Michael Hesemann, Historiker und Autor
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Revolution oder Kontinuität? Von Papst Benedikt XVI. zu Papst Franziskus

 
Am 7. September 2014 sprach Michael Hesemann als Festredner auf dem diesjährigen Pfarrfest der Österreichischen Militärpfarre in Wien. Die Festmesse zelebrierte Altabt Dr. Gregor Graf Henckel von Donnersmark OCist, von 1999-2011 Abt des Zisterzienserstiftes Heiligenkreuz bei Wien.


Exzellenz, Hochwürdigster Herr Abt, Hochwürdigster Herr Militärsuperior, Hochwürdige Herren, meine sehr verehrten Damen und Herren,

Vor anderthalb Jahren stand ich in strömendem Regen auf dem Petersplatz, beobachtete eine Möve, die ebenfalls darauf wartete, dass aus dem berühmtesten Schornstein der Welt weißer Rauch kam und wurde Zeuge der Verkündigung des „Habemus Papam“, das mich mehr als irritierte.

„Dominum Georgium Marium Sanctae Romanae Ecclesiae Cardinalem Bergoglio“ sei der neue Papst, verkündete der Kardinalprotodiakon Tauran, und mein Blick in die Menge verriet, dass die meisten auf dem Platz genauso erstaunt waren wie ich.

Wer, bittesehr, war Bergoglio? Ich hatte in den Tagen zuvor viele Gespräche mit Kollegen und Vatikaninsidern geführt, doch keiner von ihnen hatte den Argentinier auch nur als papabile erwogen. Tatsächlich gab es keine einzige Zeitung der Welt, die Bergoglio zu den „papabiles“ zählte. Für uns alle war das eine Riesenüberraschung, für mich vor allem eine Herausforderung. Ich sollte ein Buch über den neuen Papst schreiben und das hieß: ganz von vorne anfangen. Denn über einen Kardinal, den kein einziger Insider auf dem Radarschirm hatte, der sich in Europa immer eher rar gemacht hatte, wusste auch ich rein gar nichts.
Ich habe mir dann wirklich zwei Monate Zeit gelassen, um ihn zu beobachten und seine Hintergründe zu recherchieren, um ihn wirklich verstehen zu können. Weil ich keine Schnellschüsse mag, denn sie treffen nur selten ins Ziel. Wissen Sie, die lieben Kollegen, deren Bücher teils schon im April, Mai 2013 erschienen, die hatten nach der Papstwahl am 13. März gerade einmal ein, zwei Wochen Zeit, um zu recherchieren und zu schreiben. Da frage ich Sie: Wie will man einen Menschen, den nun wirklich niemand zuvor als neuen Papst auf dem Radarschirm hatte, in so kurzer Zeit angemessen einschätzen und verstehen? Das Ergebnis waren dann teils fatale Fehlschlüsse. Da nahm ich mir lieber die Zeit, um nach Argentinien zu fliegen und mit den Menschen zu reden, die ihn wirklich kennen: mit seiner Schwester, seinem ehemaligen engsten Mitarbeiter und seinem besten Freund, dem Rabbi von Buenos Aires. Vor allem aber kann man doch einen Menschen erst begreifen, wenn man das Umfeld kennt, dem er entstammt. Für uns alle als Mitteleuropäer ist Argentinien, mit Verlaub gesagt, doch eine größtenteils unbekannte Welt. Man kann Papst Franziskus aber nur verstehen, wenn man seine Heimat kennt.

