Grundlagen Europas
 


Hochwürdige Herren,
Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Das Thema meines heutigen Vortrages am Bonifatiustag ist kein einfaches, da sich unser Kontinent in der schwersten Identitätskrise seit 1700 Jahren befindet. Europa weiß nicht mehr, wer oder was es ist, was sein Erbe, was sein Auftrag und was seine Zukunft sind. Es will einerseits Teil von Amerika, auf jeden Fall des angloamerikanischen Westens und seiner Werte sein, gleichzeitig aber den Islam integrieren, also eine vorderasiatische Wüstenreligion und dabei noch offen sein für immer mehr Zuwanderung aus Afrika und dem Nahen Osten. Das an sich schon ist ein Spagat, der nur schwer gelingen kann. Dabei wird dann schnell vergessen, dass Europa weder das eine noch das andere ist, weder Nordamerika noch Vorderasien, dass es eine eigene Kultur, ein eigenes Erbe, ja eine einmalige Identität hat, die sich eben nicht im Einheitsbrei des Globalismus zerstampfen und verrühren lässt, auch wenn sie gern als lästiges Relikt der Vergangenheit abgetan wird. Wer dann an dieser europäischen Identität, dem kulturellen und geistigen Erbe unseres Kontinentes, hängt, dem wird schnell vorgeworfen, er sei Nationalist, auf jeden Fall ein Rechter, obwohl es gar nicht um eine Nation, sondern um einen Kulturraum geht. Staaten, die sich dem Globalismus widersetzen, ob nun Polen, Ungarn, Russland oder auch nun Österreich, fallen ebenso in Ungnade wie Skeptiker, die nun mal nicht den Islam für einen Teil von Deutschland halten, einfach weil er in der tausendjährigen Geschichte unseres Landes nie eine zivilisatorische oder kulturprägende Rolle gespielt hat. Man muss kein Islamkritiker und auch kein Historiker zu sein, es genügt historisches Abiturwissen, um zu bestätigen, dass kein einziges Wahrzeichen unseres Landes eine Moschee, kein einziges Kunstwerk unserer Geschichte ein Islamisches, kein einziger unserer Dichter und Denker, Erfinder und Entdecker, Wissenschaftler und Staatsmänner, Maler und Komponisten ein Moslem war. Das ist keine Beleidigung des Islam, Gott bewahre, sondern eine reine Tatsache. Es war auch kein Chinese und kein Indianer darunter. Es wertet auch niemanden ab. Natürlich sind die Muslime ein Teil von Deutschland, natürlich wird der Islam in der Zukunft unseres Landes eine immer größere Rolle spielen. Was nicht war, das kann ja noch kommen. Aber heute zu behaupten, der Islam – nicht etwa 7 Millionen Moslems, von denen viele sich wunderbar integriert haben, sondern eben eine vorderasiatische Wüstenreligion – sei ein Teil der Geschichte, Kultur und Identität unseres tausendjährigen Landes und seiner zweitausendjährigen Kultur, das ist Geschichtsklitterei. Deutschland, nein ganz Europa hat christliche Wurzeln, es hat auch heidnisch-antike Wurzeln, aber eben keine islamischen. Aber es ist auch ein deutliches Symptom für die eben diagnostizierte Identitätskrise des modernen Europa. Wir wissen nicht mehr, vielleicht wollen wir auch nicht mehr wissen, wer wir sind und was ein Teil unserer historischen Prägung ist.

Ebenso absurd wie der Streit um die Frage nach der islamischen Identität unseres Landes war der Kreuzesstreit, der im letzten Monat selbst innerhalb der katholischen Kirche für heftige Kontroversen sorgte. Am 24. April 2018 hatte der neue bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) angeordnet, dass im Eingangsbereich aller bayerischen Dienstgebäude ab dem 1. Juni ein Kreuz zu hängen habe. Dabei solle es nicht als religiöses Symbol dienen, sondern als „Bekenntnis zur Identität“ und „kulturellen Prägung“ Bayerns. Als ich diese Begründung erstmals las, dachte ich mir: „Hund sand’s schoa“ – clever, diese Bayern! Denn natürlich hat auch Bayern keine Staatsreligion, gilt auch dort die Trennung von Staat und Kirche, darf der Staat gemäß unserer Verfassung keine Religionsgemeinschaft bevorzugen, doch gerade diese juristische Hürde hatte Söder mit seiner Begründung clever umschifft. Und recht hatte er! Denn natürlich ist das Kreuz wie kein anderes ein Symbol unserer Werte und unserer Identität, ja für die Geburtsstunde unserer christlich-abendländischen Zivilisation.

Erinnern wir uns: Am 27. Oktober 312 siegte Konstantin der Große in der Schlacht am Ponte Milvio über den Christenverfolger Maxentius, der von Rom aus herrschte. Damit endete zumindest im Westen die Ära der Christenverfolgungen. Mit dem sogenannten Toleranzedikt von Mailand vom 13. Juni 313 wurde das Christentum offiziell im Osten wie im Westen des Reiches zur „religio licita“, zu einer legalen, vom Staat geschützten Religion: die „Mailänder Vereinbarung“ – wie man sie heute unter Historikern nennt - garantierte jedem römischen Bürger die freie Wahl seines Glaubens und seiner Religionsausübung. Alle in den Zeiten der Verfolgung beschlagnahmten Güter wurden den Christen nun zurückerstattet. Zwölf Jahre später, er hatte mittlerweile auch den Osten des Reiches unter seine Herrschaft gebracht, versammelte Konstantin der Große die christlichen Bischöfe zum Konzil von Nicäa, um das Bekenntnis dieses christlichen Glaubens verbindlich zu definieren.

Damit endete für die Kirche die Zeit der Verfolgung, die gerade unter Konstantins Vorgänger Diokletian mit zehntausenden von Märtyrern ihren blutigen Höhepunkt erreicht hatte, die Zeit im Untergrund. Sie wurde Teil der Gesellschaft. Schon vorher hatte sie ihre Anhänger aus allen Schichten der römischen Bevölkerung gewonnen, jetzt aber konnten Christen offen auftreten, ohne dass sie das Martyrium erwartete, konnten die Gesellschaft prägen und sie verändern. Mit Erfolg: Noch bevor das 4. Jahrhundert zuende ging, war das Christentum Staatsreligion im römischen Reich, war die Kirche stark genug, den Kaiser zu maßregeln – wie es Bischof Ambrosius von Mailand mit Kaiser Theodosius tat –, war das christliche Abendland geschaffen.
Nun kann man dem ersten christlichen Kaiser, der sich erst auf dem Sterbebett taufen ließ, gerne menschlich vorwerfen, was man will, und er war gewiss, ähnlich wie Söder, auch ein Machtmensch und kein lupenreiner Heiliger, auch wenn die Ostkirche ihn als einen solchen verehrt. Doch der Mann, der die Weichen hin zum Durchbruch des Christentums im Imperium Romanum stellte, war nun mal Konstantin der Große! Und das Ereignis, das ihn dorthin trieb, das die Wende in seinem Leben markierte, das fand in den Tagen vor der Schlacht an der Milvischen Brücke statt, irgendwann im Oktober des Jahres 312. Da nämlich hatte der Kaiser auf dem Marsch nach Rom eine Vision, wie uns sein Biograf und Zeitgenosse, Bischof Eusebius von Caesarea, überlieferte und sich dabei auf das persönliche Zeugnis des Kaisers berief. Laktanz, der Lehrer seiner Söhne, bestätigte die Vision zudem in seiner Konstantin-Biografie: Zuerst sah der Kaiser am Himmel das Zeichen des Kreuzes, dann, in der darauffolgenden Nacht, erschien ihm im Traum Christus, der ihm auftrug, dieses zu seiner Standarte zu machen und auf die Schilde seiner Soldaten malen zu lassen. „In hoc signo vinces“ – „In diesem Zeichen sollst du siegen!“ lautete das göttliche Versprechen, das dann mit dem Sieg über Maxentius auch wahr wurde.
Dabei ist von sekundärer Bedeutung, ob er tatsächlich das Kreuz, das Staurogramm oder das Christusmonogramm Chi-Rho zu seinem Feldzeichen machte, das immerhin einem liegenden Kreuz zu Füßen des stehenden „Rho“ gleicht, aber auch, nun lateinisch gelesen, an das Wort „PAX“=Frieden erinnert. Denn spätestens 13 Jahre später, als Konstantins Mutter Helena nach Jerusalem aufbrach und bei den Bauarbeiten zur Grabeskirche das Wahre Kreuz des Herrn entdeckte, war die „Rivalität der Symbole“ eindeutig entschieden: Fortan war das Kreuz, das Symbol unserer Erlösung, das Wappenzeichen des christlichen Europas, blühte über anderthalb Jahrtausende lang Europa unter dem Kreuz.
 
Damit begann im Herbst 312 eine historisch einmalige Erfolgsgeschichte, die, bei allen Höhen und Tiefen, bei allem, was sich unsere Vorfahren leider auch im Namen der Kirche und des Christentums zuschulden kommen ließen, in der Grundtendenz eine segensreiche war. Denn anstelle der Sklaverei trat eine Gesellschaft der Freien, anstelle heidnischer Lebensverachtung die christliche Achtung vor dem menschlichen Leben, anstelle barbarischer Hinrichtungen, die dem Volksvergnügen dienten, trat eine menschlichere Justiz, anstelle heidnischer Menschen- und Tieropfer die Feier der Eucharistie, anstelle eines stoischen Fatalismus eine Religion der Hoffnung. Und wenn wir heute, 1700 Jahre später, auf die Errungenschaften dieses Kontinentes und seiner Zivilisation zurückblicken, dann müssen wir zugeben, dass sie eben nicht nur auf den Nährboden der griechisch-römischen Welt zurückgehen, sondern eben gerade auf seine „Bewässerung“ mit dem Wasser der Taufe, auf seine Befruchtung durch das Christentum: Universitäten und Krankenhäuser, Sozialfürsorge und Entwicklungshilfe, Bildungssysteme und Menschenrechte wären ohne die Botschaft des Evangeliums nie denkbar gewesen. Um es ganz drastisch zu formulieren: Dass heute keine Menschen mehr als Eigentum eines anderen gelten, das man nach Belieben ausbeuten und Quälen konnte, deren Leben so wenig Wert hatte, dass man sie zur sadistischen Unterhaltung an Tiere verfüttern konnte, ja dass es überhaupt keine Gruppe von „Rechtlosen“ mehr gibt, dass stattdessen eine Kultur der Gleichwertigkeit aller Menschen entstand, der Fürsorge und der Solidarität: das verdanken wir einzig und allein dem Christentum!