Nehmen wir das vielzitierte Wort von der „Kirche der Armen“. Wer oder was aber sind „die Armen“ für ihn und welche Kirche repräsentieren sie? Die Unterschicht in Europa ist ja nicht gerade gläubig, ihre Kirche wäre eher eine der laxen Moral und der oberflächlichen Frömmigkeit. Kirche wird hierzulande vom Bürgertum getragen, aber auch von der traditionellen Elite, dem Adel. In Südamerika aber ist das ganz anders, wie mir Pater Marco, der langjährige engste Mitarbeiter Kardinal Bergoglios, so gut erklärte. Das waren ja Kolonien, die von Europa, drastisch gesprochen, ausgebeutet, deren Bevölkerung versklavt wurde. Die Oberschicht bestand aus echten Unterdrückern und Ausbeutern, aus skrupellosen Kolonialherren, die sich um Sitte und Moral nicht kümmerten, und einem korrupten Klerus, der es ihnen erlaubte, die Kirche als Alibi zu missbrauchen. Tatsächlich wollten doch Spanier und Portugiesen nichts weniger als die Missionierung der Urbevölkerung, denn Christen durfte man nicht mehr versklaven. Dem machten aber die Missionsorden, die Franziskaner in Mittel- und die Jesuiten in Südamerika, einen Strich durch die Rechnung. Sie christianisierten die Indios und befreiten sie damit aus der Sklaverei. So ermöglichten sie die Entstehung einer Mischgesellschaft aus Indigenen, Mestizen und Kreolen, die schließlich so viel Selbstbewusstsein entwickelten, dass sie sich in diversen Revolutionen erhoben und die Fremdherrschaft abschüttelten. Sie waren und sind tief im Glauben verwurzelt und haben eine ganz eigene Volksfrömmigkeit entwickelt, die ihre Identität formt. Die Gläubigen sind in Südamerika die Armen, nicht die westlich geprägte und damit hedonistische Oberschicht, die meist noch aus Nachkommen der Kolonialherren besteht. Diese Prägung erklärt etwa die Aversion des Papstes gegen alle monarchische Symbolik, gegen Thronsessel, klassische Konzerte (die einst höfische Unterhaltung waren) oder rote Schuhe, die, trotz christlicher Umdeutung, halt ursprünglich auf die purpurnen Schuhe römischer Kaiser zurückgehen. Für einen Südamerikaner ist Monarchie gleichbedeutend mit Kolonialismus, Ausbeutung und Versklavung. Das empfindet natürlich ein Europäer ganz anders; für uns ist die Monarchie ein Relikt aus einer großen Zeit. Franziskus‘ „Kirche der Armen“ hat jedenfalls nichts mit „Kirche von unten“ und linken Utopien zu tun, sondern ist tief in der Volksfrömmigkeit verwurzelt. Da trifft sich die Vision des neuen Papstes mit der von Prälat Imkamp etwa, dessen Buch „Sei kein Spießer, sei katholisch“ ich gerade mit großer Freude und großem Gewinn gelesen habe. Ich denke, Papst Franziskus, wie ich ihn einschätze, würde dieses Buch ebenfalls lieben! Dass er auch ein großer Marienverehrer ist, brauche ich wohl nicht eigens zu erwähnen. Schließlich weiht er nicht nur sein Pontifikat (wie am 13. Mai), sondern am 13. Oktober gleich die ganze Welt der Gottesmutter von Fatima. Denn auch die Botschaft von Fatima, ja die ganze Marienfrömmigkeit, gehört zur Volksfrömmigkeit und damit zur „Kirche der Armen“.

Natürlich ist er auch europäisch geprägt als Sohn italienischer Einwanderer. Seine Großeltern stammten aus dem Piemont. Seine Eltern und vor allem die fromme Großmutter haben ihm seinen tiefen Glauben vermittelt. Aber gleichermaßen prägte ihn, schon durch die Schule, die argentinische Gesellschaft, der Nationalismus eines Peron. Und schließlich trat er doch dem großen Missionsorden der Jesuiten bei, die sich von Anfang an in Südamerika auf die Seite der Unterdrückten gestellt haben. Sie bekehrten die Indios und gründeten einen eigenen Staat mit ihnen, um sie vor dem Zugriff der Sklaventreiber zu schützen. Sehr zum Unwillen der spanischen und portugiesischen Krone natürlich, die, sonst spinnefeind, hier ausnahmsweise einmal an einem Strang zogen und bei Papst Clemens XIV. sogar die Auflösung des Jesuitenordens bewirkten; erst Jahrzehnte später kam es zu seiner Neugründung. Eben weil sich die Jesuiten für die Armen und Unterdrückten einsetzten.