Es gibt ein großartiges Buch, das unlängst auch auf Deutsch im Resch Verlag erschien und das der amerikanische Soziologieprofessor Alvin J. Schmidt verfasste: „Wie das Christentum die Welt veränderte“. In 15 Kapiteln, auf 494 Seiten, stellt er darin den Einfluss des Evangeliums auf Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur der letzten 1700 Jahre dar: Von der Heiligung des menschlichen Lebens bis zu Krankenhäusern und Gesundheitsfürsorge, von der Rolle der Frau, die endlich Würde und Freiheit erlangte, bis zum allgemeinen Bildungswesen und der Wissenschaft, von der Heiligung der Arbeit bis zur Freiheit und Gerechtigkeit für alle. Sogar die Trennung von Staat und Kirche, so weist der Soziologe anhand der Schriftworte in Mt 22,21 und Röm 13,1 nach, ist ein urchristliches Konzept. Dabei vergaß Schmidt nicht, dass diese Religion, wie keine andere, die Menschen immer wieder zu Höchstleistungen inspirierte: Auf den Gebieten von Kunst und Literatur ebenso wie im Bereich der Musik. In seinem Buch „How the Catholic Church Built Western Civilization“ – „Wie die katholische Kirche die westliche Zivilisation aufbaute“ – bestätigt sein Kollege, der US-Historiker Thomas E. Woods, ein Absolvent der Eliteuniversität Harvard, diese Einschätzung. In seinem Vorwort widerspricht er deutlich dem gängigen Klischee, die Kirche sei ein Hort der Ignoranz, der Unterdrückung und der Stagnation. Er zitiert den Historiker Philip Jenkins mit den Worten: „Antikatholizismus ist der Antisemitismus der Popkultur“ – das einzig „politisch korrekte“ Vorurteil, das man sich noch leisten kann, seit der Antisemitismus – Gott sei Dank – aus der Mode geraten ist und Antiislamismus unter den Gutmenschen unserer Tage trotz allem Wüten des IS und aller noch so frauenfeindlichen und menschenverachtenden Fatwen aus der al-Azhar-Universität nach wie vor als obszön gilt. Dabei, so Woods, sei es eine Tatsache: „Die katholische Kirche hat die Zivilisation, in der wir leben und deren Kinder wir sind, geformt... sie war ihr Baumeister. Sie hat nicht nur die moralisch verkommenen Aspekte der antiken Welt – von der Kindstötung bis hin zu Gladiatorenspielen – überwunden, sondern hat nach Roms Untergang die Zivilisation erneuert und vorangetrieben. Ohne sie wären wir noch alle Barbaren.“

Auch in Europa macht sich diese Erkenntnis breit. Auch auf Deutsch erschien in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft das Werk des Franzosen Sylvain Gouguenheim: „Aristoteles auf dem Mont Saint-Michel“, in dem dieser historisch solide nachweist, dass eben nicht – wie so gerne behauptet – der Islam die großen Denker der Antike durch das angeblich so dunkle Mittelalter hindurch rettete, sondern dass es die europäischen Klöster waren, in denen antikes Gedankengut und Schrifttum nicht nur überdauerte, sondern gepflegt und gelehrt wurde.
 
Angesichts dieser Errungenschaften des christlichen Europas ist es geradezu absurd, dass man versucht, sie unter den Teppich zu kehren, so, als sei Christentum ein Relikt der Vergangenheit, dessen man sich fast schon schämen müsse. Besonders deutlich wird diese Tendenz in den Entscheidungen der Europäischen Union. Die verwehrt sich nicht nur entschieden gegen die vermeintliche Unterstellung des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan, sie sei „ein Christenclub“, sie tut auch alles, um zu beweisen, dass sie gerade das nicht ist. Bestimmt ist es kein Zufall, wenn ausgerechnet die christlichen Feiertage in einem EU-Kalender fehlen, wo man doch peinlich genau darauf achtete, dass jedes islamische, buddhistische und pagane Fest in diesem vermerkt wird. Fast wäre sogar das Kreuz in den Klassenzimmern der Schulen, wie einst Hitler es versucht hatte, für rechtswidrig erklärt worden, zumindest nach einer Entscheidung vom November 2009; erst mit einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte wurde dieses skandalöse Urteil dann doch am 18. März 2011 aufgehoben. Doch nach wie vor wird durch „Antidiskriminierungsgesetze“ und die „Gender-Agenda“ das christliche Menschenbild ausgehöhlt, wird durch die Einführung von Homo-Ehen die Familie als Keimzelle der christlichen Gesellschaft zur Farce erklärt. In der Europäischen Verfassung jedenfalls soll gerade nicht an die christliche Identität unseres Kontinentes erinnert werden.

Und das Kreuz, es verschwand in den letzten Jahren schweigend aus den Schulen, den Gerichten, aus Hotelzimmern und Krankenhäusern. Man könnte ja Andersgläubige damit provozieren, lautet die geheuchelte Entschuldigung, als ginge es etwa den sieben Millionen Muslimen in Deutschland nicht trotzdem oder gerade deshalb recht gut, als stünde es nicht auch ihnen frei, hierzulande Kopftücher zu tragen und ihre Taxis mit islamischen Gebetsschnüren auszustatten, was sie ja auch gerne tun können und sogar sollen. Nur wir fühlen uns verpflichtet, uns zu verstecken, so als lebten wir noch in den Zeiten der Verfolgung oder würden diesen schon wieder entgegensehen.

Dabei vergessen wir gerne, wofür das Kreuz denn wirklich steht – dass es von Christus transformiert wurde, vom Galgen der Niederlage zur Standarte des Triumphes, vom Folterinstrument zum Symbol der Hoffnung und der Überwindung des Leidens, ja zur universalen Ikone des Mitgefühls und der Solidarität, hat doch Gott Selbst das Kreuzesleiden auf sich genommen, um Sich mit allem Leid der Welt zu vereinen und die Leidenden zu trösten und zu erlösen. Vor allem aber steht es auch für das christliche Menschenbild, das Prinzip der unveräußerlichen Würde aufgrund der Gottebenbildlichkeit eines jeden Menschen, das Grundlage für die Menschenrechte und damit unsere freiheitlich-demokratische Grundlage ist. Ein Kreuz, das im Gerichtssaal hängt, zeigt eben nicht an, dass man hier nach dem CiC, also dem Kanon des Kirchenrechtes verurteilt wird, sondern in einem Staat, der jede Religion respektiert und jeden Menschen gleich behandelt. Das ist der große Unterschied zum Islam, dessen Scharia zwischen Gläubigen, Ungläubigen und Gottlosen unterscheidet: Die Erstgenannten haben alle Rechte, die zweite Gruppe wird gegen Schutzgeldzahlung geduldet, die dritte – Atheisten, seht Euch vor! – gilt als „geringer denn ein Hund“, wobei im Islam der arme Hund als unrein gilt und getötet werden kann. In islamischen Ländern funktioniert die Demokratie eben deshalb nicht, weil der Glaube weder eine Trennung von Staat und Islam vorsieht noch allen Bürgern die gleichen Rechte gewährt.

Umso absurder war, dass ausgerechnet der Erzbischof von München und Freising, der auch gerne mal auf dem Tempelberg sein Pektoral versteckt, um auch ja niemanden durch seinen Anblick zu provozieren, behauptet, dass durch die Aussagen von Söder jetzt "Spaltung und Unruhe" entstanden seien. "Wenn das Kreuz nur als kulturelles Symbol gesehen wird, hat man es nicht verstanden", meint Kardinal Marx. "Dann würde das Kreuz im Namen des Staates enteignet." Es sei „eine Provokation, für jeden Christen, für die Kirche, aber auch für den Staat, der sich auf dieses Zeichen beziehen will", so der Kardinal weiter. Laut dem Münchner Erzbischof müssten bei der gesellschaftlichen Debatte über das Kreuz alle einbezogen werden: Christen, Muslime, Juden und jene, die gar nicht gläubig sind. Dabei vergisst er aber, dass das Kreuz dem christlichen Europa nicht etwa von den Gläubigen oder der Kirche als Standartenzeichen geschenkt wurde, sondern von Konstantin dem Großen, einem weltlichen Herrscher, also, in moderner Sprache: einem Politiker! Und dass es zwar die Kirche war, die die Grundlagen für unser christliches Abendland bewahrte, aber die Politik, die sie nutzte, um das Abendland zu prägen: Ob nun Theodosius, der das römische Imperium christianisierte, oder Karl der Große, der an das Erbe der Antike anknüpfte und die erste westeuropäische Großmacht seit der Antike, quasi die EU des 8. und 9. Jahrhunderts, gründete, ob nun Otto der Große, der es im 10. Jh. slawischen und ungarischen Stämmen entgegenhielt und letztlich deren Christianisierung bewirkte, ob die großen Könige, die ihre Völker zum Glauben führten, wie Stephan von Ungarn oder Vladimir von Kiev – sie alle nutzten das Kreuz, um ihren Völkern ein neues Rechts- und Wertesystem, ein gerechteres Menschenbild und eine gottgewollte Ordnung zu schenken.
So zeigte der Streit um Söders Kreuzerlass eher ein anderes Krankheitssymptom des Westens: Denn eine noch größere Gefahr als die Säkularisierung unserer Zivilisation ist die Säkularisierung unserer Kirche. Wer die Kirche zerstört oder zumindest zur Unkenntlichkeit zurechtstutzt, der schneidet unseren Kontinent von seiner Kraftquelle ab. So nutzen die Feinde dieser Kirche, die schon Jesus Christus, unser Herr, mit den „Mächten der Unterwelt“ gleichgesetzt hat (in Mt 16,18), jede Möglichkeit, eine Kirche zu fordern, die nicht etwa moralische und ethische Maßstäbe setzt, sondern der laxen Moral und Ethik unserer Zeit unterworfen sein soll. Als Druckmittel werden dabei aufgeplusterte Skandale und massive Medienkampagnen benutzt. Ist die moralische Integrität der Kirche erst einmal kompromittiert, drohen ihr nach einer solchen Kampagne durch Mitgliederrückgang auch finanzielle Einbußen – die Lauesten lassen sich bekanntlich schnell abschrecken oder finden zumindest einen bequemen Vorwand, um sich fortan die ungeliebte Kirchensteuer zu sparen –  dann, so glauben diese Kreise, ist es an der Zeit, ihr Forderungen zu stellen, die natürlich gleich zu „Bedingungen für ihren Fortbestand“  aufgebauscht werden. Da geht es dann bei der „Forderung nach Reformen“ gleich um nicht weniger als die Aufgabe der priesterlichen Nachfolge Christi und des ganzen christlichen Menschenbildes samt seiner biblisch und naturgesetzlich begründeten Definition von Ehe und Familie.

Fraglos braucht unsere Kirche dringend Reformen. Aber diese Reformen dürfen eben gerade nicht zu einer weiteren Verwässerung unseres Glaubens und unserer Werte führen, sondern sollten, im Gegenteil, eine Selbstreinigung bewirken. Natürlich kann und will auch ich nicht bestreiten, dass die Kirche in Deutschland in einer Krise steckt. Doch es ist mehr eine Sinnkrise denn eine Krise der Form oder der Inhalte. Die Lösung aber lässt sich nur dort finden, wo ihre Kernbotschaft beheimatet ist: Im Evangelium, im Zeichen des Kreuzes. Nur wenn sie diese Botschaft konsequent lebt, kann die Kirche „in diesem Zeichen siegen“, kann sie eins mit dem Felsen sein, den die Mächte der Unterwelt eben nicht überwinden können – mit Petrus, mit unserem Papst. Und unter dem Kreuz, nicht im Zeichen einer zeitgeistkonformen Beliebigkeit.

Doch kommen wir zur Kernfrage dieses Abends zurück, der Frage nach den christlichen Grundlagen Europas.
Ist Europa überhaupt christlich? Gibt es so etwas wie ein christliches Abendland? Oder ist das Christentum nicht nur eine von vielen Strömungen, die unsere Zivilisation geprägt haben in einer offenen statt einer monolitischen Gesellschaft, die immer wieder von außen neue Impulse erhält? Und, vielleicht noch dringender die Frage: Was ist überhaupt Europa? Lassen Sie mich bei der nachfolgenden Erörterung den Gedankengängen Joseph Ratzingers folgen:

Dazu ist nämlich zunächst ein kleiner historischer Exkurs notwendig: Wer sich näher mit dieser Frage befasst, dem wird klar, dass "Europa" nur sekundär ein geografischer Begriff ist: Europa ist ein kultureller und historischer Begriff. Wer vom Ursprung Europas redet, verweist gewöhnlich auf Herodot (5. Jh. v.Chr.), der wohl als Erster Europa als geografischen Begriff kannte und es so definierte: "Die Perser sehen Asien mit seinen Völkern als ihr Land an. Europa und das Land der Griechen, meinen sie, liegt vollkommen außerhalb ihrer Grenzen." Die Grenzen Europas selbst werden nicht angegeben, aber es ist klar, dass Kernländer des heutigen Europa, etwa Deutschland oder Frankreich, völlig außerhalb des Blickfelds des antiken Historikers lagen. Mit der Ausbildung der hellenistischen Staaten und des Römischen Reiches hatte sich ein "Kontinent" gebildet, der zur Grundlage des späteren Europa wurde, aber ganz andere Grenzen aufwies: Es waren die Länder rund um das Mittelmeer, die durch ihre kulturelle Verbundenheit, durch Verkehr und Handel, durch ein gemeinsames politisches System miteinander einen wirklichen "Kontinent" bildeten. Die Römer haben diese Gebiete dann erstmals politisch unter ihrer Herrschaft vereint, mit Ausnahme der Gebiete, die – bitte erlauben Sie mir eine große Vereinfachung – mehr oder weniger jenseits von Rhein und Donau lagen. Die Völker der germanischen Wälder und slawischen Steppe ahnten noch nichts davon, dass sie auch „Europa“ sein sollten, zumal eben diese Steppe nahtlos bis Asien reichte. Mit der Völkerwanderung geriet Europa, jetzt bereits christianisiert, in seine erste Identitätskrise, erst mit Karl dem Großen fand es sich wieder in der Idee der „Renovatio Imperii Romanorum“, auch wenn es derer jetzt zwei gab, nämlich das Heilige Römische Reich und das Oströmische Reich mit der Hauptstadt Konstantinopel. Doch es ist auffällig, dass sich alle Reichsgedanken bis hin zum 1. Weltkrieg auf das christliche Kaisertum des antiken Rom beriefen – Napoleons Reich, das deutsche Kaiserreich ebenso wie der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn und das Russische Reich, während der geographisch-historische Nachfolger des byzantinischen Reiches, das Osmanische Reich, sich in der Tradition des islamischen Kalifats von Kairo und Bagdad sah, der Sultan aber nie den Kaisertitel beanspruchte. Das macht deutlich, wie eng der europäische Begriff mit dem römischen Reichsbegriff und dem Christentum verbandelt ist und dass Islam und Europa einander eigentlich ausschlossen. Die islamische Welt verstand sich ja selbst als Antithese zu Europa.
Tatsächlich hatte der Siegeszug des Islam im 7. und im beginnenden 8. Jahrhundert eine Grenze durch das Mittelmeer gezogen, es sozusagen in der Mitte durchgeschnitten, sodass, was bisher ein römisch-byzantinisches Reich und damit eine Welt gewesen war, sich nunmehr in drei Kontinente teilte: Asien, Afrika, Europa. Im Osten vollzog sich die Umbildung der alten Welt langsamer als im Westen: Das Römische Reich mit Konstantinopel als Mittelpunkt hielt dort - wenn auch immer weiter zurückgedrängt - bis ins 15. Jahrhundert hinein stand. Während die Südseite des Mittelmeers um das Jahr 700 endgültig aus dem bisherigen Kulturkontinent herausgefallen war, vollzog sich zur selben Zeit eine immer stärkere Ausdehnung nach Norden. Der Limes, der bisher eine kontinentale Grenze gewesen war, verschwindet und öffnet sich in einen neuen Geschichtsraum hinein, der nun Gallien, Germanien, Britannien als eigentliche Kernlande umgreift und sich zusehends nach Skandinavien ausstreckt. In diesem Prozess der Verschiebung der Grenzen wurde die ideelle Kontinuität mit dem vorangehenden, mittelmeerischen Kontinent durch eine geschichtstheologische Konstruktion gewahrt: Im Anschluss an das Buch Daniel sah man das durch den christlichen Glauben erneuerte und verwandelte Römische Reich als das letzte und bleibende Reich der Weltgeschichte überhaupt an und definierte daher das sich konstituierende Völker- und Staatengebilde als das bleibende Sacrum Imperium Romanum. Hier taucht nun auch wieder das alte Wort Europa in verwandelter Bedeutung auf: Diese Vokabel wurde nun geradezu als Bezeichnung für das Reich Karls des Großen gebraucht und drückte das Bewusstsein der Endgültigkeit wie das Bewusstsein einer Sendung aus. Der Begriff Europa ist zwar nach dem Ende des Karolingischen Reiches wieder weitgehend verschwunden und setzt sich allgemein erst im 18. Jahrhundert durch. Die Konstituierung des Frankenreiches als des nie untergegangenen und nun neu geborenen Römischen Reiches bedeutet aber den entscheidenden Schritt auf das zu, was wir heute meinen, wenn wir von Europa sprechen. Freilich gibt es auch noch eine zweite Wurzel Europas, eines nicht westlichen, nicht abendländischen Europa: Das Römische Reich hatte ja in Byzanz über die Stürme der Völkerwanderung und der Islamischen Invasion hin standgehalten. Byzanz verstand sich als das wirkliche Rom; hier war das Reich in der Tat nicht untergegangen, weshalb man auch weiterhin Anspruch auf die westliche Reichshälfte erhob. Auch dieses östliche Römische Reich hat sich weit nach Norden, in die slawische Welt hinein ausgedehnt und eine eigene, griechisch-römische Welt geschaffen, die sich von dem lateinischen Europa des Westens durch die andere Liturgie, die andere Kirchenverfassung, die andere Schrift und Bildungssprache unterscheidet. Dabei gibt es auch genug verbindende Elemente, die die zwei Welten doch zu einem gemeinsamen Kontinent machen können: an erster Stelle das gemeinsame Erbe der Bibel und der alten Kirche, das übrigens in beiden Welten über sich hinausweist auf einen Ursprung, der nun außerhalb Europas, in Palästina liegt; dazu die gemeinsame Reichsidee, das gemeinsame Grundverständnis der Kirche und damit auch die Gemeinsamkeit grundlegender Rechtsvorstellungen und rechtlicher Instrumente; schließlich das Mönchtum, das in den großen Erschütterungen der Geschichte der wesentliche Träger nicht nur der kulturellen Kontinuität, sondern vor allem der grundlegenden religiösen und sittlichen Werte geblieben ist und als vorpolitische und überpolitische Kraft auch zum Träger der immer wieder nötigen Wiedergeburten wurde. Zwischen den beiden „Europen“ gibt es allerdings einen tiefreichenden Unterschied: In Byzanz erscheinen Reich und Kirche nahezu miteinander identifiziert; der Kaiser ist das Haupt auch der Kirche. Er versteht sich als Stellvertreter Christi, und im Anschluss an die Gestalt des Melchisedek, der König und Priester zugleich war (Gen 14,18), führt er seit dem 6. Jahrhundert den offiziellen Titel "König und Priester". Weil das Kaisertum seit Konstantin aus Rom abgewandert war, konnte sich in der alten Reichshauptstadt die selbstständige Stellung des römischen Bischofs als Nachfolger Petri und Oberhaupt der Kirche entwickeln; hier wird schon seit Beginn der konstantinischen Ära eine Dualität der Gewalten gelehrt: Kaiser und Papst haben je getrennte Vollmachten, keiner verfügt über das Ganze. Papst Gelasius I. (492-496) hat der byzantinischen Melchisedek-Typologie gegenüber betont, dass die Einheit der Gewalten ausschließlich in Christus liege. "Dieser selbst hat nämlich wegen der menschlichen Schwäche (superbia!) für spätere Zeiten die beiden Ämter getrennt, damit sich niemand überhebe".
Für beide Europen bedeutet der Beginn der Neuzeit einen Umbruch, der das Wesen des Kontinents wie seine geografischen Umrisse betrifft. 1453 wurde Konstantinopel von den Türken erobert. So drohte der eine Flügel Europas zu verschwinden, aber das byzantinische Erbe war nicht tot: Moskau erklärt sich zum dritten Rom, bildet nun selbst ein eigenes Patriarchat auf der Basis der Idee einer zweiten translatio imperii und stellt sich damit als neue Metamorphose des Sacrum Imperium dar - als eine eigene Form von Europa, das doch dem Westen verbunden blieb und sich immer mehr an ihm orientierte, bis schließlich Peter der Große es zu einem westlichen Land zu machen versuchte. Diese Nordverschiebung des byzantinischen Europa brachte es mit sich, dass nun auch die Grenzen des Kontinents weit nach Osten in Bewegung kamen. Die Festlegung des Ural als Grenze ist durchaus willkürlich, jedenfalls wurde die Welt östlich davon immer mehr zu einer Art Hinterhaus Europas. Gleichzeitig können wir im Westen ebenfalls einen doppelten Vorgang mit weitreichender historischer Bedeutung konstatieren. Ein großer Teil der germanischen Welt reißt sich los von Rom; eine neue, aufgeklärte Art des Christentums entsteht, sodass durch das "Abendland" von nun an eine Trennlinie verläuft, die deutlich auch einen kulturellen Limes, eine Grenze zweier unterschiedlicher Denk- und Verhaltensweisen bildet. Hinzu kommt die Entdeckung Amerikas. Der Osterweiterung Europas durch die fortschreitende Ausdehnung von Russland nach Asien entspricht der radikale Ausbruch Europas aus seinen geografischen Grenzen in die Welt jenseits des Ozeans, die Teilung Europas in eine lateinisch-katholische und eine germanisch-protestantische Hälfte überträgt sich auf diesen von Europa eroberten Erdteil. Auch Amerika wird zunächst zu einem erweiterten Europa, zur "Kolonie", schafft sich aber gleichzeitig mit der Erschütterung Europas durch die Französische Revolution seinen eigenen Subjektcharakter: Vom 19. Jahrhundert an steht es, wenngleich tief von seiner europäischen Geburt geprägt, Europa doch als eigenes Subjekt gegenüber. Bei dem Versuch, durch den Blick auf die Geschichte die innere Identität Europas zu erkennen, müssen wir noch einen dritten Umbruch ins Auge fassen, dessen weithin sichtbares Fanal die Französische Revolution bildete. Zwar war das Sacrum Imperium schon seit dem späten Mittelalter als politische Realität in Auflösung begriffen und auch als tragende Geschichtsdeutung immer brüchiger geworden, aber jetzt erst zerbricht auch formell dieser geistige Rahmen, ohne den sich Europa nicht hätte bilden können. Die sakrale Fundierung der Geschichte und der staatlichen Existenz wird abgeworfen: Die Geschichte misst sich nicht mehr an einer ihr vorausliegenden und sie formenden Idee Gottes; der Staat wird nunmehr rein säkular betrachtet, auf Rationalität und Bürgerwillen gegründet. Erstmals in der Geschichte überhaupt entsteht der rein säkulare Staat, der die göttliche Verbürgung und Normierung des Politischen als mythische Weltansicht ablegt und Gott selbst zur Privatsache erklärt, die nicht ins Öffentliche der gemeinsamen Willensbildung gehört. Die wird nun allein als Sache der Vernunft angesehen, für die Gott nicht eindeutig erkennbar erscheint: Religion und Glaube an Gott gehören dem Bereich des Fühlens, nicht der Vernunft zu. Gott und sein Wille hören auf, öffentlich relevant zu sein. Auf diese Weise entsteht mit dem ausgehenden 18. und dem beginnenden 19. Jahrhundert eine neue Art von Glaubensspaltung, deren Auswirkungen wir auch heute noch zu spüren bekommen.