Falsch ist dagegen das gerne kolportierte Gerücht, auch die Bergoglios seien arme italienische Einwanderer gewesen. Sie waren alles andere als das! Die Großeltern des Papstes unterhielten in Turin ein gut laufendes Café, das nachts in eine noble Bar umfunktioniert wurde. Sein Vater war Buchhalter einer Turiner Großbank. Das waren durch und durch bürgerliche Verhältnisse. Nein, die Familie ging nach Argentinien, als Mussolini an die Macht kam. Großmutter Bergoglio hatte in der Kirche zu laut gegen die Faschisten gewettert – sie hatte den typischen „Dickkopf“ der Piemontesen , ihr drohte die Verhaftung. So nähte sie ein Vermögen an Bargeld in ihren Pelzmantel ein und wanderte mit ihrer Familie nach Argentinien aus.

Dort besaßen die Brüder ihres Mannes bereits eine Pflasterfabrik und hatten es zu beachtlichem Reichtum gebracht. Ihr vierstöckiges Haus war in der ganzen Stadt als „Palazzo Bergoglio“ bekannt. Es wurde von einer imposanten Kuppel überragt, war ein richtiger Jugendstil-Prachtbau also, und besaß als einziges Privathaus der Stadt einen eigenen Fahrstuhl. Erst als die Fabrik in der Wirtschaftskrise pleite ging, machten die Großeltern in Buenos Aires einen Lebensmittelhandel auf. Bergoglios Vater wurde dann Buchhalter in einer Strumpffabrik… und eben nicht, wie ein Kollege behauptete, Eisenbahnarbeiter!

Als ich Maria Elena Bergoglio, seiner Schwester, das erzählte, hat sie laut gelacht. Nein, das ist eine nette Phantasiegeschichte. Andere erklärten ihn zum „Buchhalter bei der Eisenbahn“. Doch auch das war er nie. Wie gesagt: So vieles wurde falsch kolportiert. Daher war es mir ein Anliegen, vor Ort die Wahrheit zu erfahren, statt Falsches abzuschreiben. Und, zugegeben: Ein Papst aus der Arbeiterklasse passt zum Franziskus-Bild der Medien!

So werfe ich der Berichterstattung über Papst Franziskus schon vor, dass sie oberflächlich ist, sich auf Äußerlichkeiten konzentriert und versucht, ihn gegen seinen großen Vorgänger auszuspielen. Und ich denke, er selber wäre der Erste, der sich gegen eine solche Vereinnahmung durch die liberalen Kräfte in der Kirche wehren würde.