Damit sind wir bei den Problemen der Gegenwart angelangt. Über die mögliche Zukunft Europas gibt es zwei gegensätzliche Diagnosen. Da ist auf der einen Seite die These von Oswald Spengler, der für die großen Kulturen eine Art von naturgesetzlichem Verlauf glaubte feststellen zu können: Es gibt den Augenblick der Geburt, den allmählichen Aufstieg, die Blütezeit einer Kultur, ihr langsames Ermüden, Altern und Tod. Spengler belegt seine These eindrucksvoll aus der Geschichte der Kulturen, in der man dieses Verlaufsgesetz nachzeichnen kann. Seine These war, dass das Abendland in seiner Spätphase angelangt sei, die allen Beschwörungen zum Trotz unausweichlich auf den Tod dieses kulturellen Kontinents hinausläuft. Natürlich kann er seine Gaben an eine neu aufsteigende Kultur weiterreichen, wie es in früheren Untergängen geschehen ist, aber als dieses Subjekt habe er seine Lebenszeit hinter sich. Diese als biologistisch gebrandmarkte These hat zwischen den beiden Weltkriegen besonders im katholischen Raum leidenschaftliche Bestreiter gefunden; eindrucksvoll ist ihr auch Arnold Toynbee entgegengetreten, freilich mit Postulaten, die heute wenig Gehör finden. Toynbee stellt die Differenz zwischen materiellem-technischem Fortschritt einerseits, wirklichem Fortschritt andererseits heraus, den er als Vergeistigung definiert. Er räumt ein, dass sich das Abendland - die "westliche Welt" - in einer Krise befindet, deren Ursache er im Abfall von der Religion zum Kult der Technik, der Nation und des Militarismus sieht. Die Krise heißt für ihn letztlich: Säkularismus.“ Soweit Joseph Ratzinger. Doch die Antwort auf diesen Säkularismus scheint nicht mehr das Christentum geben zu können, so alt und kraftlos scheint es geworden, sondern nur noch der jüngere, dynamischere, begeisterndere Islam.