Zweifelsohne hat er einen anderen Stil, der, ich sagte es schon, durch seine lateinamerikanische Herkunft und seine jesuitische Prägung bedingt ist. Das heißt: er liebt es halt ein wenig schlichter als die europäischen Päpste vor ihm. Aber „die Klamotte“ ist halt nicht alles: es sagt ja auch nicht viel über einen Autor aus, ob er nun im Anzug oder in Jeans auftritt. Das kann ein statement sein, braucht es aber nicht. Ein Verzicht auf rote Schuhe macht, ganz banal gesagt, aus einem Papst noch keine „rote Socke“ oder einen Liberalen. Einer der „Papabiles“ beim letzten Konklave war ja Kardinal O’Malley, ein Kapuziner, der hätte wahrscheinlich als Papst sogar Sandalen getragen! Nein, Bergoglios Stil ist vor allem geprägt von jesuitischer Schlichtheit, nicht mehr und nicht weniger. Auf keinen Fall stellt er eine Distanzierung von seinem Vorgänger dar, den er, im Gegenteil, sehr verehrt. Das geht nicht nur aus einem Gespräch mit einem engen Vertrauten hervor, das den Weg in die Öffentlichkeit fand, das versicherte mir auch Maria Elena Bergoglio, seine Schwester. Ich war drei Stunden lang bei ihr, um sie zu interviewen und die wahre Geschichte ihrer Familie zu erfahren, doch was mich dabei am tiefsten beeindruckte, war, wie liebevoll sie über Benedikt XVI. sprach. Sie bezeichnete ihn als „großen,  außergewöhnlicher Papst, auch wenn das viele Menschen nicht zu schätzen wussten“ und pries seinen „großen inneren Reichtum“, seine „Demut, seinen Mut und seine Ehrlichkeit“. Und was erlebten wir im ersten halben Jahr seines Pontifikats? Lauter Zeichen der Kontinuität! Das ging so weit, dass sogar die erste Enzyklika von Papst Franziskus tatsächlich ein Gemeinschaftswerk war. In meinem Buch beschreibe ich eines der Hauptanliegen von Papst Benedikt, nämlich die korrekte Interpretation des Zweiten Vatikanischen Konzils. Auch das wurde von liberalen Kräften vereinnahmt, die eine „Hermeneutik des Bruchs“ propagierten, so als sei die katholische Kirche 1965 erneut aus der Taufe gehoben worden. Dabei berief man sich dann immer gerne auf einen imaginären „Geist des Konzils“, wenn man gerade das umsetzte, was nicht in den Konzilsdokumenten stand, was man aber selber gerne wollte. Eine solche „Hermeneutik des Bruchs“ wird jetzt wieder propagiert bei gleichzeitiger Abwertung des Ratzinger-Pontifikats. Doch auch sie ist unhaltbar. In Rom hat keine Revolution stattgefunden. Papst Benedikt ist aus Altersgründen zurückgetreten, es wurde ein Nachfolger gewählt, dessen Aufgabe es ist, das Schiff der Kirche weiter durch die Zeit zu steuern. Natürlich hat man dafür keinen Ratzinger 2.0 gewählt, ebenso wenig wie Benedikt XVI. ein Wojtyla 2.0 war; bei dem Vergleich mit diesem intellektuellen Giganten hätte auch jeder andere schlecht ausgesehen. Nein, man wählte bewusst einen Mann, der über andere Charismen verfügt. Papst Franziskus ist eben kein Intellektuellen-Papst, kein Theologe vom Rang eines Kirchenlehrers, den wir brauchten, um das Erbe des charismatischen Johannes Paul II. zu konsolidieren. Er ist ein Papst der Seelsorge, der „Pfarrer der Welt“, und das ist auch gut so, denn es tut der Kirche gut. Natürlich sind beide ganz unterschiedliche Persönlichkeiten: Benedikt XVI. war auch als Papst immer ein scheuer, bescheidener, tiefgründiger Denker gewesen, Franziskus ist spontan, extrovertiert, volksnah. Der eine ein Geistesmensch, der andere ein Herzensmensch und jeder auf seine Weise wunderbar. Das erinnert mich ein wenig an 1958, als die Kardinäle nach dem Tod von Pius XII. den nach außen hin so ganz anderen Johannes XXIII. wählten. Der dann alle überraschte, als er bei jeder Gelegenheit betonte, wie sehr er seinen großen Vorgänger verehrte. Wobei man heute noch hinterhältiger vorgeht, um Franziskus gegen Benedikt auszuspielen. Da sind ja teilweise faustdicke Lügen verbreitet worden, nicht nur von den liberalen Katholiken, sondern auch und gerade von den Traditionalisten, denen wiederum der unkonventionelle Stil Bergoglios mißfällt.

Ein Beispiel: Eine der ersten Meldungen, die nach der Papstwahl im Internet kursierten, betraf das motu proprio Benedikts XVI. „Summorum pontificum“, also die Wiederzulassung der „alten Messe“. Dem hätte sich Kardinal Bergoglio widersetzt, er sei ein „dezidierter Gegner“, ja ein „geschworener Feind“ (sic!) der Alten Messe“ gewesen. Alles Unsinn, wie ich in Buenos Aires erfuhr. Im Gegenteil: Innerhalb von 48 Stunden bestimmte er, dass fortan in einer der schönsten und ältesten Kirchen im Zentrum von Buenos Aires, nur ein paar hundert Meter von der Kathedrale entfernt, die tridentinische Messe gefeiert wird. Er beauftragte einen erfahrenen alten Priester damit, junge Priester in diesem Ritus auszubilden. Dann hieß es, seine erste Personalentscheidung sei die Entlassung des konservativen Liturgen Msgr. Guido Marini. Doch Marini wurde, Gott sei Dank, in seinem Amt bestätigt. Darauf von italienischen Bischöfen angesprochen, erklärte der Papst, er könne viel von Marini und dieser wiederum einiges von ihm lernen. Das nenne ich eine gesunde Einstellung!

Andere warfen Papst Franziskus sogar vor, er sei Freimaurer, nur weil der Rotary-Club Buenos Aires ihm vor Jahren die Ehrenmitgliedschaft verliehen hatte. Dabei war der Gründer der Rotarier, Paul Harris, gar kein Freimaurer. Sogar Papst Johannes Paul II.  nahm eine Ehrenmitgliedschaft bei Rotary an, mehrere deutsche Bischöfe, darunter der ja nun wirklich traditionstreue Bischof Walter Mixa, sind Mitglieder des Clubs; warum hätte Bergoglio also diese Ehrenmitgliedschaft ablehnen sollen? Selbst an seinem Pektorale wird herumgemäkelt, der Gestus des Guten Hirten, die gekreuzten Arme, fälschlich als Freimaurerzeichen bezeichnet. Dabei war dieser Gestus schon den ersten Christen geläufig, wurden Tote mit überkreuzten Armen bestattet; noch heute gehen orthodoxe Gläubige so zur Kommunion. Es ist ein Zeichen der inbrünstigen, vollkommenen Selbsthingabe an Gott. Und dann ist auch immer wieder von einem „Blechkreuz“ die Rede. Ich habe zufällig herausbekommen, wo der damalige Erzbischof Bergoglio das Pektorale gekauft hat, nämlich in einer bekannten Buchhandlung, der Libreria Ancora in der Nähe des Petersplatzes. Es besteht aus massivem Sterlingsilber (925/1000) und stammt von einem bekannten italienischen Silberschmied, Giuseppe Albrizzi aus Padua, der sich auf sakrale Kunst spezialisiert hat. Ich besitze ein Exemplar, habe 399 Euro dafür bezahlt. Deutlich sind die Silberstempel zu sehen! Ganz ehrlich: Benedikts Pektorale waren auch nur vergoldet, das gleiche gilt für seinen Fischerring. Und die „prachtvollen Paramente“, die er trug, stammten fast alle aus der päpstlichen Sakristei, viele hat ausgerechnet der „Reformpapst“ Johannes XXIII. getragen. Da war es günstiger, sie liturgisch zu „recyclen“, statt neue anfertigen zu lassen, die vielleicht bescheidener aussehen mochten, aber teures Geld gekostet hätten. Wer also franziskanische Schlichtheit gegen benediktinischen „Pomp“ auszuspielen versucht, der spielt mit gezinkten Karten.

Franziskus ist weder ein Revoluzzer noch ein Anti-Benedikt. Diese Behauptung zeugt nur von der Oberflächlichkeit ihrer Urheber. Sie beurteilen den neuen Papst nach Äußerlichkeiten, nicht nach dem, was er sagt und tut. Der wahre Revoluzzer war Papst Benedikt, auch wenn er sich gut tarnte, weil er sich äußerlich angepasst gab. Er hat vom ersten Tag an das Papstamt revolutioniert, man denke nur mal an die ganzen Neuerungen bei seiner Amtseinführung. Er hat auf die Tiara auf dem Papstwappen verzichtet, er hat den Titel „Patriarch des Westens“ gestrichen und hat dieser geradezu sakralen Erhöhung des Papstamtes, die wir übrigens erst seit dem Ersten Vatikanischen Konzil 1878 kennen, ein Ende gesetzt. Nehmen Sie die Papstaudienzen: Bei Johannes Paul II. kniete man noch vor dem thronenden Papst, bei Benedikt XVI. stand man ihm auf Augenhöhe gegenüber. Sein Amtsverzicht war die letzte Konsequenz daraus: Wem die Kraft schwindet, ein Amt auszuführen, der muss auch zurücktreten dürfen. Denn ein schwacher, kranker Papst ist nicht gut für die Kirche. Damit schuf er praktisch eine neue Institution, den „papa emerito“, etwas, das seit 700 Jahren als undenkbar erschien. Ein Papst hatte bis zu seinem Tod im Amt zu bleiben, das galt als selbstverständlich. Benedikt XVI. wog die Vor- und Nachteile ab und entschied anders. DAS war eine Revolution, die Neudefinition einer so einmaligen Institution, die irgendwo zwischen Himmel und Erde angesiedelt war, eben des Papsttum, seine scheinbare Reduzierung auf das, was es eigentlich immer schon war, auch wenn ihm ein übernatürlicher, übermenschlicher, göttlicher Nimbus verliehen wurde: darauf, ein Amt zu sein, das ein Mensch annehmen und auch wieder ablegen konnte.