Ja wirklich? Kann der Islam Europa wirklich neu spiritualisieren? Oder setzt er lediglich den Grabstein auf seinen zusammengeschossenen Leib und begräbt unsere Zivilisation, unsere Werte und unsere Geschichte unter sich? Ich behaupte: Ein islamisches Europa wird kein Europa mehr sein, sondern ein nach Westen ausgedehnter Orient, so wie der Balkan unter Herrschaft der Osmanen nur eine „Westtürkei“ war. Das Europa der Zukunft kann nur christlich sein – oder es wird nicht mehr sein.

Tatsächlich ist Europa nur in zweiter Linie ein geographischer Begriff; vor allem ist es ein geistiger. Geographisch würde man diese Halbinsel am westlichen Rand Asiens kaum als einen Kontinent bezeichnen können. Von dem französischen Schriftsteller Paul Valery (1871-1945) stammt das Bonmot: Europa sei „ein kleines Vorgelände des asiatischen Kontinents”. Mit anderen Worten: geographisch ist es nicht besonders markant. Und trotzdem ist es eine Welt, ja der Mittelpunkt der Welt, zumindest der abendländischen, und das allein durch seine Kultur und Religion.

Was also macht Europa aus, wodurch wird es einzigartig? Es ist nicht einmal das Christentum selbst, es ist die Blüte, zu der es kam, als der Samen des Evangeliums auf den Nährboden der griechisch-römischen Zivilisation, der ersten genuin europäischen Kultur, fiel.

Unser erster Bundespräsident, Professor Theodor Heuss, sagte am 16. September 1950 bei einer Schulfeier in Heilbronn: „Es gibt drei Hügel, von denen das Abendland seinen Ausgang genommen hat: Golgatha, die Akropolis in Athen, das Capitol in Rom. Aus allen ist das Abendland geistig gewirkt, und man darf alle drei, man muss sie als Einheit sehen.“[1] Papst Benedikt XVI. hat in einer eindrucksvollen Rede vor dem Deutschen Bundestag im September 2011 genau dieses Bild aufgegriffen und gesagt:
„Die Kultur Europas ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom – aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden.“
Die Akropolis in Athen steht also für griechische Philosophie und Kultur, das Kapitol in Rom für römisches Recht und staatliche Ordnung und Golgatha steht für den biblischen Glauben.

Das Christentum ist aus dem Judentum hervorgegangen. Immer dann, wenn sich das Christentum von diesen jüdischen Wurzeln emanzipieren wollte, hatte das schreckliche Folgen. Die Etappen der Christianisierung Europas sind Meilensteine der stufenweise Einbeziehung unterschiedlichster Völker auf einem Kontinent in eine gemeinsame christliche Kultur. Und das alles begann, als der Apostel Paulus sich auf seiner zweiten Missionsreise gerade im äußersten Westen Kleinasiens aufhielt und eines nachts eine Erscheinung hatte:
„Ein Mann aus Mazedonien stand da und bat ihn: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns! Als er aber die Erscheinung gesehen hatte, da suchten wir sogleich nach Mazedonien zu reisen, gewiß, daß uns Gott dahin berufen hatte, ihnen das Evangelium zu predigen.“ (Apostelgeschichte 16,9-10) 
Damit, mit dieser Vision irgendwann gegen Mitte des Jahres 49, begann die eigentliche Geschichte des christlichen Abendlandes. Es wird uns in der Apostelgeschichte weiter berichtet, dass Paulus vor den Toren der mazedonischen Stadt Philippi an einem Fluss die erste Europäerin taufte, eine Purpurhändlerin namens Lydia. Kurze Zeit später stand er auf dem Areopag von Athen, dem Oxford oder Harvard der antiken Welt, dem Zentrum der Philosophie und Gelehrsamkeit, aber auch der Geburtsstätte unserer Demokratie, und wies nach, dass die Griechen schon immer auf „den unbekannten Gott“ warteten, den er verkündete, dass, wie es später Justin der Märtyrer formulierte, die griechische Philosophie nur eine Vorbereitung Europas auf den Empfang des Evangeliums war, auf diese so fruchtbare Begegnung, die da gerade im Jahre 50 geschah. Ohne die geistige Weite der griechischen Philosophie wäre das Christentum wohl für immer eine jüdische Konfession geblieben, so aber kam es zur vollen Entfaltung und wurde zur Weltreligion. Zehn Jahre später stand Paulus in Rom vor dem Kaiser – und vollzog den dritten Brückenschlag. Mit der Machtergreifung Konstantins, seinem Sieg am Ponte Milvio 312 ging die Saat auf.