Was bei Franziskus dazu kommt, sind die jesuitische Schlichtheit und der soziale Aspekt, der bei Benedikt in seinen Enzykliken theoretisch vorgegeben wurde und den Franziskus lebt. Benedikt war der große Theoretiker, Franziskus ist der Praktiker, der Seelsorger mit „Stallgeruch“, ja der Pfarrer der Welt. Sein Stil ist ein anderer, aber inhaltlich und theologisch passt kein Blatt zwischen die beiden. So betrifft die „Franziskus-Revolution“ nicht etwa die Vision Benedikts XVI., sondern eine Kirche, die leider oft nicht umsetzte, was der bayerische Papst ihr ins Stammbuch geschrieben hat.

Was die beiden verbindet ist zuallererst Franziskus‘ große Bewunderung für seinen Vorgänger und eine gemeinsame Vision von der Zukunft der Kirche, die Benedikt XVI. bereits in seinen Enzykliken und seiner historischen Freiburger Ansprache – Stichwort: „Entweltlichung“ – formuliert hat. Er hat damit quasi das Programm für das franziskanische Pontifikat geschrieben. Darum lade ich in meinem Buch auch dazu ein, den so oft missverstandenen Benedikt XVI. neu zu entdecken, denn er liefert den Schlüssel zum Verständnis seines Nachfolgers.

Natürlich gibt es bei Franziskus, wie bei jedem Amtsträger, eine gewisse Selbstinszenierung. Maria Elena Bergoglio hat mir erklärt, dass Franziskus einst von seinem Vater gelernt hat, nicht durch Worte, sondern durch das eigene Beispiel zu erziehen. Genau das macht er heute. Er kreiert Glaubwürdigkeit! Er weiß, dass es wenig Sinn macht, von einer armen Kirche zu predigen, von Barmherzigkeit und Teilen, während man selbst im Palast wohnt. Dass er im Domus S. Marthae ein größeres Schlafzimmer hat als im päpstlichen „Appartamento“, spielt dabei keine Rolle. Es ist die Wirkung nach außen, die bei den Menschen ankommt. Das hat Bergoglio besser verstanden als sein Vorgänger. Benedikt XVI. ist ein zutiefst demütiger Mensch, aber für ihn bedeutet Demut, sich zurückzunehmen, sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen. Bei Franziskus spreche ich von „demonstrativer Demut“ und „ostentativer Einfachheit“, ohne das negativ zu meinen. „Sei bescheiden und zeige das der Welt“, ist sein Motto, „denn Du bist ihr Vorbild!“ Wie sein Vater lehrt er, indem er es vorlebt: Schaut her, so mache ich das, jetzt seid ihr dran! Und geben wir doch einmal zu: Dieser Papst ist ein PR-Genie. Er hat ein natürliches Gefühl dafür, wie er die Menschen erreicht. Das hätten ihm hundert PR-Berater nicht besser beibringen können. Er versteht es, gut anzukommen. Er ist der Papst, der die Herzen erobert. Dabei vermittelt er immer so viel vom Glauben, wie die Menschen, an die er sich gerade richtet, annehmen können. Auch das ist eine Kunst, statt durch unbequeme Wahrheiten Menschen vor den Kopf zu stoßen, sie zu brüskieren, sie für die Kirche zu verlieren. Da ist er ganz der Pastor und nicht der Kirchenlehrer. Er passt sich dem Medienzeitalter mit seinen Twitter-Botschaften an: Seine Gesten sind halt leichter zu vermelden als Benedikts tiefgründige Betrachtungen. Natürlich ist ein Papst mit einem so guten pastoralen Gespür für die Kirche ein Glücksfall, denn er holt auch viele zurück, denen Benedikt XVI. , der „Cooperator veritatis“, zu anspruchsvoll und zu unbequem war. Und zu dieser Strategie gehören auch medien- und öffentlichkeitswirksame „große Gesten“, die halt positive Schlagzeilen kreieren!

Was also kann man von Papst Franziskus zukünftig erwarten? Vor allem, dass er das Werk Benedikts XVI. fortsetzt, aber auch durch eigene Akzente ergänzt. Sicher steht eine gründliche Reform der Kurie an, die auch, das sah Benedikt XVI. genauso, dringend notwendig ist. Ansonsten ist der Name „Franziskus“ sein Programm: Einfachheit, Dialogbereitschaft, Einsatz für den Frieden. Er wird sich sehr für die Ökumene und den interreligiösen Dialog einsetzen, wie er es schon als Erzbischof von Buenos Aires getan hat, doch das wird, Gott sei Dank, ohne einen falschen Synkretismus geschehen. Das wunderbare Friedensgebet vor einem Jahr war ein Beispiel dafür, wie man es richtig macht, ohne die Fehler von Assisi zu wiederholen. Statt liturgischer Experimente wurde auf die Kernkompetenz der Kirche zurückgegriffen, auf bewährte Formen der Anbetung, ja auf die kostbarsten Schätze von uns Katholiken: Den Rosenkranz und die Eucharistische Anbetung. Da durften natürlich auch Muslime mitbeten, aber zum Dreieinigen Gott.  

In meinen Augen war dieses Friedensgebet bislang der Höhepunkt des franziskanischen Pontifikats. Und er hatte damals alles richtig gemacht! Da sehen wir doch, dass man Franziskus völlig falsch einschätzt. Er ist kein Traditionalist und kein Modernist, sondern ein Purist. Kein Reformpapst, kein Modernisierer, sondern ein großer Restaurator, der die Kirche zu ihren Anfängen und zu ihrer Kernkompetenz zurückführt!

Das Gegenbeispiel und vielleicht der kontroverseste Moment seines Pontifikats war das gemeinsame Friedensgebet von Juden, Christen und Muslimen in den vatikanischen Gärten im Juni 2014. Das stand in der Tradition von Assisi und wäre bestenfalls ein Gestus des guten Willens gewesen. Tatsächlich aber musste man sich spätestens am nächsten Tag auch im Vatikan eingestehen, dass es eine bedauerliche Panne gegeben hatte. Der islamische Würdenträger, der den Qur’an rezitierte, beendete seine Rezitation der 2. Sure mit den Worten: „Verzeih uns (Allah), vergib uns und erbarm dich unser! Du bist unser Schutzherr. Hilf uns gegen das Volk der Ungläubigen!”

Natürlich versuchte der Vatikan sofort, die Wogen zu glätten. Aber in den darauffolgenden Monaten wird es auch beim Papst zu einer Desillusionierung gekommen sein. Reiste er noch in Begleitung nicht nur seines jüdischen Freundes Rabbi Skorka nach Israel, sondern auch zusammen mit einem islamischen Geistlichen aus Argentinien, öffnete ihm offenbar der Terror von Hamas und Isis im Sommer 2014 die Augen, wie das unlängst veröffentliche Dokument, die Anklageschrift des päpstlichen Rates für den interreligiösen Dialog gegen den islamistischen Terror im Irak eindrucksvoll demonstriert.

Papst Benedikt wiederum rief in seiner Regensburger Rede auch den Islam auf, sich den Kriterien der Wahrheit und der Vernunft zu stellen – ein Aufruf zum Dialog, auf den bedauerlicherweise mit Gewalt geantwortet wurde, der aber, jenseits des Vulgärislams, auch zum Nachdenken führte, wie echte Dialoginitiativen etwa von der al-Azhar Universität in Kairo oder aus Jordanien eindrucksvoll belegen. Es gibt eben nicht „den Islam“, sondern eine Vielzahl von Strömungen von der rein mystischen Interpretation des Qur’ans durch die Sufis über synkretistische Ansätze wie die der Aleviten und Alawiten, die Schia, den zivilisierten Islam der Haschemiten, den intellektuellen Islam der al-Azhar-Theologen, und eben der fanatische, fundamentalistische Wahhabismus, aus dem der Steinzeit-Islam der Salafisten hervorging.
Ein Brückenbauer ist Franziskus vor allem in der Frage der Ökumene… Tawadros, Bartholomäus II., aber auch Evangelikale…

Aber auch hier setzt er den Kurs Benedikts XVI. konsequent fort, unter dem die Beziehungen gerade zu den orthodoxen Kirchen einen regelrechten Frühling erlebten.