Das wusste niemand so gut wie die Väter der Europäischen Union nach dem Zweiten Weltkrieg, als ein Adenauer, ein de Gaulle oder ein de Gaspari. Das waren alle drei tief gläubige Katholiken, die auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes eine Friedensordnung schaffen wollte, in der dieser durch die Barbarei des Nationalsozialismus, einer antichristlichen Irrlehre, in Schutt und Asche gelegte Kontinent neu erblühen könnte. Nicht umsonst sollte die ursprüngliche EU-Flagge das weiße Kreuz auf blauem Grund tragen, umgeben von den zwölf Sternen der Jungfrau der Offenbarung. Allein die Sterne auf blauem Grund, einer tief marianischen Farbe, sind geblieben. Und aus dem klaren Bekenntnis zu christlichen Werten wurde in der Präambel neuen EU-Verfassung nur noch ein "Im Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität". Das ist merkwürdig vage und so soll es ja auch sein. Man will ja kein „Christenclub“ sein, lieber ein vages Gebilde ohne eigene Identität, beherrscht von einer Diktatur des Relativismus, der Beliebigkeit. Nach allen Seiten hin offen, aber ohne einen harten Werte-Kern.

Dahinter steckt, um Joseph Ratzinger zu zitieren, „ein merkwürdiger und nur als pathologisch zu bezeichnendet Selbsthass des Abendlandes, das sich zwar lobenswerterweise fremden Werten verstehend zu öffnen versucht, aber sich selbst nicht mehr mag, von seiner eigenen Geschichte nur noch das Grausame und Zerstörerische sieht, das Große und Reine aber nicht mehr wahrzunehmen vermag. Europa braucht, um zu überleben, eine neue - gewiss kritische und demütige - Annahme seiner selbst, wenn es überleben will. Auch Multikulturalität kann ohne gemeinsame Konstanten, ohne Richtpunkte des Eigenen nicht bestehen. Sie kann ganz sicher nicht ohne Ehrfurcht vor dem Heiligen bestehen. Zu ihr gehört es, dem Heiligen des anderen ehrfürchtig zu begegnen, aber dies können wir nur, wenn uns das Heilige, Gott, selbst nicht fremd ist. Gewiss, wir können und sollen vom Heiligen der anderen lernen, aber es ist gerade vor den anderen und für die anderen unsere Pflicht, selbst in uns die Ehrfurcht vor dem Heiligen zu nähren und das Gesicht des Gottes zu zeigen, der uns erschienen ist - des Gottes, der sich der Armen und Schwachen, der Witwen und Waisen, des Fremden annimmt; des Gottes, der so menschlich ist, dass er selbst ein Mensch werden wollte, ein leidender Mensch, der mit uns mitleidend dem Leiden Würde und Hoffnung gibt. Wenn wir dies nicht tun, verleugnen wir nicht nur die Identität Europas, sondern versagen auch den anderen einen Dienst, auf den sie Anspruch haben. Den Kulturen der Welt ist die absolute Profanität, die sich im Abendland herausgebildet hat, zutiefst fremd. Sie sind überzeugt, dass eine Welt ohne Gott keine Zukunft hat. Insofern ruft uns gerade die Multikulturalität wieder zu uns selber zurück.“ Soweit Ratzinger.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind hier zusammengekommen, um ein 900jähriges Gotteshaus zu feiern, dessen Geschichte allein schon die Konstante unseres Kontinentes widerspiegelt. Hier kamen seit dem Mittelalter die Menschen zusammen, um gemeinsam Gott zu loben, ihn in ihrer Mitte zu wissen und durch die Begegnung mit ihm gestärkt in den Alltag entlassen zu werden, hier, in unmittelbarer Nähe alten Kaiserstadt Aachen. Wie kann man hier stehen und überhaupt zweifeln, dass die Grundlage, die Identität Europas das Christentum ist? Dieses Gotteshaus ist ein Monolith, der alle Irrungen und Wirrungen der Jahrhunderte unbeschadet überstanden hat und so sollte doch auch unser Glaube sein. Das, meine Damen und Herren, IST Europa: Ein Leuchtfeuer des Glaubens und der Zivilisation in einer suchenden und irrenden Welt. Oder besser: Dazu sollten wir es wieder werden lassen.

Das ist kein Nationalismus und kein Chauvinismus, denn nicht unser Volk ist besser als die anderen, sondern das, was der Welt am meisten dient. Ein Europa, das sich selbst aufgibt, das zur Nordprovinz Afrikas oder zum Westausläufer des Orients wird, ist zu schwach, die Vision einer besseren Welt in diese Länder zu tragen. Und bedenken wir: Die Flüchtlinge kommen zu uns, weil sie daran glauben, dass hier eine bessere Welt ist. Wir haben auch in ihrem Interesse die Pflicht, dafür zu sorgen, dass es so bleibt und dass auch ihre Heimat besser wird, nicht dass sich ihre Probleme auch bei uns ausbreiten. Ein starkes, christliches Europa ist ein starker Advokat der Menschenrechte, der christlichen Freiheit, der Werte unserer Kultur und unseres Glaubens und der Nächstenliebe in der ganzen Welt. Wir haben von unseren Vorfahren einen Schatz geerbt. Es ist unsere Pflicht, ihn für die Nachwelt zu erhalten. Das gilt für die St. Georgkirche genauso wie – und dort noch viel mehr – für unser christliches Europa.

Danke und Gottes Segen Ihnen allen!
 
[1] Theodor Heuss: Reden an die Jugend, R. Wunderlich Tübingen 1956, S. 32