Sein zweites großes Thema ist, wie gesagt, die Frage der sozialen Gerechtigkeit, ein sehr südamerikanisches Thema also, gepaart mit einer radikalen Kapitalismuskritik. Wo Geld Menschen versklavt oder gar tötet, wo es zum Götzen wird, zum Zweck, der alle Mittel heiligt, wird der Christ an die Worte Jesu erinnert: Man kann nicht zwei Herren dienen, Gott und dem Mammon! Dass nach der ersten Enzyklika, die er zusammen mit Benedikt XVI. schrieb, Lumen Fidei, ein Apostolisches Schreiben zu eben diesem Thema, Evangelii Gaudium, folgte, ist trotzdem kein Bruch mit der Kontinuität: So verfasste Benedikt XVI. 2009 die Sozialenzyklika Caritas in veritate, in der es ganz franziskanisch schon heißt: "Der Markt ist an sich nicht ein Ort der Unterdrückung der Armen durch den Reichen und darf daher auch nicht dazu werden."

Zur größten Herausforderung seines Pontifikats wird wohl die Bischofssynode im Vatikan gehören, die am 5. Oktober beginnt und „Die pastoralen Herausforderungen der Familie im Rahmen der Evangelisierung“ zum Thema hat. Hierauf konzentrieren sich die Erwartungen der Reformer: Wird der Papst wiederverheiratete Geschiedene zur Kommunion zulassen, gar eine neue Sexualethik verkünden, vielleicht sogar die „Homo-Ehe“ absegnen? Während ich es durchaus für wahrscheinlich halte, dass es im Umgang mit den wiederverheirateten Geschiedenen mehr Ausnahmen geben wird, sind alle darüber hinaus gehenden Erwartungen illusorisch. Der Papst demonstriert zwar immer wieder seine Bereitschaft, den reumütigen Sünder in seine Arme zu schließen und möchte bestimmt auch Schlagzeilen vermeiden, die kontraproduktiv zu seiner Botschaft der Barmherzigkeit sein könnten. Aber ein Papst des Liberalismus ist Bergoglio keineswegs, hat er doch bereits als Kardinal die Homo-„Ehe“ als Schachzug des Teufels bezeichnet und einen breiten Widerstand organisiert.

Überhaupt sei denen, die Franziskus für einen Modernisten halten, ins Stammbuch geschrieben, dass kein Papst der Moderne so oft ganz unverblümt über den Teufel gesprochen hat wie Franziskus. So spricht kein Modernist, hier zeigt er, was er wirklich ist: Ein Purist, ein Mann nicht der intellektuellen Theologie, sondern der bodenständigen, unverblümten Volksfrömmigkeit.

Bei beiden Päpsten, Benedikt und Franziskus, war und ist der Name Programm. Benedikt war der Papst der benediktinischen Gelehrsamkeit. Seine liebste Zeitepoche ist die Spätantike, sein liebster Kirchenlehrer Augustinus, sein Thema war die Definition und Bewahrung der Glaubenswahrheit in einer Zeit, die nicht weniger sturmumtost ist als die Zeit der Völkerwanderung. Der hl. Franziskus trat eher in einer Epoche der Dekadenz auf und führte die Kirche auf die richtige Spur zurück, die apostolische Einfachheit. Interessanterweise befasste sich Joseph Ratzinger schon in seiner Habilschrift von 1955 mit der Geschichtstheologie des hl. Bonaventura, der nicht nur ein großer Kirchenlehrer, sondern auch der „offizielle“ Biograf des Mannes aus Assisi war. Danach würde in der Endzeit auf die „benediktinische“ Kirche der Gelehrten eine „franziskanische“ Kirche der Armen folgen. Damit würde sich ein Kreis schließen. In diesem Sinne wirkt Papst Franziskus. Er reinigt die Kirche von vielem Ballast, um sie zu ihren Anfängen zurückzuführen. Und schon deshalb glaube ich, in seiner so völlig überraschenden Wahl das Wirken des Heiligen Geistes erkennen zu können. Wir haben das Glück, mit großen Päpsten gesegnet zu sein, was doch nur beweist, wie lebendig und stark unsere Kirche auch heute noch ist.